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Litauen Warten auf Befehle

Jelzin unter Druck von rechts: Er hat den Abzug seiner Truppen aus Litauen gestoppt.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Die schönen Tage an der Ostsee sind zu Ende. Die russischen Armisten Sergej Machanijenkow, Jurij Antonossow und Dima Moros haben die grüne Gulaschkanone des Regiments im Güterwagen festgezurrt und auf dem staubigen Boden ihr Lager aufgeschlagen.

Fünf Tage, schätzen die drei, werden sie unterwegs sein. An ihrem neuen Standort im Kaukasus »wird der Dienst härter, wir müssen in Zelten schlafen«, fürchtet Antonossow.

Ihr Oberleutnant läßt seine in Litauen geborene Frau, das Töchterchen und viele Verwandte zurück. Er ist überzeugt: »So gut wie in Litauen werden wir es nirgendwo mehr haben.«

Die Russen gehören zu den letzten Kriegern des 108. Fallschirmjäger-Regiments, die Kaunas verlassen. Ihre Kaserne ist leer geräumt, die Gedenktafel für in Afghanistan gefallene Kameraden abmontiert. Auf dem hinteren Teil des Geländes marschieren litauische Soldaten in grünen Baretten und Tarnanzügen bereits zum Essenfassen.

Doch jetzt hat Moskau den Abzug plötzlich gestoppt. »Wir laden alles auf, dann warten wir auf weitere Befehle von oben«, sagt Major Jurij Masleny, der die Übergabe der Kaserne an die Litauer überwacht.

In den Verhandlungen über die künftigen Beziehungen beider Staaten erhebe Vilnius »provokative und völlig unrealistische« Ansprüche, beschwert sich der russische Außenminister Andrej Kosyrew. Konkret geht es um das Begehren einer großen Mehrheit der Litauer im Volksentscheid von 1992, die Russen sollten für ein halbes Jahrhundert Okkupation Entschädigung leisten.

Dabei kam eine Summe ins Gespräch, die Rußland gar nicht bezahlen kann und die 3,7 Millionen Litauer zu einem der reichsten Völkchen dieser Erde machen würde: 146 Milliarden Dollar.

Litauens neuer Präsident Algirdas Brasauskas, 60, der im Februar gerade wegen seiner guten Kontakte zum mächtigen Nachbarn gewählt worden war, muß jetzt die schlimmste außenpolitische Krise seit der Unabhängigkeit meistern. Der Konflikt trifft ausgerechnet jenen Baltenstaat, der - anders als Lettland und Estland - die russische Minderheit (nur neun Prozent der Bevölkerung) ohne größere Probleme integriert hat.

In Moskau wird das allerdings anders gesehen. Das russische Außenministerium entdeckte »fortgesetzte Drohungen gegen russische Soldaten, ihre Familienangehörigen und andere russische Bürger«. Auf jegliche »Provokationen« gegen die noch im Lande stehenden Soldaten, warnte nun Moskau im Stalin-Stil, erfolge eine »schnelle, praktische und äußerst entschiedene Antwort«.

Offenbar muß Russen-Präsident Boris Jelzin - der gleichzeitig in Warschau den Abzug seiner letzten 50 Soldaten aus Polen binnen fünf Wochen versprach - mit demonstrativer Härte die rechte Opposition besänftigen: Konservative können nicht verschmerzen, daß Rußlands 250 Jahre währende Präsenz im Baltikum vorbei sein soll.

Außenminister Kosyrew, der bei seinen Gegnern im Ruf der Amerika-Hörigkeit steht, will Entschlossenheit zeigen. Halten die Russen ihre frühere Zusage auf Abzug bis zum 6. Oktober nicht ein, erwägt Washington wirtschaftliche Sanktionen. Brasauskas, der Reformkommunist, sagte einen Gipfel mit Russen-Zar Boris Jelzin ab.

Aber auch bei den Litauern wird Selbstkritik laut: »Wir haben zu harte Entschädigungforderungen gestellt«, räumt Präsidentenberater Justas Paleckis ein. Sein Chef rügte die eigene Verhandlungsdelegation.

Jelzin betrachtet - jedenfalls in dieser Frage - seine Russische Föderation nicht als Rechtsnachfolger der zerfallenen UdSSR (bei den Atomwaffen ist das anders). Er fürchtet einen Präzedenzfall: Die ebenfalls 1940 besetzten Nachbarn Lettland und Estland könnten ihrerseits Rechnungen präsentieren - und schließlich alle anderen Opfer des Sowjetimperialismus. In Prag verweigerte Jelzin vorigen Donnerstag Schadensersatz für die Sowjetinvasion von 1968. Moskau ist lediglich bereit, die seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 entstandenen Schäden zu bezahlen: Das neue Rußland sei für die Folgen des Stalinismus nicht verantwortlich.

Empfindlicher als eine Garnison von noch 2200 russischen Soldaten trifft die Litauer wirtschaftlicher Druck. Sie sind dringend darauf angewiesen, daß Moskau ihnen die Meistbegünstigung einräumt: Importzölle, die bislang die Geschäfte mit dem größten Handelspartner behindern, würden wegfallen. Litauische Fernsehapparate zum Beispiel sind in Rußland wegen der hohen Einfuhrabgaben genauso teuer wie japanische Geräte.

In den verlassenen Kasernen von Vilnius räumen die neuen Eigentümer mittlerweile auf. Gerümpel, Mützen und Stiefel liegen herum, auf einem Klo modert ein Konterfei des ehemaligen sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko. Auch ein Lenin-Denkmal haben die Russen im Stich gelassen.

Mit dem Truppen-Ghetto (66 Hektar) inmitten ihrer Hauptstadt haben die Litauer viel vor: Binnen weniger Jahre soll sich das Gelände nach Vorbild des chinesischen Shenzhen in eine Sonderwirtschaftszone mit Banken, Büros und Fabriken verwandeln, attraktiv für ausländische Investoren.

Das frühere Offizierskasino fand bereits einen neuen Zweck. Es dient der Stadt als Leichenschauhaus. Y

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