INTERNET »Was du machst, ist ganz egal«
In keiner Fernseh-Krawallshow hätte »Voll Assi Toni« eine Chance. Dort gäbe es Produktionsmitarbeiter, die ihn bäten, ein T-Shirt über den spärlich tätowierten Oberkörper zu streifen, einen Moderator, der bei seiner »Wahrheit über Frauen« zumindest die Stirn runzelte, und eine Sendetechnik, die dem selbsternannten »Motherfucker« notfalls nach 30 Sekunden das Mikro abdrehen könnte.
Auf der Internet-Plattform MyVideo dagegen landet »Voll Assi Toni« mit seinem knapp zehnminütigen Geschwätz unter den meistgesehenen Videos, zusammen mit Teenager-Tanzvorführungen von »Lynne und Tessa« und »FunnyBoys« Beitrag »Mega-Busen durch Kaugummi«.
Man kann die knapp 85 000 meist selbstgedrehten Video-Clips, die derzeit auf der Internet-Plattform MyVideo eingestellt sind, als neue Ausdrucksform im demokratisierten Internet feiern oder als niedlich-niedere Ergüsse netzaffiner Selbstdarsteller belächeln; Guillaume de Posch, Vorstandsvorsitzender der ProSiebenSat.1 Media AG, nennt MyVideo »eine der interessantesten Websites, die es derzeit im Internet gibt«.
Seit Anfang September ist die Sendergruppe an der größten deutschen Video-Community beteiligt, sie erwarb 30 Prozent - und die Option, das Unternehmen später vollständig zu übernehmen.
Denn auch ProSiebenSat.1 will dabei sein beim Hype um das Web 2.0: Das Mitmach-Internet verwandelt passive Nutzer in aktive Mediengestalter, die mittels Breitbandanschluss und digitaler Video- und Handy-Kameras eigene Inhalte mühelos auf Community-Seiten im Netz laden, tauschen und kommentieren, statt sich von etablierten Medien beschallen und belehren zu lassen.
Seit die Teenie-Plattform MySpace und die Video-Börse YouTube in den USA innerhalb weniger Monate zu millionenfach genutzten Überraschungserfolgen aufstieg und Medienzar Rupert Murdoch für MySpace einen Kaufpreis von rund 580 Millionen Dollar zahlte, gilt das Internet und seine neue agile Mitmachgemeinde auch hierzulande Gründern und Investoren wieder als Goldgrube - und etablierten Medienhäusern als Quelle von Schrecken und Inspiration. »Wir erleben eine neue Gründerwelle im Internet«, sagt Oliver Samwer, der mit seinen Brüdern die Klingeltonfirma Jamba großzog und nun als Kapitalgeber von MyVideo und diversen anderen 2.0-Start-ups auftritt. »Community-Netzwerke« und »user generated content«, also von Nutzern hergestellte Inhalte, die sich im Internet in Weblogs und Video-Börsen massenhaft verbreiten, werden nicht nur nach seiner Meinung »die Medienwelt nachhaltig verändern«.
Daran scheinen derzeit auch die Sender und Verlage zu glauben: Neben ProSiebenSat.1 startete auch RTL im Juni mit Clipfish eine Video-Community im Internet, »Bild« zeigt Handy-Schnappschüsse und Promi-Abschüsse von »Leser-Reportern«, die »Saarbrücker Zeitung« druckt Fotos, die ihre Leser von Unfällen und Bränden aufgenommen haben, und der »Stern« gründete gerade mit augenzeuge.de eine Online-Plattform für Amateurfotografen und will die interessantesten eingereichten Fotos künftig veröffentlichen.
Web-2.0-Advokaten berufen sich in ihrer neuen Internet-Euphorie gern auf das »veränderte Mediennutzungsverhalten« der jüngeren Generation, die heute angeblich lieber klickt statt zappt oder liest. »Unsere User sind eher im Internet aktiv, als sich vom Fernsehen berieseln zu lassen«, sagt Christian Vollmann, der MyVideo mitaufgebaut hat. Tatsächlich surfen die 14- bis 49jährigen Deutschen mittlerweile 72 Minuten pro Tag im Internet. DSL-Nutzer sind sogar 118 Minuten täglich online. Von den Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren geben 70 Prozent an, täglich oder mehrmals pro Woche online zu sein, weitere 18 Prozent nutzen das Internet etwa einmal die Woche.
Die etablierten Medien zeigen sich beeindruckt. Auf dem Zeitungskongress wollen die deutschen Zeitungsverleger diese Woche »auf allen Kanälen« »neue digitale Herausforderungen annehmen«, »crossmediale Möglichkeiten ausspielen«, und der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger bereitet sich darauf vor, Anfang November unter dem Schlagwort »Zeitschriften 2.0« über Themen wie »Video, Internet-TV und Mobile Content« bei ihren Online-Auftritten zu diskutieren.
Bernd Kundrun, Chef des Hamburger Verlagshauses Gruner + Jahr, hat seinen Managern und Chefredakteuren bereits die Losung »Expand your brand« vorgegeben. Die Macher von Zeitschriften wie »Geo«, »Stern« und »Brigitte« sollen die Präsenz ihrer Marken im Internet ausbauen und dort nach neuen Geschäftsfeldern und Interaktionsmöglichkeiten mit Lesern und Usern Ausschau halten. Dazu hat Kundrun den ehemaligen Yahoo-Deutschland-Chef Franz Dillitzer zum Geschäftsführer der neugeschaffenen G + J New Media Ventures GmbH bestellt.
Dillitzer soll den Weg ins Web 2.0 weisen: Er denkt in »average revenue per user« statt in Auflagenzahlen, die Journalisten des Hauses sollen künftig nicht nur für Zeitschriften, Online-Redaktionen und deren Weblogs produzieren, sondern auch Leser-Foren und -Blogs moderieren.
Bei jüngeren Titeln bemühen sich die Zeitschriftenmacher bereits eifrig um Nähe zum Online-Volk. Auf der Website des »Stern«-Ablegers »Neon« diskutiert die Fangemeinde über »Selbsthilfe gegen Sonntagabende« oder den »Freund als Statussymbol«, und die Redakteure stöbern bei der Themensuche fürs Heft in diesen Forumsbeiträgen. Der Mädchentitel »Bym«, der einmal »Brigitte Young Miss« ablöste, hat sich derweil bereits völlig virtualisiert: Seit die Zeitschrift im Juni mangels Erfolg am Kiosk eingestellt wurde, überlebt die Marke »Bym« mit rund 17 500 registrierten Nutzern im Internet.
Den Fernsehmachern gibt das Web 2.0 vor allem wegen der jüngsten Begeisterung für Video-Clips im Internet zu denken. Das größte Portal YouTube, das Anfang 2005 im kalifornischen Silicon Valley startete, zählt mittlerweile 20 Millionen Nutzer pro Monat, 65 000 neue Videos kommen täglich dazu.
Der Zuschauer, der nicht mehr nur in den Werbepausen wegzappt, sondern sich seine Pleiten-Pech-und-Pannen-Show im Internet zusammenstellt, avanciert damit zum neusten Alptraumgeschöpf der TV-Verantwortlichen. Um den Anschluss an ihre Lieblingszielgruppe nicht völlig zu verpassen, folgen ihr die Sender ins Internet. »Wir haben Clipfish.de gestartet, weil wir an die Zugkraft von Video-Communities glauben«, bekennt Sushel Bijganath, Geschäftsführer von RTL online.
Marcus Englert, als ProSiebenSat.1-Vorstand verantwortlich für die neuen digitalen Geschäftsfelder des Konzerns, will bei MyVideo den jungen Surfern demnächst inmitten des Anarcho-Amateurprogramms auch Trailer von ProSieben- und Sat.1-Shows unterjubeln.
Die Gründer der New New Economy sagen derweil bereits das Ende des Massenmediums Fernsehen voraus. »Die Sender können einpacken«, verkündet Ehssan Dariani und verweist auf die über 500 000 Studenten, die sich auf seiner Internet-Plattform StudiVZ zur angeblich größten deutschen Studenten-Community zusammengefunden haben: »Früher haben die beim Essen rumgezappt, heute klicken sie sich lieber durch die Profile in der Community.«
Bei StudiVZ tauschen die Mitglieder Neuigkeiten aus dem Freiburger Nachtleben genauso
wie Fotos aus dem letzten Urlaub und Meinungen über ein »bedingungsloses Grundeinkommen«. In über 50 000 Diskussionsgruppen tummeln sich die Studenten mittlerweile und heizen bei den Junggründern Dariani, Michael Brehm und Dennis Bemmann die Start-up-Gefühle an. Der 26-jährige Dariani gibt sich geschäftig und verweist stolz auf die Luftmatratze, die im schicken Berliner Hinterhofbüro zwischen Ikea-Möbeln und Praktikantenarbeitsplätzen an der Wand lehnt: »Wir arbeiten hier manchmal die Nächte durch.« Bis Semesteranfang will er die Eine-Million-Nutzer-Grenze überschritten haben. »Dann sind wir für Werbekunden attraktiver als RTL«, sagt er.
Neben dem Vertrauen auf eine Nutzerschaft, die sich ihre Inhalte selbst schafft, eint die Web-2.0-Entrepreneure der Glaube an eine Werbewelt der Zukunft, in der Markenartikler in den Internet-Communities maßgeschneiderte Zielgruppen für ihre Produkte vorfinden. Statt »nerviger Popup-Fenster« kann sich Dariani etwa vorstellen, dass seine Nutzer demnächst nicht mehr nur von ihren eigenen Urlaubsreisen berichten, sondern sich auch in einer Ibiza-Diskussionsgruppe herumtreiben, die von einem Reiseveranstalter gesponsert wird.
Angesichts boomender Online-Werbeumsätze träumt auch ProSiebenSat.1-Vorstand Englert von »Kontextvermarktung« auf MyVideo. Am liebsten sähe Englert es wohl, wenn demnächst Mercedes-Benz eigens für das Internet produzierte Werbeclips in der »Autos & Verkehr«-Rubrik von MyVideo schalten würde - dort, wo heute etwa bei »Motorrad-Potenz« ein blondes Bikini-Girl neben einem rotgelackten Zweirad strippt. Englert vertraut derweil auf die »Selbstreinigungskräfte« des neuen Mediums, also darauf, dass Nutzer anstößige Inhalte melden, die dann geprüft und gelöscht werden können. Zur Not wolle er selbst meckern, allerdings »ohne das anarchische Element kaputt« zu machen: »'Ich sing im Bad', muss bleiben«, so Englert, und »Erotik ist in jedem Fall Teil des Geschäfts«.
»Mit fragwürdigen Inhalten wollen Werbekunden nicht assoziiert werden, deswegen zögern sie, mit ihren Marken in Internet-Communities einzusteigen«, warnt Benjamin Lehmann, Analyst beim Londoner Marktforscher Jupiter Research. Er sieht daher in den Video-Communities bislang noch kein Geschäftsmodell, das sich bewiesen hätte.
Auch das amerikanische Vorbild YouTube soll bislang nicht profitabel sein. Derzeit schlägt sich die Firma mit Klagen herum, weil Besucher der Seite statt selbstgedrehter Kurzfilme geklaute Ausschnitte aus Filmen wie »Saturday Night Fever« einstellten. Trotzdem wird YouTube als Börsen- oder Übernahmekandidat gehandelt - die Mediengiganten Viacom, Disney, AOL, Ebay und Rupert Murdochs News Corp. sollen Interesse angemeldet haben.
»Das Web 2.0 ist die nächste Blase«, sagt Lars Hinrichs - und geht trotzdem davon aus, dass er selbst mit seiner Firma deren Platzen überlebt. Der 29-Jährige nennt sich selbst ein »gebranntes Kind der New Economy«. Mit einem Beratungsunternehmen für neue Medien ging er 2001 insolvent, heute zählt er zu den Gründern 2.0. Statt auf »user generated content« und Werbekunden setzt Hinrichs auf Mitgliedergebühren. 5,95 Euro pro Monat zahlen Premium-Mitglieder, die auf openBC Geschäftskontakte suchen. Architekten suchen hier nach Auftraggebern, Werber nach »kreativen Ideen« und allerhand Fußvolk nach neuen namhafteren Kontakten, die das Prestige des eigenen Profils weiter aufhübschen.
Wie viele der 1,5 Millionen angemeldeten Nutzer den Premium-Obolus entrichten, hält Hinrichs geheim, profitabel sei sein Geschäft allerdings bereits wenige Monate nach der Gründung 2003 gewesen. Mittlerweile ist openBC auch in China präsent, Hinrichs rechnet für dieses Jahr mit zehn Millionen Euro Umsatz. In einem nächsten Schritt will der Gründer Kleinanzeigen ins Portal aufnehmen, neben den puren Kontaktdaten sollen die Mitglieder auch Dienstleistungen und Jobs austauschen können. Auf Unterhaltenderes will Hinrichs verzichten: »Nutzen und Seriosität gehen vor.« Und weil er erkannt hat, dass gerade die vielgepriesene Offenheit des Web 2.0 geschäftsschädigend wirken kann, will er Exklusivität nun auch in der Namensgebung wirken lassen: Weil »open« oft mit »offen« oder »unsicher« gleichgesetzt werde, bereitet Hinrichs derweil in aller Verschwiegenheit die Umbenennung seiner Plattform vor.
Die Fernsehmacher gehen derweil im Mitmach-Internet bereits auf Suche nach Billiginhalten für ihr TV-Programm. Die RTL-Tochter Clipfish ruft zurzeit zusammen mit der Produktionsfirma Sony Pictures Amateur-Clip-Produzenten dazu auf, sich mit selbstgedrehten Videos für eine TV-Show zu bewerben, die komplett aus »user generated content« bestehen soll. »Was du machst, ist ganz egal - Hauptsache, wir dürfen nachher behaupten, dass wir dich entdeckt haben ...«, lautet der Aufruf in der Kategorie »Quickies«.
Der TV-Produzent Friedrich Küppersbusch sagt »lustvolles Scheitern« voraus. Auf dem Abo-Sender Premiere durfte er während der diesjährigen WM bereits Erfahrung im »User Generated«-Genre sammeln. Für das Zwei-Minuten Format »meine WM« sammelte er selbstgedrehte WM-Aufnahmen und bekam »meine Frau im Trikot, meinen Sohn im Trikot, meinen Hund im Trikot«. Die Zielgruppe, die interagieren will, sei klein und speziell, vermutet Küppersbusch, »die Massen folgen weiter dem Neandertaler in uns, der nach getaner Arbeit einfach noch zwei oder drei Stunden lethargisch mit der Fernbedienung im präfabrizierten Lagerfeuer-Fernsehen stochern will«. JULIA BONSTEIN