KANZLER Wahr und unwahr
In der Redoute zu Bonn stockte das Defilee. Viele - für die gestrengen Herren vom Protokoll viel zu viele - Augenblicke lang nahm der Gast den US-Präsidenten George Bush in Beschlag. Der Rest der Schlange in Smoking und Abendkleid mußte warten.
SPD-Chef Hans-Jochen Vogel hatte am Dienstag abend voriger Woche einiges auf dem Herzen. Er wollte nicht nur artig im Namen der deutschen Sozialdemokratie seine Aufwartung machen, er hatte auch »besonders herzliche Grüße« von Berlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper zu übermitteln. Der Gast aus Übersee, so empfahl Vogel mit ernster Miene, solle den Chef des rotgrünen Senats einmal »außerhalb Bonns oder in Berlin« treffen.
Denn in der Bundeshauptstadt, beim Kanzler-Diner für den Präsidenten, war Momper nicht erwünscht. Helmut Kohl hatte den Mann aus dem Schöneberger Rathaus schlicht nicht eingeladen. Wohl im festen Glauben, daß zu viele Sozen jedes Fest verderben, ließ er zwei tiefschwarze Parteifreunde »unsere alte Hauptstadt« (Kohl) vertreten: Parlamentspräsident Jürgen Wohlrabe und - Rache ist süß, sprach der Kanzler - Eberhard Diepgen, Mompers CDU-Vorgänger.
»Da gibt es wohl politische Präferenzen, die ich akzeptieren muß«, ahnte der übergangene Sozialdemokrat. So ist es wohl. Den Zorn des Kanzlers hat er schon mehrfach zu spüren bekommen, seit die Wähler der Berliner CDU im Januar eine schwere Niederlage beibrachten und die Sozialdemokraten statt der von Wahlverlierer Diepgen angebotenen Gemeinsamkeit der Demokraten das Bündnis mit den Alternativen wählten. Nicht einmal nach der Wahl zum Regierenden Bürgermeister hatte der Kanzler dem SPD-Mann gratuliert.
Auch ein Annäherungsversuch des Berliners während der Bundesversammlung in Bonn scheiterte kläglich. Kanzler-Gattin Hannelore, so berichteten Momper-Leute, sei noch zum Austausch von Artigkeiten in der Bonner Beethovenhalle bereit gewesen. Ihr Helmut aber habe, wie es so seine Art ist, auf dem Absatz kehrtgemacht und den Rot-Grünen stehengelassen.
So traf den der neuerliche Affront des Kanzlers nicht unvorbereitet. Als eine Woche vor dem Bush-Diner immer noch kein Bütten aus Bonn im Postkorb lag - Widersacher Diepgen brüstete sich bereits öffentlich mit der Einladung -, holte sich Momper im West-Berliner DDR-Besucherbüro den erforderlichen Stempel und setzte sich am Redoute-Abend in den Ostteil der Stadt ab.
Dort begleitete der Regierungschef seine (West-)Berliner Philharmoniker zur Premiere ins (Ost-)Berliner Schauspielhaus. Statt der Tischrede des Kanzlers lauschte er Wagners »Siegfried-Idyll«, statt des Bush-Toasts »auf die Gesundheit meines lieben Freundes und Kollegen Helmut Kohl« dem »Don Juan« von Richard Strauss.
Erst danach begann die politische Aufarbeitung des verpatzten Abends. Vogel eröffnete den Reigen mit bitterernstem Gesicht und der Bemerkung, die Entscheidung Kohls sei »schwer verständlich«. Momper gab sich beim Spargelessen mit der Berliner Presse staatsmännisch und beklagte, daß aus rein parteipolitischem Interesse die früher selbstverständliche Aufmerksamkeit für Berlin bei den Bonnern abnehme.
Für die Union kam als erster der CSU-Abgeordnete Eduard Lintner aus dem Hinterhalt. Als deutschlandpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion ausgewiesener Experte für alles Rote, Grüne und Kommunistische rund um Berlin, tadelte er die Taktlosigkeit des Regierenden, in den Osten statt in die Redoute zu reisen. Pech nur, daß dem Parlamentarier aus dem unterfränkischen Münnerstadt niemand erzählt hatte, wer Täter und wer Opfer war.
Kohls Gehilfen versuchten es mit dem Protokoll. Der Kanzler habe dem Gast möglichst viele Größen aus Wirtschaft und Kultur vorstellen wollen. Für allzu viele Politiker sei in der engen Redoute kein Platz gewesen.
Eine Lüge, das wußte die Fernsehnation längst, seit ARD und ZDF live und ausführlich vom Ereignis berichtet hatten. Im Gewühle der rund 150 Gäste waren leicht Legionen von Politikern auszumachen - bis hinunter zur dritten Bonner Garnitur. Nur hatten die zumeist das richtige Parteibuch.
Die Wahrheit: Das Kanzleramt selbst - und nicht, wie üblich, die Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes - hatte im letzten Durchgang die Gästeliste bearbeitet und dabei sogar die Tischordnung noch sacht geändert.
So kam es, daß Mompers Widersacher Diepgen ganz nah an Ehrengast und Gastgeber rückte, »viel zu weit«, wie hinterher ein Bonner Protokollexperte bemängelte. Nicht nur der Zufall wollte es auch, daß die Kameras von ARD und ZDF kaum an ihm vorbei konnten, wenn sie Kohl und Bush bei ihren Tischreden ins Bild bringen wollten: der abgewählte Blondschopf andächtig neben dem mächtigen Alfred Herrhausen von der Deutschen Bank sitzend - klar, welchen Berliner der Kanzler schätzt.
Warum das so sein sollte, mit der ganzen Wahrheit rückte schließlich der Gastgeber selbst heraus. »Ich sehe keinen Grund«, belehrte er zwei Tage später die Opposition im Bundestag, einen »Herrn Momper einzuladen, der einem Senat vorsteht, dessen Mitglieder und Anhänger in der Koalition in grober Weise den amerikanischen Präsidenten beleidigt haben«. Und das war wiederum unwahr, weil kein Mitglied des rot-grünen Senats Bush beleidigt hatte.
Da blieb Momper nur übrig, als Klügerer nachzugeben; seiner Partei kommt der Protokoll-Fauxpas im Europa-Wahlkampf ohnehin zupaß. In einem Brief an Kohl bot der Berliner an, das Kriegsbeil zu begraben und sich »zu jedem Ihnen genehmen Zeitpunkt« zum Gespräch zu treffen. Das kann am 29. Juni sein, wenn Momper aus Anlaß der Ministerpräsidentenkonferenz ohnehin in Bonn ist.
Momper hätte dann endlich den Schönheitsfehler beseitigt, der Kohl einfach ärgern mußte: Bei allen drei westlichen Schutzmächten hatte der Neue bereits seinen Antrittsbesuch gemacht. Nur für den Kanzler in Bonn hatte er bislang noch keine Zeit.