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Günter Gaus WARTEN AUF EINEN KANZLER

Von Günter Gaus
aus DER SPIEGEL 6/1971

Das Superministerium für Konjunktur und Finanzen, von Positionsdenker Strauß zuerst ins Gespräch gebracht, Bonn braucht es nötiger denn je. Gäbe es ein um die wichtigsten Abteilungen des Wirtschaftsressorts angereichertes Finanzministerium und stünde an seiner Spitze der richtige Mann« so wäre dieser Mammutminister wohl kraft Amtes der Bundeskanzler, der heute fehlt: der Mann fürs Innere, für Konjunkturpolitik samt Steuerplanung, für das Wächteramt über die Bonner Bäume ebenso, die nicht In den Himmel wachsen können, wie über die Angst der Unternehmer, die derzeit aus Furcht vorm Tod zum Selbstmord neigen. Der Mann müßte her, denn vom Teil-Kanzler Brandt Ist die Hinwendung zur Innenpolitik wohl nicht mehr zu erwarten.

Der Bericht zur Lage der Nation und die Debatte darüber -- was war es denn mehr als das Klingelzeichen für die große außenpolitische Pause, die In Bonn begonnen hat. Die Regierung hat aus der -- richtigen -- politischen Verbindung zwischen Ostpolitik und Berlin-Regelung ein falsches förmliches Junktim gemacht, von dem sie heute tatsächlich nur noch mit großem Schaden herunter könnte. Vorläufiges Ergebnis, bestenfalls: abwarten.

Die CDU/CSU hat den Zungenschlag noch nicht gefunden, um Ihre auf Auslandsreisen wachsende Einsicht, daß schon die nicht ratifizierten Ostverträge Fakten auch für die Opposition schaffen, mit dem im Hausgebrauch profitablen Nein gefällig zu verbinden. Resultat: Umstellungsschwierigkeiten, Pause.

Dennoch wurde in Bonn zwei Tage lang über die Außenpolitik scharmützelt, als hingen derzeit die Existenz dieser Regierung und das Wohlergehen des Landes von ihr ab. Dabei entsprach der Beratungsgegenstand doch nur der Vorliebe des Kanzlers und dem einmal beschlossenen Themenkatalog.

Weiche lebensgefährlichen Äußerungen sollen seine Minister wohl noch machen, wenn nicht jetzt -- wenige Tage nach Alex Möllers Steuer-Interview -- für Brandt die Notwendigkeit gekommen Ist, ein Wort zur Wirtschaftslage, zum Steueraufkommen und zu den daraus resultierenden Absichten der Regierung zu sagen? Er, der Kanzler, Im Bundestag -- und nicht Möller oder Schiller oder Leber in den fälligen Wochenend-Interviews.

Die Wirtschaftspolitik dieser Regierung Ist bekannt von Presse, Funk und Fernsehen -- aber durch den Kanzler nicht. Seiner angenehmen Art entsprechend scheint sich seine Mitwirkung bei diesem Teil der Regierungsarbeit auf das Beschwichtigen zwischen den Ressort-Herren und das begütigende Zurechtrücken mißverständlicher Ministerworte zu beschränken. Auch Adenauer hatte Schwierigkeiten mit den Sonntagsreden seiner Minister. Aber anders als bei Brandt hat die Industrie bei Ihm auch nicht geradezu darauf gelauert, nach dem Motto zu verfahren: Es geschieht meinem Vater ganz recht, wenn es mich an den Händen friert.

Wenn je ein Bundeskanzler sein eigenes Wort und Gewicht konjunkturpolitisch verpfänden mußte, um seine politischen Ziele zu erreichen, so ist es der Sozialdemokrat Willy Brandt an der Schwelle zum Rezessionsjahr.

Das Superministerium, so nötig es neben seinem Kanzleramt wäre, kann Willy Brandt nicht bilden. Helmut Schmidt, an der Position des Schatzkanzlers gewiß nicht uninteressiert, muß auf der Hardthöhe bleiben, wenn er nicht den Makel der Fahnenflucht auf sich ziehen will, Und das Finanzministerium zugunsten Möllers und zu Lasten Schillers jetzt erweitern zu wollen, hieße den Wirtschaftsminister In einem Augenblick schwächen, da er zwar Im Umgang mit Kabinettskollegen und Fraktionsgenossen noch immer nicht geschickter geworden Ist, er aber -- mag man es erklären, wie man will -- nach wie vor Vertrauenskapital bei schwankenden Wählern besitzt.

Nein, kein Supermann kann dem Kanzler zu Hilfe kommen. Er selbst muß -- nicht auf entlegenen Parteitagen (wie jüngst In Schleswig-Holstein), sondern in einem konjunkturpolitischen Bericht zur Lage der Bundesrepublik -- Klarheit darüber schaffen, womit Westdeutschlands Wirtschaftsbürger in den nächsten 24 Monaten nach den faktischen Gegebenheiten und den gemeinsamen Absichten der Regierungspartner, SPD und FDP, zu rechnen haben. Selbst das Eingeständnis des Bundeskanzlers, über etwaige Steuererhöhungen im nächsten Jahr noch nichts sagen zu können, wäre besser als der jetzige Zustand. Der Regierungschef, nicht sein Wirtschaftsminister, muß in dieser Woche vor dem Parlament die aufschlußgebende Rede halten.

Derzeit will Brandt, wenn er sich überhaupt um Innenpolitik kümmert, den Kuchen essen und behalten: Er will die Grenze nicht klar ziehen, die durch den Partner FDP, die Neigung mancher Unternehmerkreise zur Hysterie und die tatsächlichen konjunkturellen Engpässe den sozialdemokratischen Zielen gesetzt Ist.

Sobald Brandt klar und deutlich die innenpolitischen Absichten und Möglichkeiten seiner Koalitionsregierung benennt, wird sich erweisen, daß er auf Genscher mehr Rücksichten nehmen muß als auf die Jungsozialisten. Das wird für viele eine bittere Einsicht sein, aber überraschen kann sie doch wohl nur den, der den Regierungsantritt eines sozialdemokratischen Kanzlers mit der totalen Ablösung der Machtverhältnisse In diesem Lande verwechselt hat. Bundeskanzler Brandt lebt vom Kompromiß. Nur wenn er dies selber eingesteht, kann er seine Chancen für 1973 verbessern.

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