Zur Ausgabe
Artikel 46 / 88

VIETNAM / VERBRECHEN Wandernde Seelen

aus DER SPIEGEL 29/1970

In unterirdischen Verliesen schmachten politische Gefangene, Frauen und Männer. Sie stillen ihren Durst in der feuchten Tropenhitze mit brackigem Wasser und ihrem eigenen Urin. Sie nähren sich von sandigem Reis und Fliegen, trockenem Fisch und Käfern. Wächter, die nach Meinung des Washingtoner »Evening Star« der »Tierschutzverein in einem Zoo nicht tolerieren würde«, quälen sie.

In dem KZ auf der Insel Con Son, 230 Kilometer südöstlich von Saigon gelegen, hält die südvietnamesische Regierung politische Häftlinge gefangen -- oft nur wegen Teilnahme an einer Antikriegs-Demonstration, meist ohne Gerichtsurteil.

Bis letzte Woche war die seit der französischen Kolonialzeit als Gefängnis benutzte Insel nur wenigen Eingeweihten bekannt. Dann bekam der Name Con Son einen ähnlichen Klang wie vor fast einem Jahr der Name Song My: ein Ort spezieller Unmenschlichkeit in einem an Unmenschlichkeiten besonders reichen Krieg.

Die Greuel wurden diesmal nicht von Soldaten Amerikas begangen, aber immerhin von jenen Verbündeten Amerikas, für deren angebliche Freiheit Amerika seit Jahren kämpft. Amerikaner allerdings enthüllten auch, was auf Con Son passiert.

Augustus Hawkins und William Anderson, demokratische Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses, waren mit zehn weiteren Mitgliedern des »Select Committee on United States Involvement in Southeast Asia« nach Saigon gereist. Dort legten Ihnen fünf frühere Häftlinge von Con Son eine Dokumentation über die Verbrechen auf der Insel vor.

Bis zu fünf Vietnamesen, so berichteten die Ex-Gefangenen den Amerikanern, schmachten in 2,70 Meter langen, etwa 1,50 Meter breiten Zellen. Gleich, ob sie essen, schlafen, sich erbrechen oder an Diarrhoe leiden, ihre Beine bleiben in den ersten Monaten der Haft mit Stahlklammern an die einen Meter dicken Mauern gefesselt.

Für jedes laut gesprochene Wort werden die Häftlinge geprügelt; ihre kargen Rationen müssen sie in drei Minuten verschlingen.

Einmal in der Woche werden sie gewaschen -- ein Wachposten übergießt die zusammengeketteten Zellen-Insassen mit einem Kübel Wasser. Im letzten Jahr, so schrieben die einstigen Con-Son-Insassen, »wurden uns nur an insgesamt acht Tagen die Schellen abgenommen: Neujahr, am »Tag der wandernden Seelen« und einen Tag vor unserer Entlassung«. Demokrat Hawkins: »Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß derartige Dinge existieren. Das mußte ich einfach prüfen.«

Die beiden Abgeordneten flogen nach Con Son und verlangten vom KZ-Kommandanten Oberst Nguyen Van Ve, die Gefangenen zu sprechen.

Der Kommandant: »Sie können die Gefangenen nur mit Genehmigung des Innenministers sprechen.« Abgeordneter Hawkins: »Dann kabeln sie ihm.« Der Oberst wies daraufhin seinen Adjutanten auf vietnamesisch an: »Kabeln Sie, doch es ist egal, ob wir eine Antwort bekommen oder nicht.«

Der Innenminister antwortete nicht. Die beiden Abgeordneten aber waren von ihren Informanten mit Skizzen versorgt worden, die zeigten, wo auf der mit 10 000 Sträflingen gefüllten Insel die Folterkammern zu finden waren: in Camp 4, »in der Nähe eines Sportplatzes, zwischen zwei hohen Mauern, davor ein Blumenbeet, dann die Pforte«.

Dahin freilich führte KZ-Chef Van Ve die Amerikaner nicht. Ein Mitarbeiter der Abgeordneten kundschaftete beim Rundgang durch die Anstaltsanlagen das Tor aus. Hawkins zum Vietnamesen-Oberst: »Wohin führt diese Tür?« Der Offizier: »Nach draußen.«

Die US-Abgeordneten öffneten das Tor -- dahinter fanden sie, was sie gesucht hatten: 84 Kerker. Davor standen Kisten mit Kalk. »Was machen Sie denn damit?« wollte Anderson wissen. Oberst Van Ve: »Damit malen wir die Zellenwände.«

Die aber waren verdreckt, und der Abgeordnete »mußte leider, leider entdecken, daß die Dokumentation stimmte«. Hawkins zum SPIEGEL: »Es ist schrecklicher, als man es beschreiben kann.«

Durch Gitterstäbe konnten die Besucher von oben in die Zellen sehen. Eine Greisin erzählte Hawkins, daß sie von den Wächtern blind geprügelt worden sei. Andere Häftlinge deuteten auf ihre Beine -- gelähmt durch die Knebel-Ketten. Hawkins: »Ein schrecklicher Anblick. Wie wilde Tiere in einem verwahrlosten Käfig.«

Für den Abgeordneten, der in den ersten zwei Jahren des Vietnam-Krieges die amerikanische Indochinapolitik unterstützt hatte, ist die KZ-Insel heute ein »Beweis dafür, daß einige Amerikaner die Korruption und Quälereien unterstützen, nur weil sie möchten, daß der Krieg weitergeht und die Regierung, die sie an die Macht gebracht haben, nicht stürzt«.

Wenig später mußte Hawkins erkennen, daß dieses Ziel offenbar nicht nur von einigen Amerikanern verfolgt wird. Als er in der US-Botschaft zu Saigon von den Greuel-Kerkern berichtete, »zeigten die in der Botschaft kein Verständnis für die Menschen«.

Statt dessen wurde die Inspektions-Truppe aufgefordert, ihre Filme vom Besuch auf Con Son abzuliefern. Ein Botschaftsmitglied erklärte zudem den Besuchern aus Washington: Con Son sei keine Teufelsinsel, sondern »eine Strafanstalt, die eine bessere Beurteilung verdient als einige Gefängnisse in den USA«.

Die Mehrheit der Kollegen von Hawkins und Anderson entschlossen sich, »mit Rücksicht auf die amerikanischen Kriegsgefangenen in Nordvietnam« in ihrer am letzten Montag veröffentlichten Dokumentation, das Zuchthaus sowie scharfe Formulierungen ihres Kollegen Hawkins auszulassen wie etwa: »Die Bevölkerung glaubt, daß wir mehr ihrer Landsleute umgebracht haben als die Vietcong und Nordvietnamesen.«

Zur Ausgabe
Artikel 46 / 88
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten