WARTEN AUFS LETZTE GEFECHT
6. Fortsetzung
Als Alexander Iljitsch Uljanow am 20. Mai 1887 in der Festung Schlüsselburg gehenkt wurde, war sein Bruder Wladimir, der sich später Lenin nannte, 17 Jahre alt. Wenige Jahre danach war derselbe Wladimir Iljitsch Uljanow ein fertiger Mann. Sein Schädel war kahl, seine Freunde nannten ihn, der kaum mehr als zwanzig Jahre zählte, »den Alten«, und selbst Sozialisten, die - wie der russische Sozialdemokrat Pawel Axelrod - später Lenins Ideen mit Vorbehalt gegenüberstanden, erkannten in ihm den Mann, »welcher der Führer der russischen Revolution sein wird«.
Axelrods Bemerkung stammt aus dem Jahre 1895. Lenin war damals 25 Jahre alt, und es gab zu jenem Zeitpunkt eigentlich nichts, worauf sich ein derartig anspruchsvolles Urteil stützen konnte. Die einzige Unterlage für Axelrods
kühne, ja waghalsige Prophezeiung war ein Gespräch, das er mehrere Tage und Nächte lang in Zürich mit dem durchreisenden Lenin geführt hatte. »Er wußte, was er machen will und wie es zu machen ist«, schrieb Axelrod.
Lenin war am 22. April 1870 in Simbirsk, einer Stadt an der Wolga, die heute Uljanowsk heißt, geboren worden. Sein Vater war Schulrat. Seine Mutter, eine geborene Blank, war - wie Lenins Schwester Maria schreibt - jedenfalls »zum Teil in deutschen Überlieferungen aufgewachsen«. Lenin liebte sie bis zu ihrem Tode auf das innigste.
Den jungen Lenin zeichnete - neben seiner eminenten Rationalität - eine ungewöhnliche Empfindsamkeit aus, eine Eigenschaft, die er trotz der stählernen Kälte seiner Theorien und der Härte seiner revolutionären Praxis bis zu seinem Tode bewahrte. Zahllos sind die Geschichten, die von seinem zärtlichen Verhältnis zu Kindern berichten. Noch
als erwachsenem Mann machte es ihm Spaß, mit Kindern Versteck zu spielen und unter Tische und in Schränke zu krabbeln. Eines von Lenins Parteifreund Grigorij Sinowjews Kindern wollte er, der Kinderlose, adoptieren, und er war traurig, als die Eltern dagegen waren.
Bei Kindern reagierte Lenin, so hat man den Eindruck, die Empfindsamkeit ab, die er, der Revolutionär und Staatsmann, sonst in seinem Leben nicht unterbringen konnte. In Auseinandersetzungen mit Erwachsenen dagegen war er, außer wenn es sich um seine Mutter oder seine Geschwister handelte, hart und verschlagen bis zur Grausamkeit und Tücke.
Selbst bei seiner zartesten Liebesaffäre - mit einer reichen russischen Dame, Elisabeth K. - schlug am Ende überraschend kaltblütige Berechnung durch. Lenin begegnete der Elisabeth K. im Revolutionsjahr 1905 in einem Petersburger Restaurant. Er lebte damals aus
Sicherheitsgründen von seiner Frau Nadeschda Krupskaja getrennt und hatte einen Paß auf den Namen Wilhelm Frey. Nachdem Frau K. von einem Bekannten an den Tisch Lenins gebeten worden war, besuchte Lenin die Dame mehrere Abende in ihrer Wohnung.
Das Verhältnis dauerte über sechs Jahre. Lenin traf Elisabeth in Stockholm, in der Schweiz und in Paris. Schließlich machte er den Versuch, seine Beziehungen zu ihr für seine revolutionären Zwecke auszunutzen. Er bat sie, aus der Schweiz Kinderspielzeug an ihre Petersburger Bekannten zu verschicken, welche die Sendungen dann an namentlich genannte Arbeiterfamilien weitergeben sollten.
Elisabeth K. aber öffnete die Pakete vor der Absendung und fand darin bolschewistisches Propagandamaterial. Empört hielt sie Lenin vor, er habe auf diese Weise ihre Petersburger Freunde und sie selbst in Gefahr gebracht. Lenin lachte nur dazu. Die beiden sahen sich nicht wieder.*
Im Jahre 1905 ließ sich Lenin bei sein Abendvisiten im Hause der Elisabeth K. häufig Klaviermusik vorspielen. Er liebte Musik und war selbst musikalisch begabt. Als Achtjähriger spielte er mit seiner Mutter vierhändig - aber wenig später gab er das Klavierspielen auf, weil es eine »unwürdige Beschäftigung« sei.
Es gibt noch mehr Beispiele solcher Selbstzügelung. So beschloß Lenin eines Tages, das Schachspielen aufzugeben, das er bis dahin mit Leidenschaft betrieben hatte. »Es muß«, schrieb einer der ersten Kampfgenossen Lenins namens Potressow, »einen geheimen, mit seinem Gefühlsleben zusammenhängenden Grund gegeben haben, der ihn zwang, jede Jugendlichkeit zu unterdrücken.«
Unverkennbar ist, daß Lenin schon als Knabe begann, sich selbst zu disziplinieren - ja, zu rationalisieren. Alles, was er tat und ließ, wirkte durchdacht, als ob es sich dabei um die Ausführung eines wohlerwogenen Planes handelte. Selbst sein wichtigster Entschluß - nämlich der, Revolutionär zu werden - ist wohl das Produkt angestrengten Bücherlesens.
In der Jugendgeschichte von Marx und von Lenin gibt es keine verletzenden Erlebnisse, die erklären würden, warum sie Revolutionäre wurden. Das Familienleben der Uljanows war glücklich, das Verhältnis der Familienmitglieder nahezu konfliktfrei. Der Vater, der dem russischen Kleinadel angehörte, war immerhin so wohlhabend, daß seine Familie auch nach seinem Tode, 1886, nicht zu darben brauchte.
Zwar hat die Hinrichtung seines Bruders, 1887, Denkweise und Taktik Lenins mitbestimmt, indes scheint der Entschluß zum Umsturz älter als dieses Erlebnis zu sein. Nach seinem eigenen Bekenntnis hatte Lenin bereits als 16jähriger mit dem Christentum radikal gebrochen - ohne darüber zu sprechen.
In der Schule war er ein Musterknabe: intelligent, fleißig und fügsam. Der Direktor der Schule, Vater jenes
Alexander Kerenski, der im Jahre 1917 Lenins stärkster Gegenspieler im Kampf um Rußland sein sollte, bescheinigte ihm neben anderen Tugenden »vorbildliches Betragen«.
Lenins Leben nach Verlassen des Gymnasiums gleicht der Flugbahn eines Geschosses. Es ist, mit unbeirrbarer Konsequenz und - soweit man erkennen kann - von keinerlei Zweifeln gestört, auf ein Ziel gerichtet: die russische Revolution.
Als Schüler hatte Lenin die Schriften der russischen Revolutionäre Alexander Herzen, Michail Bakunin, Njetschajew und Tkatschow gelesen. Als 17jähriger Student wurde er zum ersten Male verbannt und von der Universität Kasan relegiert. Im folgenden Jahr begann er Marx zu studieren.
Es folgte eine Zeit des Selbststudiums auf dem Gut seiner Mutter, das Rechtsanwaltsexamen in Petersburg und die Niederlassung als Advokat in Samara (heute Kuibyschew). Dort beteiligte er sich, kaum eingetroffen, an einem marxistischen Zirkel und verfaßte seine erste politische Schrift. 1893 siedelte er nach Petersburg um, ein Jahr später reiste er nach Westeuropa. In der Schweiz diskutierte er mit Plechanow, mit Wera Sassulitsch und Axelrod. In Paris traf er Marxens Schwiegersohn, Paul Lafargue. »Sie studieren Marx?« fragte der ihn. »Verstehen Sie ihn denn?«
Lenin: »Ja!«
Lafargue: »Ach, Sie verstehen gar nichts. Hier versteht ihn kein Mensch ...«
Als Lenin nach Petersburg zurückkehrte, brachte er einen Koffer voll marxistischer Schriften mit. Er praktizierte als Anwalt, studierte und begann - zusammen mit einem nahezu gleichaltrigen Revolutionär namens Julius Martow alias Zederbaum - einen »Kampfbund für die Befreiung der Arbeiterklasse« zu organisieren. Am 21. Dezember 1895 wurden beide verhaftet.
14 Monate saß Lenin im Gefängnis, wo er in unsichtbarer Schrift (mit Milch) sein erstes großes Werk, »Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland«, zu schreiben begann, das im Jahre 1899 unter dem Pseudonym W. Iljin erschien. Im Frühjahr 1897 wurde Lenin in das Dorf Schuschenskoje am Jenissej in Ostsibirien verbannt. Dort heiratete er Nadeschda Krupskaja, eine Lehrerin und Gesinnungsgenossin, die er in Petersburg kennengelernt hatte.
Nach dreijähriger Verbannung - einem revolutionären Idyll mit Jagen, Fischen, Lesen, Schreiben und Diskutieren - kehrte er nach Westrußland zurück. Ein halbes Jahr später, es war im Juli 1900, verließ er Rußland.
Es begann für ihn das unstete Leben eines Konspirateurs: Die zaristische Geheimpolizei verfolgte seine Spuren bis nach Genf, München, Leipzig, Brüssel und London. Und es begannen für ihn die bissigen Auseinandersetzungen um die ideologische und organisatorische Formierung des russischen revolutionären Sozialismus. Brennpunkt dieser Auseinandersetzungen war die revolutionäre Zeitschrift der russischen Sozialdemokratischen Partei, »Iskra« (Der Funke), die Lenin und Plechanow im Herbst 1900 gründeten.
Die Zeitschrift wurde zunächst in einer Druckerei der SPD in Leipzig auf Zigarettenpapier gedruckt und auf dunklen Wegen, meist über Balkanländer, nach Rußland geschmuggelt. Die Finanzierung wurde durch Schenkungen sympathisierender Russen, wahrscheinlich auch durch Unterstützungen der Partei August Bebels und Liebknechts, gewährleistet.
Die »Iskra«-Redaktion wurde bald zur wichtigsten Position des revolutionären Marxismus. Wer von den russischen Sozialdemokraten die »Iskra«-Redaktion beherrschte, hatte zugleich auch einen entscheidenden Einfluß auf die ideologische Bildung der revolutionären Zirkel in Rußland. Überdies
konnte er sich bei der Regelung so komplizierter Probleme wie Finanzierung, Transport und Verteilung der Zeitschrift einen Apparat von ebenso mutigen wie verschwiegenen Funktionären heranziehen. Lenin machte von beiden Möglichkeiten Gebrauch.
Ideologisch kämpfte Lenin an zwei Fronten - nämlich
- einmal gegen die nichtmarxistischen Sozialisten Rußlands, die sich Sozialrevolutionäre oder auch Narodniki nannten und meinten, der russische Bauer sei »instinktiv« Sozialist, und
- zum anderen gegen die orthodoxen Marxisten, die erst die »Reife« des russischen Kapitalismus - anders ausgedrückt: das Entstehen einer starken russischen Arbeiterschaft - abwarten wollten, ehe man an eine
proletarische Revolution in Rußland
denken konnte.
Lenin strebte eine sozialistische Revolution an, die so bald wie möglich stattfinden sollte. Dieser Wille war der alles
beherrschende Impuls seiner politischen Gedanken und Taten.
Diesem Willen kamen die Sozialrevolutionäre am nächsten, meinten sie doch, daß man das Entstehen einer mehrheitlichen russischen Arbeiterschaft gar nicht abzuwarten brauche, weil ja der russische Bauer von Haus aus sozialistisch sei.
An sich hätte Lenin also den zu schnellem revolutionärem Losschlagen entschlossenen Sozialrevolutionären beitreten müssen. Indes, er teilte keineswegs deren Auffassung, daß der russische Bauer sozusagen der »geborene Sozialist« sei. Im Gegenteil, er gab sich keiner Täuschung darüber hin, daß die Bauern Rußlands wie überall sonst nach nichts anderem als Besitz strebten und mithin im sozialistischen Sinne reaktionär waren.
Auf der anderen Seite aber erkannte er mit dem Blick des Praktikers, daß man das Besitzstreben der armen Bauern Rußlands im Kampf gegen die zaristische Ordnung als Sprengmittel gebrauchen könne - freilich nur mit der Absicht, die Bauern nach gelungener Beseitigung des Zarismus um die Früchte der gemeinsamen Revolution zu betrügen.
Er sprach das schon 1905 offen aus: »Wir unterstützen die Bauernbewegung, soweit sie revolutionär-demokratisch ist. Wir bereiten uns vor, sie zu bekämpfen, sobald sie sich als reaktionär, als antiproletarisch offenbaren wird.«
Oder: »Zunächst unterstützen wir bis zum Ende, mit allen Mitteln, bis zur Konfiskation, den Bauern überhaupt gegen den Gutsherrn, danach aber - sogar nicht danach, sondern gleichzeitig - unterstützen wir das Proletariat gegen den Bauern überhaupt.«
Lenins Interesse für die Bauern hatte also ausschließlich taktische Gründe. Das russische Proletariat, meinte er, könne nur siegen, wenn »sich die Masse der Bauernschaft seinem revolutionären Kampf anschließt«.
Aber: Wo war im Rußland der Jahrhundertwende das Proletariat, und - wenn es vorhanden war - was wollte es wirklich?
Bei der Beantwortung der ersten Frage gebrauchte Lenin alle Kniffe und Künste der Statistik, um ein zahlenmäßig starkes russisches Proletariat zu errechnen. Aufgrund einer amtlichen Bevölkerungsstatistik des Jahres 1897 behauptete er, das russische Volk bestehe aus
- drei Millionen Großgrundbesitzern,
Großbürgern und hohen Beamten,
- 23,1 Millionen wohlhabenden Bauern
und gewerbetreibenden Bürgern,
- 35,8 Millionen armen Bauern und
Gewerbetreibenden,
- 41,7 Millionen »Halb-Proletariern«
und
- 22 Millionen Proletariern.
Selbst nach dieser eigenen Rechnung Lenins machte das Proletariat im Jahre 1897 nicht mehr als rund 18 Prozent des russischen Volkes aus. Tatsächlich aber dürfte der Anteil der Industriearbeiterschaft an der gesamten russischen Bevölkerung noch sehr viel geringer gewesen sein. Die amtlichen Angaben über die Zahl der Industriearbeiter im Jahre 1900 schwanken zwischen zwei und drei Millionen, und zwar einschließlich der in der Industrie tätigen Frauen und Jugendlichen.
Wenn man die höchste Ziffer - nämlich drei Millionen - annimmt und ferner jedem dieser drei Millionen jeweils drei Familienmitglieder zurechnet (es handelt sich dabei um Frauen, Jugendliche und Kinder), so ergibt sich, daß das russische Proletariat um 1900 etwa zwölf Millionen Menschen zählte. Das waren - bei einer Gesamtbevölkerung von 130 Millionen Menschen - etwas mehr als neun Prozent. Wahrscheinlich jedoch war der Prozentanteil der Arbeiterschaft an der russischen Bevölkerung noch weitaus geringer. Dr. Iring Fetscher, Dozent in Tübingen und namhafter Marx-Forscher, meint,
daß dieser Anteil noch 1914 kaum mehr als fünf Prozent betragen habe.
Der Versuch, mit statistischen Kunststücken nachzuweisen, daß die russischen Verhältnisse für eine Arbeiterrevolution reif seien, konnte nicht gelingen. Die Russen waren nun einmal ein Bauernvolk.
Indes, um die Jahrhundertwende zeichnete sich in den Diskussionen der russischen Marxisten eine noch viel grundsätzlichere und noch viel deprimirendere Erkenntnis ab. Lenin sprach sie kaltblütig aus.
Bis zu Lenin war man im marxistischen Lager von der Annahme ausgegangen, daß dem Proletarier die sozialistische Gesinnung und das rechte »Klassenbewußtsein« sozusagen von Natur aus mit in die Wiege gegeben seien. Diese Vorstellung gehörte zu den Tabus der Marxisten in ganz Europa.
Lenin zerstörte das Tabu. Er erklärte, daß der Arbeiter im Grunde nichts anderes wolle als mehr Geld und mithin seinen Wünschen nach »ein Kleinbürger« sei. »Das politische Klassenbewußtsein«, so schockierte Lenin 1902 alle sentimentalen Arbeiter-Verehrer, »kann dem Arbeiter nur von außen gebracht
werden, d.h. aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.«
»Die Arbeiterschaft«, meinte Lenin, könne »aus eigener Kraft nur ein gewerkschaftliches Bewußtsein entwickeln«. Sie sei mithin nur »ökonomisch« interessiert - vulgär gesagt: nur auf höhere Löhne aus -, habe aber kein »politisches« Bewußtsein. Arbeiterführer, die der Arbeiterschaft höhere Löhne versprachen, waren in den Augen Lenins »Opportunisten«, also Leute, die den Arbeitern bloß nach dem Maule
redeten. Opportunisten par excellence waren darum nach Lenins Meinung die Gewerkschaftsführer.
»Modernes sozialistisches Bewußtsein« könne nur aus tiefer wissenschaftlicher Einsicht entspringen«, zitierte Lenin den damals noch von ihm anerkannten Karl Kautsky, und »der Träger« dieser Wissenschaft sei »nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz«. Tatsächlich, so meinte Lenin, sei ja auch die Lehre des Sozialismus von »gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen« - also von der »Intelligenz« - ausgearbeitet worden. Schließlich gehörten Marx und Engels nicht der Arbeiterschaft, sondern »ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an«.
Die »geduckte, unwissende, ungebildete, verängstigte, zersplitterte« Masse nicht nur der russischen Bauern, sondern auch der russischen Arbeiter war nach Lenins Meinung gar nicht in der Lage, politisch zu denken. Sie hatte mithin auch gar kein Recht auf politische Freiheit.
Dem Proletariat und der »Dorfarmut« schrieb Lenin bestenfalls eine gewisse revolutionäre »Spontaneität« zu, das hieß eine Art von naturhaftem Aufbegehrwillen. Von dieser Spontaneität sei aber letztlich nichts zu erwarten - auf keinen Fall eine grundsätzliche Besserung der gesellschaftlichen Zustände, auf keinen Fall die Zerstörung der Klassengesellschaft.
Deswegen müsse die revolutionäre Spontaneität der »unwissenden, ungebildeten Masse« durch das »Bewußtsein« geführt werden, konkreter ausgedrückt: durch den disziplinierten Intellektuellen. Dieser Intellektuellen-Soldat - von Lenin »Berufsrevolutionär« genannt - sollte die unwissenden Klassenkampf-Muschiks in die Sozialschlachten führen, wie die Zarengeneräle ihre Bauernsoldaten in die Maschinengewehrgarben der Japaner vor Mukden und Port Arthur.
Die Lehre von der Überlegenheit des »Bewußtseins« über die »Spontaneität« führte Lenin zu der Forderung, daß die Revolution »von oben« her gemacht werden müsse - und zwar von einem »Generalstab«, der möglichst klein- und möglichst geheimzuhalten sei, und er machte gar kein Hehl daraus, daß er Rußland genauso zu regieren gedachte, wie es die Zaren seit Peter dem Großen getan hatten. »Rußland«, sagte er noch 1917, »war gewohnt, von 150 000 adligen Großgrundbesitzern regiert zu werden, warum können nicht 240 000 Bolschewiken die gleiche Aufgabe übernehmen?«
Der Intellektuellen-Generalstab sollte nach Lenins Willen und Meinung streng diszipliniert und nach soldatischen Gehorsamkeits-Prinzipien aufgebaut werden. Lenin sprach offen aus, daß die Parteibürokratie gegenüber der Parteimitgliederschaft den Vorrang habe und daß an die Stelle der innerparteilichen Demokratie die Herrschaft des Funktionärs zu treten habe.
1904 schrieb er: »Bürokratie gegen Demokratie, das heißt also Zentralismus gegenüber der Autonomie (der unteren Parteiorganisationen), das ist das Organisationsprinzip der revolutionären Sozialdemokratie gegenüber den Organisationsprinzipien der Opportunisten« - also gegenüber den Leuten, die der Arbeiterschaft nur nach dem Munde redeten. Diese Opportunisten wollten,
so höhnte Lenin, eine Partei »von unten nach oben« aufbauen, wohingegen er unnachgiebig »die Erweiterung der Rechte ... der Parteileitung gegenüber den Gliedorganisationen« verlange.
Lenins Idee eines kleinen, geheimen und soldatisch geführten Intellektuellen-Generalstabs löste unter den meisten Marxisten der Jahrhundertwende helle Empörung aus. Die kaltblütige und nur schlecht verhehlte Verachtung Lenins für die sonst im Marxismus so glorifizierten »Massen«, mochten sie nun Bauern oder Arbeiter sein, drehte den sentimentalen Marxisten einfach das Herz im Leibe um.
Trotzki, 1917 Lenins kongenialer Mitkämpfer, zeichnete 1904 die schreckliche Zukunftsvision eines Intellektuellen-Diktators, wie sie sich aus Lenins
Ansichten ergab. »Die Parteiorganisation«, prophezeite er damals, »tritt (bei Lenin) an die Stelle der Partei, das Zentralkomitee an die Stelle der Organisation und schließlich der Diktator an die Stelle des Zentralkomitees.« Lenin, so schrieb Trotzki, wolle nicht die »Diktatur des Proletariats«, sondern die »Diktatur über das Proletariat«, und Rosa Luxemburg, die polnisch-deutsche Märtyrerin des Kommunismus, sah 1917 voraus, daß Lenins Diktatur alles freiheitliche Leben in Rußland ersticken würde: »Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren..., eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdinge, aber nicht die
Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinn, im Sinne der Jakobinerherrschaft...«
Lenin hielt die Bauern - also auf Rußland bezogen: 80 Prozent der Bevölkerung - für geborene reaktionäre Dummköpfe. Er hielt die Arbeiter, also weitere zehn Prozent der russischen Bevölkerung, für geborene bornierte Möchtegern-Kleinbürger. Dem Rest, also der Bourgeoisie und dem Adel, hatte er ohnehin den Kampf angesagt.
Durch wessen Auftrag - so darf man sich fragen - fühlte sich Lenin befugt und berechtigt, Rußland sozialistisch zu revolutionieren? Er selbst hatte die bürgerliche Intelligenz Rußlands gleichsam zum revolutionären Zaren, zum Führer der sozialistischen Revolution Rußlands, proklamiert, aber: Wer und was war diese revolutionäre Intelligenz?
In Wirklichkeit war sie alles andere als eine disziplinierte Einheit, sondern ein Haufe intellektueller Amateurphilosophen, Tagträumer und Weltverbesserer, die - mit persönlicher Eitelkeit behaftet - sich untereinander unentwegt befehdeten, von denen jeder eine eigene »Theorie« entwickelt hatte und fortan hätschelte.
Es gab keinen unter ihnen, der nicht ein oder mehrere Male von Lenins Linie abgewichen wäre. Stalin und Kamenew wurden abtrünnig, kaum daß die russische Revolution im Jahre 1917 ausgebrochen war. Sinowjew, der Lenin von Zürich durch Deutschland nach Petrograd begleitet hatte, schwankte wie ein Rohr im Wind, sobald er nach Rußland zurückgekehrt war Krassin, Lenins »Finanzminister« in den ersten Jahren des Jahrhunderts,
wandte sich schon 1908 von seinem Meister ab.
Die ganze linksradikale marxistische Elite des Westens einschließlich Rosa Luxemburgs war über Lenin während der Revolution empört. Und selbst Trotzki - obwohl erst im Sommer 1917 zur bolschewistischen Fraktion gestoßen, der leidenschaftlichste und entschlossenste Mitkämpfer Lenins - blieb im
Grunde seines Herzens sein unerbittlicher Feind.
Trotzkis berühmte »Geschichte der russischen Revolution« ist ein unvergeßlich geschriebenes Plädoyer gegen Lenins These, wonach das »Bewußtsein« - oder konkret gesagt- »die Intelligenz« - Revolutionen macht. Lenin war längst tot, als - Trotzki alle seine Kräfte darauf verwandte, um in glänzend-verführerischen Satzkaskaden zu beweisen, daß die Revolution von 1917 nicht das Werk eines Intellektuellen -Generalstabs gewesen sei, sondern die Leistung der »revolutionären Spontaneität der Massen«, des Volkes selbst.
Mit dem großen Pathos des Volkstribunen, der in das Volk verliebt ist, schildert Trotzki die Situation in Petrograd unmittelbar vor Ausbruch der Revolution von 1917. Mit Nachdruck stellt er fest, daß die Intellektuellen, daß die Kader der Berufsrevolutionäre ratlos dem kritischen Augenblick entgegenbangten, wohingegen »die Massen« zur Tat drängten. »Eine-Leitung der Massen von oben gab es fast nicht«, schreibt Trotzki beinahe höhnisch und fährt dann geradezu triumphierend fort: »Ohne sich umzuschauen, machten die Massen selbst ihre Geschichte.«
In Trotzkis begeisterter Darstellung wird »die Masse« schließlich gar zur Person, begabt mit Verstand und Sinnesorganen: »Indem sie sich über die Straßen ergießt, mit dem Feinde zusammenstößt...« unter den Bäuchen der (Kosaken-)Pferde hindurchkriecht, angreift, auseinanderläuft, an den Straßenecken Tote zurückläßt, ab und zu Waffen erobert, Nachrichten weitergibt, Gerüchte auffängt, wird die aufständische Masse zu einem Kollektivwesen mit unzähligen Augen, Ohren und Fühlern. In der Nacht von der Arena des Kampfes in die Fabrikviertel zurückgekehrt, verarbeitet die Masse die Tageseindrücke und zieht, das Kleinliche und Zufällige aussiebend, das schwerwiegende Fazit« - nämlich den Schluß, daß die Revolution gemacht werden muß.
Die Masse - so wie sie Trotzki schwärmerisch schilderte - sieht, fühlt und hört, und in der Nacht denkt sie sogar.
Es läßt sich kein größerer Gegensätz zu dieser Auffassung Trotzkis von der »Masse« denken als die Auffassung Lenins. Für Lenin war die Masse eigentlich nur dumm, eine »ungebildete, unwissende, gedrückte« Herde von Menschen, bedürftig der ständigen Gängelung durch das »Bewußtsein«, bedürftig der einmal grausamen, dann wieder heuchelnden, aber immer wohlüberlegten Führung durch den intellektuellen Berufsrevolutionär, bedürftig der Anleitung durch letztlich niemanden anders als durch ihn, Lenin, selbst.
Genau das war es, was Trotzki im Jahre 1904 prophetisch dem Führer der Bolschewiken vorwarf: daß Lenin,
indem er den Vorrang des Bewußtseins vor der Spontaneität proklamierte, zugleich sich selbst zum Diktator ausrief, zum Selbstherrscher nicht nur über die Massen, sondern auch über alle intellektuellen Revolutionäre. Und eben dieser Vorwurf war denn auch das Thema des vielleicht denkwürdigsten Parteitags der russischen Sozialdemokratischen Partei, des Brüssel-Londoner Parteitags vom Jahre 1903.
Die Sozialdemokratische Partei Rußlands war im Jahre 1898 in Minsk gegründet worden. Anreger war Georgij Plechanow gewesen, der schon 1880 in die Schweiz geflohen war. Zu ihm, der in Genf wohnte, gesellten sich Wera Sassulitsch und Pawel Axelrod, später noch Lenins - Freunde Martow-Zederbaum, Alexander Potressow und Fjodor Dan.
Die Ideologie der Partei unter Plechanows Führung war marxistisch-sozialistisch - und: demokratisch. Trotz eigener Ungewißheit und Unsicherheit über den rechten Weg hielten die Plechanow-Demokraten an der Ansicht fest, daß die proletarische Revolution auch in Rußland die demokratische Revolution einer Mehrheit sein müsse.
Lenin trat im Jahre 1899 der Partei bei. 1902 veröffentlichte er seine Broschüre »Was tun?«. Sie war der Fehdehandschuh, den ein Mann der Tat einem Haufen von Theoretikern hinwarf. Er verlangte den Verzicht auf »Spontaneität«, was dem Verzicht auf Demokratie gleichkam, und er verlangte die Kaderpartei, die militärisch organisierte
Partei von aktiven Revolutions-Soldaten. Eine innerparteiliche Auseinandersetzung war unvermeidlich geworden.
Sie war es auch noch in einer anderen Hinsicht. Rußland litt seit der Jahrhundertwende an einer schwörenden Wirtschaftskrise. Die Atmosphäre war schwül und alle Welt ahnte den kommenden Gewitterschlag einer Revolution voraus.
Auch die Sozialdemokraten in der schweizerischen Emigration spürten Rußlands Fieber. Zum ersten Male in der Geschichte ihrer Partei sahen sie statt theoretischer Probleme die Praxis auf sich zukommen, die ihnen Entscheidungen und Taten abforderte. Es hieß nun nicht mehr »Was denken?«, sondern, wie Lenin in seinem Broschürentitel treffend gefragt hatte: »Was tun?«.
Sollten sie sich vor der Tat als sozusagen für die nächste Revolution noch nicht Zuständige drücken? Der orthodoxe Marxismus bot reichlich Gründe für das Nichtstun: Rußland war ja noch nicht reif für eine proletarische Revolution. Zunächst einmal mußte nach dem Marxschen Geschichtsschema die bourgeoise Revolution in Rußland stattfinden.
Oder sollten die Sozialdemokraten das Marxsche Textbuch der Geschichte mißachten und - wie Lenin forderte - auf die Bühne Rußlands stürmen, obwohl sie dort noch gar nichts zu suchen hatten, obwohl laut Marx ihr Auftritt erst Im nächsten oder übernächsten Akt der russischen Geschichte an die Reihe kam?
Was die Entscheidung über »Abwarten oder Tat« so schwer machte, war, daß sie - noch ehe Überhaupt die Revolutionsstunde herangekommen war - schon schwere Konsequenzen für die Partei selbst und ihre Ideologie haben mußte. Entschloß man sich für den Fall des Ausbruchs der Revolution, mitzumachen oder gar ihre Führung zu übernehmen, so mußte die Partei schon jetzt, also Jahre vor der im übrigen ja noch ungewissen Revolution, ganz anders organisiert werden als bisher.
Wollte man eine Revolution nur mit halbem Herzen mitmachen, konnte man sich eine lockere Organisation leisten. Innerhalb der Organisation konnten dann die Theoretiker und pathetischen Redner an der Spitze bleiben. Gefragt waren ja dann nicht Taten, sondern Worte, Theorien und Gedanken
War jedoch beabsichtigt, die Revolution zu dirigieren, so mußten Täter die Führung der Partei übernehmen, verschwiegene und disziplinierte Offiziere der Revolution, denn es ging dann darum, törichte und unwissende Massen, die noch sentimentalen Idealen - wie Demokratie, Parlament und Pazifismus - anhingen, entgegen ihrer Einsicht in die Schlacht und zu Zielen zu führen, von denen sie noch gar nichts ahnten.
Um diese Problematik ging es auf dem Brüssel-Londoner Parteitag des Jahres 1903. Aber wie so oft in solchen Situationen war den meisten Teilnehmern die wirkliche Lage der Dinge gar nicht klar. So verbiß man sich auf dem Kongreß in Randfragen, und die Delegierten sprachen oft genug erst nach der Konferenz in Artikeln und Broschüren zur Sache.
Sogar Plechanow begriff wohl erst nach seiner Rückkehr aus London in Genf, was das Projekt einer Kaderpartei eigentlich bedeutete. Auch Trotzki formulierte,seine massive Kritik an den diktatorischen Plänen Lenins erst nach der Konferenz.
Die Konferenz war nach Brüssel anberaumt worden und wurde dort auch eröffnet. Sie tagte, um sich zu tarnen, in immer neuen Schlupfwinkeln. Eines Tages wurden die Delegierten, kaum daß sie mit der Diskussion begonnen hatten, durch ein Heer von Ungeziefer überfallen. Offenbar war der Saal, der gelegentlich auch als Speicher diente, völlig verwanzt. Die Sitzung mußte abgebrochen werden. Kurz danach wies die belgische Polizei einige der verdächtigen Russen aus. Rußlands Revolutionäre flohen vor Belgiens Polizisten und Wanzen nach London.
Das eigentliche Thema des Parteikongresses - von Lenin mit dem Stichwort »Was tun?« bezeichnet - wurde in London nur bei der Debatte eines einzigen Punktes der Tagesordnung direkt angesprochen. Lenin schlug vor, im Statut der Partei festzulegen, daß fortan nur wirklich aktive Marxisten, also Berufsrevolutionäre, in die Partei aufgenommen werden sollten. Mitläufer sollten ausgeschlossen bleiben. Die Partei sollte also nach seinem Willen keine Meinungspartei, sondern ein Aktionskader sein.
Dieser Vorschlag Lenins wurde abgelehnt, und damit war bereits Lenins Versuch, die Sozialdemokratische Partei umzuorganisieren gescheitert.
In lockerer Beziehung zu der Alternative »Kader- oder Meinungspartei«
stand freilich noch ein anderes Thema. Zu den russischen Sozialdemokraten, rechneten sich neben dem (russisch-) jüdischen Arbeiterbund auch Sozialisten aus den nicht russisch sprechenden Ländern des Zarenreiches. Die jüdischen »Bundisten« verlangten nunmehr in London, daß die Sozialdemokratische Partei Rußlands föderativ organisiert.
Lenin lehnte das ab und provozierte die Bundisten schließlich so heftig, daß sie und zwei weitere Delegierte den Kongreß verließen. Nach dieser Sezession erlangten Lenins Anhänger die Mehrheit im Kongreß. Sie nannten sich daraufhin »die Mehrheitler« - russisch: Bolschewiki -, den Rest der Partei bezeichneten sie als »Menschewiki« (Minderheitler).
Zwischen Bolschewiki und Menschewiki - mit dem schwankenden Plechanow in der Mitte ' entspann sich
auf dem Kongreß schließlich ein Streit, der jedenfalls scheinbar um ein ziemlich gleichgültiges organisatorisches Thema ging, nämlich um die Bejetzung der Redaktion der Parteizeitung »Iskra«.
Gleichwohl demonstrierte Lenin gerade an dieser zumindest ideologisch nicht gerade aufregenden Frage einen typischen Zug seiner politischen Taktik. Der wichtigste Punkt seines Programms (die Parteimitgliedschaft auf Berufsrevolutionäre zu beschränken) war abgelehnt worden. Nachdem die Bolschewiken aber infolge des Auszug der Bundisten die Kongreßmehrheit erlangt hatten, sah Lenin eine Gelegenheit, die finanziell und organisatorisch wichtigste Position des Parteiapparats in die Hand zu bekommen: eben die »Iskra«-Redaktion, um von dort her innerhalb der
Partei einen eigenen Apparat von Berufsrevolutionären aufzubauen,
Er schlug vor, die »Iskra«-Redaktion auf drei Personen zu beschränken, nämlich auf Plechanow, auf den Führer der Menschewisten, Martow - Zederbaum, und auf ihn, Lenin, selbst.
Die Taktik Lenins entspricht dem-Versuch Chruschtschows, das Generalsekretariat der Uno anstelle des einen Generalsekretärs mit drei Personen besetzen zu lassen: einem Vertreter des Westens, einem des Ostens und einem Neutralen.
Der Vorschlag Lenins war gut überlegt. Er sah fair aus und war es in Wirklichkeit keineswegs.
Lenin konnte darauf hinweisen, daß nach seinem Vorschlag in der Redaktion Bolschewiki und Menschewiki zu gleichen Teilen vertreten sein würden und daß Plechanow dabei eine Mittelposition einnähme. Tatsächlich aber
dürfte Lenins Rechnung etwa so ausgesehen haben: Plechanow liebte regelmäßige Büroarbeit keineswegs. Eis war unschwer vorauszusehen, daß er mühselige Detailfragen der Organisation gern einem anderen - überlassen werde. Überdies hatte Lenin in London die Erfahrung gemacht, daß es ihm verhältnismäßig leicht fiel, Plechanow zu beeinflussen. Die Chancen also, den Menschewisten Martow innerhalb der »Iskra«-Redaktion beiseite zu drängen, waren bei der vorgeschlagenen Dreier-Konstruktion denkbar günstig. Damit hätte Lenin die Schlüsselposition der Partei fest in der Hand gehabt.
Die Kongreßmehrheit nahm Lenins Vorschlag an, aber auch in diesem Punkt des Konferenzprogramms fiel die eigentliche Entscheidung erst nachher: Martow hatte sich schon während der
Konferenz geweigert, der Dreier-Redaktion beizutreten. Nach der Konferenz aber erklärte auch der nach Genf zurückgekehrte Plechanow, daß er die von Lenin vorgeschlagene und vom Kongreß genehmigte Konstruktion nicht mehr gutheiße.
Daraufhin trat Lenin seinerseits von der »Iskra«-Redaktion zurück - und damit war der Bruch zwischen dem bolschewistischen und dem menschewistischen Flügel der Sozialdemokraten vollzogen. Formal blieben sie zwar noch lange Fraktionen einer Partei, faktisch aber entfernten sie sich immer mehr voneinander.
Zum Schluß hatte sich die Londoner Konferenz auf eine rein organisatorische Frage zugespitzt, die Frage der »Iskra«-Redaktion. In Wirklichkeit jedoch war es immer nur um ein Problem gegangen, nämlich darum, ob die russische marxistische Partei demokratisch sein sollte oder eine autoritäre Kaderpartei, geführt von einem wissenschaftlich geschulten, diktatorischen Hirn.
Ein Kompromiß zwischen Lenin und den Menschewiken war, das hatte die Konferenz gezeigt, nicht mehr möglich. Nach London entschloß sich Lenin, allein den Weg zu gehen, den er für den richtigen hielt, den des kalten Verstandes, der - weil es immer nur eine Wahrheit geben kann - autoritativ entscheidet.
Nächste Woche:
Revolution von 1905 und Vorgeschichte: Wirtschaftskrise, Russisch-Japanischer Krieg, Rolle und Taktik der zaristischen Geheimpolizei.
* Über die Liebesaffäre Lenins mit Elisabeth K. wurde erstmalig im Jahre 1938 In einer Pariser russischen Emigrantenzeitung berichtet. Der amerikanische Lenin-Biograph David Shub hat den Bericht dann nachgeprüft, für glaubhaft befunden und in seine Lenin-Biographie (deutsch 1952 im Limes Verlag, Wiesbaden, erschienen) übernommen.
Lenin (1905) Revolution für Dummköpfe und Kleinbürger
Lenin als Neunjähriger (vorn rechts)**: Der Musterknabe von Simbirsk ...
Lenin als Fünfzehnjähriger
... wurde deutsch erzogen
Lenin-Gegner Trotzki (als 25jähriger)
Protest gegen die Diktatur ...
Sozialdemokrat Plechanow
... über das Proletariat
Märtyrerin Rosa Luxemburg 1910 (r.)*: Lenins Regime - eine Cliquenwirtschaft
Emigrant Lenin mit Frau: Manchmal getrennt
Russische Arbeiter: Die Masse denkt nachts
Lenin-Gegner Axelrod, Martow, Freund (1917): Der dritte Mann war faul
** Lenins Eltern und Geschwister 1879, in der Mitte der 13jährige Alexander (1887 als Verschwörer gegen den Zaren hingerichtet).
* Links: Clara Zetkin, später Kommunistin und Alterspräsidentin des Deutschen Reichstags.