FDP Warme Fährte
Ein politischer Pensionär fühlt sich als Partei-Prophet. Herwart Miessner, 60, Bundestagsabgeordneter der FDP bis 1969, hat es schon vier Wochen nach Bildung der Regierung Brandt/Scheel gewußt: »Auf Sie kommt die Sache erst im Herbst 1971 zu.«
»Sie« -- das war der Bissenhausener Bauer und FDP-Bundestagsneuling Wilhelm Helms, 47, der seinem Freund Miessner mit der Frage »O Gott, was mache ich nun?« auf der Weihnachtsfeier der FDP gestanden hatte, er könne den neuen Kurs der Partei nicht mitmachen.
Damals lehnte Helms ein Übertrittsangebot des rheinland-pfälzischen CDU-Ministerpräsidenten Helmut Kohl ab. Jetzt, eineinhalb Jahre später, sieht Miessner die Sache nahen: »Die Zeit wird irgendwie reif.«
Der FDP, so Miessner, drohe nun das gleiche Schicksal wie einst den Rechtswahrer-Parteien BHE und DP: Da die Abgeordneten nicht mehr darauf vertrauen könnten, daß ihre Partei bei der nächsten Bundestagswahl über die Fünf-Prozent-Hürde komme, müßten sie sich etwa zur Legislatur-Halbzeit nach einer neuen Bleibe in der Christen-Union umsehen.
Ähnliche prognostische Kraft entwickelte der Führer des nationalen Parteisplitters Deutsche Union (DU), der FDP-Abtrünnige Siegfried Zoglmann. »Da gibt es Leute, die machen nicht mehr mit. Da gibt es eine ganz warme Fährte.«
Sein Kronzeuge ist der Bauer Georg Gallus aus dem schwäbischen Hattenhofen, wie Helms Bundestagsneuling und FDP-Rechter, der nach Zoglmanns Zeugnis bei den Abstimmungen über das halbwegs reformerische Städtebauförderungsgesetz »permanent dagegen gestimmt« hatte, Zoglmann über den baden-württembergischen Bauernverbands-Vize: »Dem haben sie zu Hause ganz schön den Boden heiß gemacht.«
Auf warmer Spur wähnte sich auch Springers »Welt«. Am vergangenen Mittwoch streute sie den Verdacht aus, »zwei FDP-Abgeordnete, unter ihnen Ernst Achenbach«. hätten die Parteiführung wissen lassen, daß sie bei einer unzureichenden Berlin-Regelung die Fraktion verlassen wollten.
Christdemokraten schließlich versuchten die FDP mit dem Gerücht zu verunsichern, etwa ein halbes Dutzend Freidemokraten bemühten sich um ein Entree bei der Union: außer Helms, Gallus und Achenbach auch der Unternehmensberater Gerhard Kienbaum, der Großindustrielle und Schafzuchter Knut Freiherr von Kühlmann-Stumm sowie der Waggonfabrikant Carlo Graaff.
Die FDP-Verunsicherer hoffen, daß die Zeit nach den Parlamentsferien für sie arbeiten wird. Denn dann naht nach Regierungsplan die Ratifizierung der Ostverträge. und auf dem FDP-Parteitag im Oktober könnten Kurskorrekturen in der liberalen Eigentumspolitik die Bonner FDP-Rechten schockieren.
Die FDP-Führer sind trotzdem zuversichtlich: Den anfänglichen Widerstand gegen die Verträge mit Moskau und Warschau haben die Partei-Oberen weitgehend abgebaut. So brachte Außenminister Scheel seinen einst entschiedensten Gegner, den ehemaligen Ribbentrop-Diplomaten Ernst Achenbach, auf seine Seite, indem er ihn als Delegationsberater mit zu den Vertragsverhandlungen nach Moskau nahm. Scheels Manöver gelang derart gut, daß er nun bisweilen mit einem »Ach, Ernst« den Achenbach-Eifer bremsen muß, das Moskauer Vertragswerk gar zu einem Friedensvertrag hochzustufen.
Die übrigen Kritiker konnte der FDP-Chef mit dem Berlin-Junktim beruhigen. Zu einer Zeit, als eine Berlin-Regelung noch nicht abzusehen war und das Junktim -- keine Ratifizierung der Ostverträge ohne befriedigende Berlin -- Regelung -- die Ostpolitik zu blockieren drohte, hatte der Außenminister nicht als Erfinder des Junktims gelten wollen. Nun jedoch, da eine Berlin-Regelung nahe zu sein scheint, reklamiert Scheel die Idee für sich. Nur mit diesem -- seinem -- Schachzug sei es gelungen, die FDP-Fraktion geschlossen für die Ostverträge zu gewinnen.
So ist Kühlmann-Stumm, der einst seine »Skepsis bei allen passenden Gelegenheiten bekanntgegeben« hatte (Scheel), inzwischen ins Lager der bedingten Vertragsbefürworter übergewechselt. Wenn dabei eine befriedigende Berlin-Lösung herausspringt, werde er zustimmen. Kühlmann: »Auf keinen Fall werde ich überlaufen. Ich bin ein Ehrenmann.« Der Partei-Linke Martin Bangemann, Vorstandsmitglied aus Baden-Württemberg, resümierte: »In der Ostpolitik ist alles gegessen.«
Auch das innenpolitische Reformprogramm der Partei (Eigentumspolitik, Vermögensbildung und Bodenrecht), über das Ende Oktober beschlossen werden soll, haben die Parteiführer so zurechtgeschliffen, »daß jeder Liberale ihm zustimmen kann« (Scheel).
Denn beim strittigsten Programmpunkt. einer Sondersteuer auf jeden Wertzuwachs von Grund und Boden, haben die Reformer inzwischen zurückgesteckt. Entgegen dem ursprünglichen Plan der Reformkommission soll mit Rücksicht auf die Landwirte und Hauseigentümer der Wertzuwachs bebauter Grundstücke nur noch dann besteuert werden, wenn er vor einem Verkauf realisiert wird; unbebaute Grundstücke sollen der Wertzuwachssteuer nur dann unterliegen, wenn es sich um gehortetes Bauland handelt.
Selbst Partei-Linke wie Wolfgang Lüder, einst Jungdemokratenführer und derzeit Landesvorsitzender von Berlin, sehen es taktisch: »Was nützt ein Reformprogramm ohne eine Reformkoalition.«
Die Rücksicht scheint sich auszuzahlen. Die von Miessner, Zoglmann und Springer Verdächtigten wollen von Absprungsplänen nichts wissen.
Fabrikant Graaff räumt zwar ein, daß es für ihn »bei Eigentumsgeschichten kritisch« wird. Zbr CDU aber will er niemals gehen: »Dann ziehe ich mich eher zur Ruhe zurück, aber dafür gibt es momentan keinen Grund.« Bauer Gallus wies Übertrittsabsichten ("Das wäre ein Schlager") weit von sich: »Ich will mit meiner Stimme die Regierung nicht zu Fall bringen.«
Vor dem Parteivorstand gelobte der Industrieberater Kienbaum Treue bis zum Ende der Legislaturperiode. Und auch der zunächst durch »extreme Diskussionen« verunsicherte Helms bekennt heute: »Ein Wechsel kommt für mich überhaupt nicht in Frage.«
Parteimanager Hans-Dietrich Genscher ist sicher, daß die voreilig Verdächtigten, die innerhalb der letzten zwei Jahre schon alle mindestens ein CDU-Angebot erhalten hatten, bei der Stange bleiben: »Die sind bereits durch das Feuer der Versuchung durch.«
Gefahr für den Zusammenhalt der Freidemokraten droht indessen nicht so sehr durch einen Abwerbungssog von außen, als durch einen Säuberungsdruck von innen.
Schon jetzt kursieren in den Reihen der Jungdemokraten schwarze Listen: In der Tat haben die Partei-Linken -- und insbesondere die Jungdemokraten -- nie verhehlt, daß sie bei den Kandidatenaufstellungen für den nächsten Bundestag konservative Reformbremser von den Listen streichen wollen. Judo-Chef Heiner Bremer: »Die FDP-Fraktion darf nicht länger rechts neben der Partei stehen.«
Auch die Bonner FDP-Führer sehen voraus, daß die Bundestags-Rückkehr einiger FDP-Abgeordneter an der Diskrepanz zwischen der zum größten Teil aus Bürgerblock-Zeiten stammenden Fraktion und der eher reformwilligen Partei scheitern wird. Aber sie bangen, daß die Linken zu früh und zu hart losschlagen könnten. Deshalb möchten sie den Konflikt so lange wie möglich hinausschieben. Scheel: »Das Schlimmste ist, wenn die Leute kopfscheu gemacht werden.«
Das Gegenrezept des FDP-Präsidiums: Die Kandidaten für den nächsten Bundestag sollen erst im Frühjahr 1973, sechs Monate vor der Wahl, benannt werden. Dann, so hoffen die Präsiden, werde sich die CDU/CSU nicht mehr trauen, mit Hilfe übergelaufener FDP-Abgeordneter die Regierung zu stürzen und so den Ruch politischer Korruption auf sich zu laden.
Ganz sicher ist FDP-Chef Scheel. daß die Christdemokraten zumindest jetzt keinen Regierungswechsel anstreben, weil die unvollendeten Ostverträge und die Preisentwicklung eine Barzel- oder Schröder-Regierung in noch größere Schwierigkeiten bringen müßten als das Brandt-Kabinett.
CDU-Ministerpräsident Kohl bestätigt die Scheel-These. Der einst erfolglose Helms-Abwerber will heute von FDP-Überläufern nichts mehr wissen. Kohl: »Das machen wir nicht noch mal. Die lassen wir in der Patsche sitzen.«