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»Was die da machen, weiß keiner genau«

Deutsch-deutsche Gemeinsamkeit: Auch die DDR lagert ihren Atommüll in Grenznähe »Gefährdung größerer Personengruppen« durch freigesetzte Radioaktivität - dieses Risiko bescheinigt eine DDR-Studie Atommüll-Lagerstätten, wie sie der SED-Staat in einem Salzbergwerk in der Nähe der niedersächsischen Grenzstadt Helmstedt unterhält. Obwohl die Regierungen in Bonn und Hannover die Gefahren kennen, haben sie bislang auf Proteste verzichtet. Sie wollen ihre eigenen Pläne nicht gefährden, in einem Salzstock bei Gorleben, ebenfalls an der deutsch-deutschen Grenze, strahlende Atomabfälle einzulagern. *
aus DER SPIEGEL 32/1987

Lothar Wien, Stadtdirektor in der niedersächsischen Grenzstadt Helmstedt, fürchtet sich vor einer unsichtbaren Gefahr aus dem Osten: Was »die da drüben machen«, sagt der Kommunalbeamte, wisse doch »kein Mensch so ganz genau«.

Der Grund für Wiens Sorge liegt 400 Meter tief in der Erde, gerade mal ein paar hundert Meter entfernt drüben in der DDR. Dort, nahe am Dorf Morsleben, lagert der SED-Staat im ehemaligen Salzbergwerk »Schacht Bartensleben« seinen Atommüll ein.

Erst auf »internationalen Umwegen«, empört sich der Verwaltungschef, habe Helmstedt von der nahen Entsorgungsstätte erfahren, und das auch noch viel zu spät: Da hatte die DDR schon Tausende von 200-Liter-Fässern mit radioaktivem Inhalt in die Kavernen verbracht.

Das Atommüll-Lager zählt, so scheint es, zu den geheimsten Einrichtungen der DDR. Bonner Fachbeamte baten die DDR erfolglos um präzise Daten über die Anlage. Kein West-Physiker oder Bergingenieur durfte bislang die Grube von innen sehen. Die DDR, sagt ein Strahlenschutzexperte im Bonner Umweltministerium, zeige sich »ziemlich zugeknöpft«. »Die genieren sich wohl«, niedersächsischen Landesregierung, die gleichfalls nicht genau einschätzen kann, wie hoch das Risiko für den Westen ist.

Gleichwohl reagierte die CDU-Regierung in Hannover, die bei Gorleben, ebenfalls nahe der deutsch-deutschen Grenze tief unten in einem Salzstock, gegen Widerstände das erste westdeutsche Atommüll-Endlager herrichten will, auf die Ost-Berliner Informationspolitik nur verhalten: Einerseits möchte das hannoversche Kabinett die Strahlenangst der Bürger nicht noch schüren und mögliche Risiken herunterspielen; andererseits ließ die Landesregierung vorsichtshalber bei Helmstedt Untersuchungen vornehmen, deren Ergebnisse geeignet sind, Sorgen noch zu verstärken.

So fand das niedersächsische Landesamt für Bodenforschung bei Tiefbohrungen heraus, daß Grundwasser aus der Umgebung der Grube genau auf Helmstedts wichtigsten Trinkwasserbrunnen »Clarabad« zufließt. Bei einer nuklearen Verseuchung, urteilten die Geologen zurückhaltend, sei eine Gefahr für Helmstedts Wasser »nicht ausgeschlossen«.

Brunnenvergiftung ist nicht das einzige Risiko für den Westen: Der alte Schacht Bartensleben liegt im Urstromtal der Aller, die nördlich von Helmstedt die Grenze passiert. Havariert die Salzgrube, könnte der kleine Fluß schnell zu einem Atomstrom werden.

Solange westliche Wissenschaftler weder exakte Daten über das atomare Endlager erhalten noch die Anlage in Augenschein genommen haben, können sie Gefahren nur anhand von Artikeln in Fachzeitschriften und von Vorträgen abschätzen, die auf internationalen Symposien gehalten wurden. Soviel, immerhin, _(Reproduktion aus einer Publikation der ) _(Internationalen ) _(Atomenergie-Organisation. )

hat die DDR bisher offenbart: Nach Voruntersuchungen« in den sechziger Jahren, so die DDR-Wissenschaftler Dieter Richter und Klaus Ebel vor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), habe der ostdeutsche Staat 1972 begonnen, im ehemaligen Salzbergwerk Bartensleben schwach- und mittelaktiven Nuklearabfall zu deponieren. Zunächst sei in drei Kavernen, mehr als 400 Meter unter dem Erdboden, Müll eingelagert worden.

Unterirdische Kammern, hundert Meter lang und dreißig Meter breit wie hoch, bilden dort nach Angaben der Wissenschaftler unter einem bis zu 300 Meter starken Deckgebirge einen Hohlraum von fünf Millionen Kubikmetern. Sechs Jahre habe der Ausbau der Grube zur Atomanlage gedauert. Sichtbares äußeres Zeichen: oberirdische Lagerhallen und ein weiß verkleideter Förderturm, der von der DDR-Autobahn aus, nördlich des Grenzkontrollpunktes Marienborn, gut zu erkennen ist.

An diesen Ort der »zentralen Erfassung und Endlagerung radioaktiver Abfälle« (DDR-Gesetzblatt) wird der schwach und mittelstark verseuchte Müll aus den Atomreaktoren bei Greifswald, Rheinsberg, Dresden und Zittau verbracht. Die abgebrannten Brennelemente, rund 1,5 Tonnen pro Jahr, gehen nach Auskunft von Staatssekretär Georg Sitzlack, Chef des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS), dahin, wo sie auch herkommen: in die Sowjet-Union.

Der minder strahlende Müll, etwa Werkzeuge, Rohre, Filterstoffe und Öle, wird zunächst am Kraftwerk zwischengelagert. Dann werden die Gebinde für Bartensleben per Bahn und in Containern nach Morsleben transportiert. Hier gelangen sie, zusammen mit strahlendem Müll aus Medizin und Landwirtschaft, Industrie und Forschung, in die Grube.

Eingelagert wird der Müll, je nach Kontaminationsgrad lose oder verfestigt, in einfachen Tonnen oder in Containern. Über die bisher eingefahrene Giftmenge schweigt die DDR sich aus. DDR-Wissenschaftler wie Sitzlack, Ebel und Richter beteuern, Verpackung und Lagerung vollzögen sich nach international anerkannten Vorschriften.

Mag sein. Doch für West-Wissenschaftler ist solch ein Urteil, weil nicht nachprüfbar, allenfalls Glaubenssache. Denn sogar Untersuchungen aus der DDR nähren den Verdacht, daß Bartensleben als Endstation für langlebige Giftstoffe ungeeignet ist.

Eine »Variantenuntersuchung« vom DDR-»Institut für Kraftwerke«, das verschiedene Möglichkeiten zur Endlagerung radioaktiven Mülls erwog, steckte 1972 den ökonomischen Rahmen ab: Abfallbeseitigung sei »unproduktive« Arbeit. Ziel sei daher, »mit geringstem gesellschaftlichem Aufwand« auszukommen, um den »Sicherheitsbedürfnissen der Gesellschaft« zu genügen. Sparsamkeit auch bei der Sicherheit?

Zwar nicht als beste, aber als zweitbilligste Lösung stellte Richter der IAEO 1976 die zentrale Endlagerung von Nuklearschrott in einer ausgedienten Salzmine vor. Billiger sei nur noch das Deponieren der Abfälle in Betongräben direkt beim Atomkraftwerk - eine Variante, die von der DDR wegen zu großer Gefahren aufgegeben worden sei.

In einer internen Anordnung »288« des »Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz« von 1982 wird folgerichtig das »komplexe System« der Atommüll-Lagerung gerühmt, es entspreche »den Bedürfnissen der Volkswirtschaft der DDR«. Billiger ging''s nicht.

Skepsis am Endlager im Salz läßt auch eine andere DDR-Arbeit aufkommen: Beim »Deutschen Brennstoffinstitut« der DDR in Freiberg wurde 1972 im Auftrag des SAAS eine Studie »zur Havariesituation bei der Lagerung radioaktiver Abfälle in einem Steinsalzbergwerk« erarbeitet. Die Analyse enthält einen ganzen Katalog möglicher Unfälle, bis hin zu jenem Abfall-Gau, vor dem sich Helmstedt fürchtet: *___"Nicht beherrschbare« Wassermengen füllen die Grube ____vollständig, sie säuft ab, das Wasser wird radioaktiv ____kontaminiert; *___"Salzfesten« lösen sich auf, Grubenteile brechen ____zusammen; *___vergiftetes Wasser tritt aus der Grube und fließt in ____Grund- und Oberflächenwässer; *___"Gefährdung größerer Personengruppen« durch ____freigesetzte Radioaktivität.

Nach diesen Unfall-Szenarien aber kommt die Studie zu einem überraschenden Schluß: Die Lagerung im Salz sei »im allgemeinen als sicheres Verfahren anzusehen«. Begründung: Selbst ein Gau hätte keine gar so schlimmen Folgen. Radioaktiv verseuchte Grubenwasserströme könnten sich »mit Grund- und Oberflächenwässern« verdünnen, durchflossene Gesteinsschichten« würden die Radioaktivität schon filtern.

Daß ein ehemaliges Salzbergwerk absäuft, ist durchaus kein Sonderfall. Allein 38 Schächte, die sich nach ihrer Stillegung mit Wasser füllten, zählte der DDR-Geologe Werner Grimm in seinem Standardwerk über den »Kali- und Salzbergbau« in den Jahren bis 1968 - Bedrohung auch für Bartensleben?

Sicher ist: In den »Schacht Alleringersleben«, nur drei Kilometer von Morsleben entfernt, drang schon 1914 Wasser ein. 1962, so eine Ost-Studie über »Kali- und Steinsalzlagerstätten in der DDR«, stand das Wasser bereits 27 Meter unter dem Schachtrand. Nach demselben Bericht säuft die benachbarte »Schachtanlage Marie«, nur 1,6 Kilometer vom Schacht Bartensleben entfernt, durch »Zuflüsse aus der Schachtröhre« gleichfalls ab. Die Sohle in 500 Metern Tiefe steht bereits unter Wasser.

Das ist prekär: Bartensleben und Marie sind in etwa 460 Metern »durchschlägig« - die Gruben sind unterirdisch miteinander verbunden und nur durch ein stählernes »Dammtor« voneinander getrennt. DDR-Bergwissenschaftler Grimm in seinem Standardwerk über _(Bundesinnenminister Friedrich ) _(Zimmermann, bei einem Gespräch über ) _(Reaktorsicherheit im Mai 1986. )

Dammtore: Die Schotten bieten keine Gewähr für Dichtigkeit.

All diese Fakten sind der Bundesregierung bekannt, dennoch hat das Kabinett Kohl noch kein einziges Mal in Ost-Berlin gegen die Atommüll-Klitsche an der Grenze protestiert.

Insgesamt dreimal sind bisher Fachbeamte aus West und Ost zu »Expertengesprächen« über »Reaktorsicherheit und Notfallschutzplanung« zusammengetroffen, zuletzt unmittelbar nach Tschernobyl im Mai 1986. Bei der ersten Begegnung, 1983 in Bonn, trugen West-Beamte behutsam Bedenken vor, DDR-Atombehördenchef Sitzlack aber wiegelte laut Protokoll des Innenministeriums ab: »Keine Gefährdung für die Trinkwasserversorgung in Helmstedt.«

Sitzlack, der die westdeutschen Entsorgungsnöte kennt, machte seinen Gesprächspartnern zugleich ein verlockendes Angebot: Die DDR könne, heißt es im Protokoll, »sogar für andere Staaten, falls diese vorübergehend Engpässe hätten, auf kommerzieller Basis« Atommüll einlagern. Das könnte Bonn so passen: die DDR als gesamtdeutsche Atommüll-Kippe.

Neue DDR-Planungen für Bartensleben könnten Bonn zusätzliche Perspektiven eröffnen: Schon 1972 sah Ost-Berlin »die zentrale Endbeseitigung der Abfälle aller Kategorien in einer ehemaligen Steinsalzgrube« vor, mithin auch der hochaktiven Atomabfälle. Vier Jahre später trugen DDR-Wissenschaftler der IAEO in Wien vor, »falls nötig« könnten in Morsleben neue Kammern »für hochaktiven Abfall« erschlossen werden. Und noch 1983 hielt Atombehördenchef Sitzlack für Bartensleben die Option für den gefährlichsten aller Abfälle offen.

Helmstedts Verwaltungschef Wien sorgt unterdessen für den Ernstfall vor: Er läßt eine Noteinrichtung bauen.

Wenn das kommunale Grundwasser eines Tages radioaktiv verstrahlt sein sollte, bekommen die Helmstedter Wasser aus dem Harz. Kosten der neuen Wasserleitung: 26 Millionen Mark.

[Grafiktext]

Kartenausschnitt Schachtanlage »Marie« Trinkwasserbrunnen »Clarabad« Atommüll-Deponie Bartensleben Grenzübergang

[GrafiktextEnde]

Reproduktion aus einer Publikation der InternationalenAtomenergie-Organisation.Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, bei einem Gespräch überReaktorsicherheit im Mai 1986.

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