Swaran Singh »Warum haben die Chinesen Angst?«
SPIEGEL: Herr Minister, in Schanghai hat Präsident Nixon erklärt, seine Woche in China habe die Welt verändert. Sieht die indische Regierung das auch so?
SWARAN SINGH: Wenn die amerikanisch-chinesischen Gespräche zu einer Verminderung der Spannungen in diesem Teil der Welt und zu einer Verbesserung der Beziehungen zwischen zwei Großmächten, nämlich den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China, führen, dann wäre das eine positive Entwicklung -- ob das nun die ganze Welt verändert oder nicht.
SPIEGEL: Sehen Sie in den« Kommunique von Schanghai für Indien negative Punkte?
SWARAN SINGH: Wenn die USA und China danach trachten sollten, Einflußsphären abzustecken und nach dem Prinzip der Balance of Power zu arbeiten, dann ist das, auf lange Sicht, möglicherweise keine positive Entwicklung.
SPIEGEL: Indische Zeitungen äußerten die Vermutung, die beiden Mächte hätten sich auf eine Art Kondominium in diesem Teil der Welt geeinigt.
SWARAN SINGH: Das glaube ich nicht.
SPIEGEL: Aber Ihre Ministerpräsidentin Indira Gandhi hat jetzt erklärt, Ihr Land werde jedem Versuch der beiden Mächte Widerstand leisten, Indien ein Arrangement aufzuzwingen.
SWARAN SINGH: Natürlich würden wir grundsätzlich Widerstand leisten, wenn irgend jemand versuchte, uns irgend etwas aufzuzwingen. Wir wollen unsere Angelegenheiten selbst regeln, und wir gehen davon aus, ·daß kein Land -- bestimmt nicht die USA oder China -- annimmt, es könnte Indien etwas aufzwingen.
SPIEGEL: Durch den Vertrag mit der Sowjet-Union und den Sieg über Pakistan ist Indien in Südasien der wichtigste politische und militärische Faktor geworden. Dennoch zeigt sich Ihre Ministerpräsidentin über Flottenbewegungen im Indischen Ozean besorgt. Wie können diese Schiffe für Indien gefährlich sein?
SWARAN SINGH: Indien hat in diesem Teil der Welt seit je eine gewisse Bedeutung gehabt -- wegen seiner Größe, seiner demokratischen Verfassung und seiner Haltung zum Weltfrieden. Und ich glaube nicht, daß sich das als Folge des 14-Tage-Krieges mit Pakistan grundsätzlich geändert hit. Wenn wir sagen, das Herumkreuzen fremder Flotten beunruhige Indien, dann sprechen wir damit aus, was die meisten Anrainer-Staaten des Indischen Ozeans fühlen, die mi Vorhandensein ausländischer Flotten in nennenswerter Stärke einen Spannungsherd und damit eine Quelle der Furcht für alle Länder sehen.
SPIEGEL: Peking sieht im Vertrag der Sowjet-Union mit Indien einen Versuch, China einzukreisen. Halten Sie die chinesischen Befürchtungen für gerechtfertigt?
SWARAN SINGH: Der indischsowjetische Vertrag ist gegen keine andere Macht gerichtet. Wir halten nichts von dem Konzept, China einzukreisen, und wer immer eine solche Idee hat, wird in uns dafür niemals einen Partner finden. Unser Vertrag mit der Sowjet-Union stellt lediglich die Beziehungen zwischen unseren Ländern, wie eie im wesentlichen vor der Vertragsunterzeichnung bestanden, auf eine juristische Basis. Vergleicht man diesen Vertrag mit anderen Verteidigungspakten, wird der Unterschied deutlich, Ich sehe nicht, warum die Chinesen, die doch Realisten sind, irgendwelche Ängste wegen dieses Vertrages haben könnten.
SPIEGEL: Ist nicht Indiens natürlicher Partner eher China eis die Sowjet-Union, die nicht nur eine asiatische, sondern vor allem auch eine europäische Macht ist?
SWARAN SINGH: Natürlicher Partner? Bei Allianzen halten wir nichts von Gruppierungen nach geopolitischen Erwägungen. Jedem Staat geht es in erster Linie um seine Souveränität und Integrität. Die Zusammenarbeit zwischen Staaten sollte sich daher vor allem auf Wirtschaftlichem und technischem Gebiet niederschlagen und weniger in der Bildung von Verteidigungspakten oder ähnlichen Absprachen.
SPIEGEL: Die Chinesen stellen in dem Kommuniqué von Schanghai fest, daß sie das Selbstbestimmungsrecht in Kaschmir unterstützen. Steckt dahinter irgendeine finstere Absicht?
SWARAN SINGH: Die Chinesen sagen dasselbe, was sie nun schon seit einigen Jahren über Kaschmir sagen. Die Erwähnung Kaschmirs deutet nicht auf eine Änderung der uns bekannten Äußerungen hin.
SPIEGEL: Aber die Amerikaner haben ihren Standpunkt zum Kaschmir-Problem nicht wiederholt. War das ein Entgegenkommen gegenüber Indien? Liegt darin ein Versuch der USA. die Beziehungen zu Indien zu verbessern?
SWARAN SINGH: Wir möchten normale Beziehungen mit den USA unterhalten. Aber wir halten uns nicht an Erklärungen, wir beurteilen die Länder nach ihren Handlungen.
SPIEGEL: Könnte das Vakuum, das der amerikanische Rückzug aus Asien schafft, durch eine allasiatische Solidarität ausgefüllt werden, entsteht ein neues, spezifisch asiatisches Selbstbewußtsein?
SWARAN SINGH: Der Vakuum-Theorie sind wir niemals gefolgt. Der Abzug einer fremden Macht -- ob sie nun politisch oder militärisch präsent war -- befreit lediglich die unterdrückten Kräfte jener Länder, au"s denen sie abzieht, und erlaubt ihnen endlich, gemäß ihren Fähigkeiten und ihren Wünschen eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Die Präsenz amerikanischer Streitkräfte hat nicht unbedingt zu einer Teilung der Länder Asiens geführt. Deshalb wird das Verschwinden der Amerikaner auch nicht zu einer Vereinigung führen. Jedes Land wünscht seinen eigenen Charakter, seine eigene Wirtschaft, Kultur, seine eigenen politischen Vorstellungen zu entwickeln.