SOWJET-UNION / HEIMKEHRER Was klopft an die Tür?
Als Stalin starb, lebten rund zehn Millionen Sowjetmenschen in den Konzentrationslagern der Union.
Unter Chruschtschew und Bulganin öffnete sich für viele von ihnen das Tor zur Heimkehr. Am 17. September vorigen Jahres amnestierte das Präsidium des Obersten Sowjets einen großen Teil jener unglücklichen zehn Millionen. Das Heer der Zerstörten, das seit dem letzten Jahr in die Dörfer, in die Straßenzüge der Großstädte, in die Büros, Fabriksäle und Laboratorien zurücksickert, wird immer größer. Es umfaßt alle jene Kategorien der Schuld, die Stalin schuf: Trotzkisten und Bucharinisten, Rechts- und Linksabweicher, Titoisten, Kollaborateure und Kapitalistenknechte.
Dem Sowjetvolk versetzte diese Begegnung mit den menschlichen Trümmern einer zugleich ruhmreichen und schmählichen Epoche seiner Geschichte einen fürchterlichen Schlag. Erschütterung und Ratlosigkeit haben sich ausgebreitet.
Die Rede Chruschtschews vor dem 20. Parteikongreß, in der er die Mitschuld des ohnmächtigen Mitläufers gestand, gibt Kunde von dem Zustand der Ratlosigkeit. Mit Chruschtschew fühlt sich die ganze Sowjetgesellschaft erbarmungslos verstrickt in das Schicksal, das der dämonische Titan Stalin über Rußland brachte.
Dem Sowjetvolk schaudert angesichts der vom Tode Auferstandenen. Seine Regierung versucht, den Katzenjammer mit Stalin-Enthüllungen aufzufangen.
Unverkennbar ist, daß der Kreml einem unbezähmbaren Druck nachgibt der vielleicht von den Massen selbst herkommt und sich möglicherweise über die Jugend in den Parteikadern nach oben mitgeteilt hat. Es ist schwer erkennbar, welche der öffentlichen Reflexe der allgemeinen Erschütterung spontan, welche dagegen gesteuerte Manöver sind. Wahrscheinlich mischt sich das eine mit dem anderen. Immerhin wird deutlich, daß sich in die mit strahlendem Fortschritts-Optimismus glasierten Bilder der sowjetischen Meinungsmacher - der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens - langsam ein dunkler, ergreifender Schimmer echt menschlicher Tragik mischt:
Anfang dieses Jahres flimmerte über die Moskauer Fernsehschirme eine »heroische Komödie in vier Akten und zehn Szenen« von Nikolai Pogodin, einem in der Sowjet -Union bekannten Dramatiker. Das Stück spielt in einem Lager irgendwo in Sibirien oder Kasakstan, wo zur Zeit Hunderttausende von jugendlichen Freiwilligen aus den Großstädten eingesetzt sind, um neuen Boden für die Ernährung des wachsenden Sowjetvolkes zu gewinnen. Das Stück spielt also im »Neuland«. Sein Thema ist die Desillusion der Begeisterten, und dieses Thema verdichtet sich schließlich zu der Gestalt des »Fremden«, eines namenlos bleibenden Heimkehrers aus Stalins Konzentrationslagern. Die Moskauer Fernsehteilnehmer sahen:
Eine Petroleumfunzel blakt. Man hockt um den roh gehobelten Tisch der Baracke.
Da sind Mark Rakitkin und sein Freund Aljoscha Letawin. Der Rowdy Rakitkin war eines schönen Tages Hals über Kopf ins Neuland gefahren, um sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Aljoscha war von seinem Mädchen versetzt worden, und auch sonst »war ihm zu Hause alles über geworden«. Unglücklich verheiratet war die Stenotypistin Stella Pertschatkina gewesen. Nach einjähriger Ehe ließ sie sich scheiden und »setzte sich von ihrem Alptraum ins Neuland ab«. Sie sprachen - müde und resigniert - von vergangenen Tagen und enttäuschten Hoffnungen.
Aber dann peitscht Autor Pogodin die Handlung ihrem dramatischen Höhepunkt entgegen. Ein Unbekannter, ein verlauster und unrasierter Kerl aus einer Welt, die noch trostloser war als diese Baracke irgendwo in Sibirien, ein Namenloser
Pogodin nennt ihn »den Fremden« - stapft in das Bild und raunzt ohne Gruß den Mark Rakitkin an: »He, Jüngelchen, gib mir mal Feuer!«
Rakitkin: »Was bist du denn für einer, Onkelchen? Kultivierte Menschen grüßen zunächst einmal.«
Der Fremde (ohne darauf zu reagieren, verächtlich): »Seid ihr Verbannte?«
Rakitkin: »Was?«
Der Fremde flucht: »Ich frage, ob ihr verschickt seid?«
Rakitkin (vergnügt): »Hast du denn überhaupt noch nichts davon gehört, daß jetzt immer mehr Leute auf Grund der Regierungsamnestie zurückkehren?«
So kam es auf den Moskauer Bildschirmen zu einer der ersten literarischen Begegnungen zwischen den amnestierten Heimkehrern aus den Straflagern und der sowjetischen großen Freiheit.
Mit dem Fremden klopfte etwas Fremdes an die Tür der auf frohen Optimismus gestimmten Sowjet-Gesellschaft.
In Pogodins Fernseh-Spiel fragt der Rowdy Rakitkin den aus dem Straflager entlassenen »Fremden« angriffslustig: »Wozu bist du hergekommen, Bürger? Was bist du für einer?«
Und dann kommt die abgründige Antwort des amnestierten Sträflings: »Bist wohl ein Komsomolz? Möglich. Ich rate dir, Komsomolz, keinem Unrecht zu tun, dem Unrecht geschehen ist. Vielleicht lebe ich hier, weil ich schuldig bin, vielleicht auch als unschuldig Schuldiger!«
Der zerstörte Heimkehrer im sibirischen Neuland mit seinen unbeantworteten Fragen, was gut und böse, ob er schuldig oder unschuldig sei, ist ein Debütant in der sowjetischen Literatur. Der Optimismus der atheistischer Erlösungslehre des marxistischen Bolschewismus - die Vorstellung von einer Welt, die »im argen liegt«, die es zu »erlösen« gilt und die in ein gesellschaftliches Paradies klassenloser Diesseitigkeit verwandelt werden kann - stößt hier an seine innerweltlichen Grenzen. »Der Fremde« - in jahrelanger Haft durch die Organe des Staates moralisch korrumpiert - pocht an die Brandmauern des Materialismus, mit ihm »das Fremde«. Mit den Millionen Amnestierten, die - hinter dem Stacheldraht hervorgeholt - das Land überfluten, irgendwo ein neues Zuhause suchen und ein neues Leben aufbauen wollen, strömt ein zum Irrationalen hintreibender Pessimismus in den hemdsärmeligen Optimismus des sowjetischen Lebens ein.
Vor etwa 20 Jahren wurde ein Stück desselben Pogodin in der gesamten Sowjet-Union mit großem Erfolg aufgeführt. Damals begann Stalin, Millionen seiner Gegner in die Straflager zu verbannen. In den »Aristokraten« schilderte Pogodin, wie in den Konzentrationslagern »Spione und Diversanten«, Diebe und Dirnen zu »nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft« umerzogen werden.
»Drei fuhren ins Neuland« zeigt nun, daß Pogodins »Aristokraten« auf irrigen Voraussetzungen über das Wesen der menschlichen Natur beruhten. »Wenn man so viele Jahre hier leben mußte, dann wird man von ganz allein bitter und böse«, sagt der »Fremde« zu dem Rowdy Rakitkin.
Der »Fremde« Pogodins - sein Stück wurde in der Zeitschrift »Nowy Mir« (Neue Welt) abgedruckt und von der »Sowjetskaja Kultura« und der »Komsomolskaja Prawda«, dem Zentralorgan der Jungkommunisten, ob seines Realismus gelobt, von der »Prawda« dagegen wegen der angeblich verzeichneten Charaktere der jungen Neuland-Besiedler kritisiert - ist nicht der einzige Wanderer zwischen den Welten in der jüngsten sowjetischen Literatur.
Die Schriftstellerin W. Panowa beschreibt in ihrer Kindergeschichte »Serjoscha« die Begegnung eines kleinen Jungen mit einem Heimkehrer: »Einmal ging Serjoscha in den Hof und sah, daß auf den am Schuppen aufgestapelten Balken ein fremder Onkel mit einer alten, abgetragenen Mütze saß. Der Onkel war unrasiert und seine Kleidung zerrissen... An Stelle von Schnürsenkeln hatte er Bindfäden in den Schuhen.«
Serjoscha bemerkte erstaunt, wie das »Onkelchen« beim Erscheinen eines Erwachsenen sofort aufstand und sich »untertänig und mitleiderregend« benahm. Jemand fragte ihn, wo er zu Hause sei. Onkelchen antwortete: »Im Augenblick nirgends, schon lange nicht!«
»Vielleicht bekommen Sie eine Arbeit, dann wird es schon wieder gehen«, sagte Tante Pascha, die ihm ein Paar alte Schuhe verweigerte, die irgendwo in einer Ecke herumstanden, ihm aber Suppe zu essen gab, die vom vergangenen Tag übriggeblieben war.
»Unsereinen nimmt man nicht gern«, sagte der Onkel, und Tante Pascha seufzte so, als ob sie sowohl ihn verstünde und bemitleide als auch jene, die ihn nicht gern einstellen.
Das kleine Hirn des Knaben Serjoscha aber verstand nicht, daß es Menschen gibt, die aus einer anderen Welt kommen und auch in dieser Welt immer noch die ihrige mitherumtragen.
»Verfluchte Fragen« über das Problem von Schuld und Sühne stellt Afanasi Salynski in dem Drama »Der vergessene Freund«, das im November 1955 in der Zeitschrift »Theater« abgedruckt wurde.
Da lebt Januschkin, im Kriege Kommandeur einer Flak-Division, als Kolchos -Vorsitzender in einem Landstädtchen. Er hat Frau und Kind und ein gemütliches Heim.
In diesem Idyll sowjetischer Bürgerlichkeit taucht plötzlich Gusjikow auf, Januschkins ehemaliger Stellvertreter bei der Flak-Division, der nach langjähriger Haft aus einem Konzentrationslager zurückkehrt. Er war einst nach einem Paragraphen des Militärstrafgesetzbuches stellvertretend für seinen Kommandeur Januschkin verurteilt worden, der damals irgendwo in einem Krankenhaus lag und sich für tot erklären ließ.
Januschkin will den vergessenen Freund umarmen, mit ihm trinken, Wiedersehen feiern.
Doch der Amnestierte stößt seinen ehemaligen Kommandeur zurück: »Ich war dein Vertreter, ich war verpflichtet, alles zu wissen - so erhielt ich zehn Jahre. Wärst du vor Gericht gewesen, dich hätten sie abgemurkst.«
Der Kolchosvorsitzende wird nervös, er versucht, den Kameraden zu besänftigen - »Gott sei Dank sind wir ja beide noch am Leben« -, verspricht ihm Hilfe beim Aufbau einer neuen Existenz und bietet ihm schließlich Geld an. Aber Gusjikow: »Acht Jahre vertrat ich dich, in weit entlegenen Gebieten, und du schwiegst, schwiegst wie ein Toter. Aber du lebst ja, kannst also sprechen, gib mir meinen Offiziersmantel wieder, ich will in die Armee zurück.«
Januschkin weiß, daß die Rehabilitierung der Offiziersehre seines Kameraden nur möglich ist, wenn der Prozeß noch einmal vor einem Militärgericht aufgerollt wird, und das muß notwendigerweise zu der Vernichtung seiner Existenz und der seiner Familie führen. Er fährt aus der Haut: »Du Lagersau bist für mich eine Null! Kein Mensch wird dem zerlumpten Kerl glauben!«
Ein zweites Mal verlangt der »Lagerniki« Sühne. Januschkin appelliert an das Herz Gusjikows. Er stellt ihm seine Frau vor, zeigt ihm sein Kind. Wieder bietet er dem ehemaligen Kameraden Geld an, damit er schweigt.
Gusjikow: »Du willst wohl noch 50 Rubel zulegen? Eher sterbe ich vor Hunger, als daß ich von dir einen Bissen annehme! Nein, mein Freund, ich gehe zum Parteikomitee des Rayons und bringe dort einige Kleinigkeiten aus deiner Biographie in Erinnerung!«
Januschkin: »Und wo willst du Beweise herbringen? Wer wird dir glauben, du Lagerschwein? Sieh dich doch an, wie du aussiehst! Nein, jetzt ist es nicht mehr so leicht, einen Menschen zu verunglimpfen!«
Gusjikow: »So einem Kerl habe ich ein Geschenk gemacht, ein fürstliches Geschenk, keine Krawatte und auch kein neues Hemd - nein, das Leben! Gib mir das Geschenk zurück, Freundchen!«
Da bekommt Gusjikow einen Herzanfall. »Bist du krank, Onkel«, fragt der kleine Sohn Januschkins, »hast du Husten?«
Gusjikow antwortet stöhnend: »Ja, ich war krank an einer schlimmeren Krankheit als Husten. In Kleidern ging ich fort und nackt kam ich zurück...«
Januschkin will ihm ein Glas Wasser reichen. Doch der ehemalige Häftling stößt ihm das Glas aus der Hand: »Nicht von dir! Sauf' selbst. Bau dir dein Nest, du kleinbürgerliches Aas. Du denkst, daß ich jetzt...«
Die Ehefrau Januschkins stürzt an das Telephon und verlangt nach einem Krankenwagen, stottert, daß der Kranke nun schon gestorben sei, und läßt verstört den Hörer sinken: »Sie fragen, Januschkin, woran er gestorben ist...«
Da das Problem von Schuld und Sühne in der gegenwärtigen geistigen Situation der Sowjet-Union mit dramaturgischen Mitteln noch nicht zu entknoten ist, übernahm der Tod die Rolle der höheren Vernunft. So mußte zunächst der Vorhang über den sterbenden Heimkehrer Gusjikow und seine nicht wiederhergestellte Ehre fallen.
Genauso ausweglos wie Salynskis Drama »Der vergessene Freund« war die Rede Chruschtschews auf dem Parteikongreß. Sie endete letztlich mit der hilflosen Frage: Was konnten wir machen?
Elseviers Weekblad, Amsterdam
Chruschtschew: »Stalin befahl mir zu tanzen!«
Ankunft im sibirischen Neuland*: Eine heroische Komödie endet...
Sowjet-Schriftsteller Pogodin
... mit einer unheimlichen Begegnung
Sowjet-Schriftstellerin Panowa
Verfluchte Fragen
* Nach dem Gemälde »Auf der neuen Erde« des sowjetischen Malers E. I. Samsonow.