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Türkei Warmer Gruß

Präsident Özal umwirbt seine Kurden. Nach dem Ende des Golfkriegs will er auch denen im Irak Schutz anbieten.
aus DER SPIEGEL 6/1991

Ein geflügeltes Wort in Anatolien lautet: »Wir haben heute keinen Feiertag und kein Familienfest - warum bloß küßt mich mein Onkel?«

Genau das fragten sich vor einer Woche Millionen Kurden in der Türkei, nachdem die Regierung in Ankara angekündigt hatte, sie werde das Gesetz aufheben, das den öffentlichen Gebrauch der kurdischen Sprache verbietet.

Seit der Gründung der modernen Türkei durch Kemal Atatürk 1923 gab es offiziell nur ein einig Volk von Türken, dem die neun Millionen Kurden als »Bergtürken« einverleibt waren. Es waren Jahre der Unterdrückung und Verfolgung, der Folter und Gefangenschaft für jene, die von »Kurdistan« träumten, sprachen oder dafür zu kämpfen wagten.

Jubel kam deshalb nicht auf in Südostanatolien, wo die Mehrheit der türkischen Kurden - seit über zehn Jahren auch noch unter der Fuchtel des Ausnahmezustands - lebt. Denn eine Aufhebung des immer wieder mißachteten Sprachverbots bedeutet noch lange nicht, daß es nun auch kurdische Bücher, Zeitungen oder gar kurdischen Schulunterricht geben wird.

Zudem kam dieser »erwärmende Gruß an die kurdische Bevölkerung«, wie der Abgeordnete Nurettin Yilmaz von der regierenden Mutterlandpartei die Geste lobte, zu einer Zeit, in der die Kurden mehr als gute Worte brauchen - Unterkünfte und Gasmasken etwa.

Zu Hunderttausenden sind sie in den letzten Wochen aus den türkisch-irakischen Grenzregionen ins Landesinnere und in die Städte im Westen geflohen. Sie fürchten, daß der irakische Diktator Saddam Hussein die Luftangriffe der Amerikaner von Incirlik aus mit Giftgasgranaten vergelten könnte.

»Die Kurden wollen den Knochen nicht, den Özal ihnen hinwarf«, wies der im griechischen Exil lebende Kurdenführer Seit Altogan das Entgegenkommen des Türken zurück, der noch vor vier Jahren angekündigt hatte, er werde den Kurden »die Köpfe einschlagen«.

Mit seiner neuen Politik der Milde verfolgte Özal mehrere Absichten: Er wollte EG-Europa beschwichtigen, das bei der Türkei ständig die Achtung der Menschenrechte einfordert, bevor über einen Türkei-Beitritt weiterverhandelt werden könne. Und er gedachte wohl, eine Art Köder auszulegen für die 3,5 Millionen irakischen Kurden, die nicht erst seit dem Giftgas-Massaker von Halabdscha im Jahr 1988 wissen, daß sie von Saddam nur das Schlimmste erwarten dürfen.

Özal hat eine Vision von der Türkei nach dem Ende des Golfkriegs: »Größer und gestärkt« werde sie dastehen. Gestärkt ist sie schon. Noch im vorigen Jahr, als der zusammenbrechende Ostblock die Nato überflüssig zu machen schien, drohte die Türkei in politische wie strategische Bedeutungslosigkeit abzusinken. Der Golfkrieg brachte das einzige Nato-Land, das eine gemeinsame Grenze mit dem Irak hat, unversehens in eine strategische Schlüsselposition zurück.

Seine Bereitwilligkeit, den Alliierten zu helfen, will sich Amerika-Fan Özal reichlich honorieren lassen - sicher auch durch einen beschleunigten EG-Beitritt. Er sieht sein Land für die Zeit nach dem Krieg als stabilisierende Ordnungsmacht an einem Schnittpunkt der westlichen und der islamischen Welt. »Die Türkei will beim Siegesmahl mit am Tisch sitzen und nicht auf der Speisekarte stehen«, sagte ein Kabinettsmitglied.

Anders als die kriegsunwilligen Militärs, die Atatürks Glaubensgrundsatz »Friede im Lande, Friede auf der Welt« derzeit hochhalten, träumt Özal zudem davon, die Türkei nicht nur politisch zu stärken, sondern auch territorial zu vergrößern. Die wichtigen Ölregionen um Kirkuk und Mosul im irakischen Norden, teilweise traditionelles Kurdengebiet, habe er als Belohnung für die türkische Kriegsbeteiligung im Auge, heißt es in Ankara.

Solchen Begehrlichkeiten würden Hoffnungen der irakischen Kurden auf Autonomie nach einer Niederlage ihres Schlächters Saddam Hussein im Weg stehen. Nichts fürchten die Türkei, der Iran, Irak und Syrien mehr, als daß die jeweiligen Kurdenstämme ihrer Länder Zwist und ideologische Streitigkeiten überwinden und mit einer Stimme, wie die Palästinenser, vor der Völkergemeinschaft einen eigenen Staat einklagen könnten.

Nach Informationen der Washington Post sollen Ankara und Teheran deshalb schon am 4. Januar ein Geheimabkommen unterzeichnet haben, in dem sie sich verpflichteten, nach dem Ende des Golfkriegs die Teilung des Irak sowie die Ausrufung eines unabhängigen Kurdenstaats zu verhindern. Amerika soll sich, als Dank für die Benutzung der Luftwaffenbasis, verpflichtet haben, keine kurdische Autonomiebewegung zu unterstützen.

Fällt das Regime in Bagdad, möchte Özal Kirkuk und Mosul wenn nicht gleich erobern, so doch zeitweilig als eine Art Protektor unter seine Kontrolle bringen und für einige Jahre das Öl ausbeuten, berichtete die Zeitung Tercüman.

»Die Kurden brauchen keinen eigenen Staat«, befand Özal. In keinem der Nachbarländer lebten so viele Menschen kurdischer Abstammung wie in der Türkei, die irakischen Kurden könnten auch in der Türkei ein Zuhause finden - »vielleicht in einer vergrößerten«.

Für irakische Kurden hat Özals Zukunftsentwurf nichts Reizvolles, sie wollen neutral bleiben. Dschalal Talabani, Führer der Patriotischen Union Kurdistans und mehrerer kurdischer Widerstandsgruppen gegen Saddam im Irak: »Man kann nicht wegen der Annexion Kuweits einen Krieg beginnen und dann eine andere Annexion erlauben.«

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