WAS MAN SICH EINVERLEIBT
Sowohl Gisela Elsner, 27, wie Ror Wolf, 32, wurden von Hans Magnus Enzensberger entdeckt? Vor zwei Jahren erschienen literarische Proben der beiden Neu-Schreiber in Enzensbergers Anthologie »Vorzeichen«. Mit Ihrem Erstlingsbuch »Die Riesenzwerge« errang Gisela Elsner in diesem Jahr den »Prix Formentor« (SPIEGEL 20/1964).
Nicht Spott, sondern Erbarmen ist am
Platz, sieht man, wie jene, die über Bücher etwas zu sagen wissen, mitunter der eigenen Ansicht überdrüssig werden. Hatten sie vorher die Bücher satt und folglich von sich selbst die beste Meinung, und von nichts anderem handeln ihre Referate, so schlägt in solchen Tagen ihre Sicherheit in Demut um, und kleinlaut flüstern sie Banales.
Wie traurig, wenn dann eine Leseratte wie Marcel Reich-Ranicki ins Loben gerat und damit in eine Tätigkeit wider ihre Natur. Von selbst versteht sich aber, daß auch dieses Lob als Leitbild wirken soll. Und so ungewohnt sich's liest, man hat sich damit abzufinden, daß als Prosakunst gelobt wird, was »keine Originalität anstrebt«, was nicht »mit der Sprache auftrumpft«, was »Lauterkeit« beweist durch »eine gewisse Neigung zur Wehmut und gelegentliche Züge sogar der Sentimentalität«, was zwar wenig »mitzuteilen« bereit ist, dafür aber uni so mehr »ahnen« läßt, was das »Wichtigste verschweigt«. »Geheimnistuerei? Nein, Zurückhaltung, Diskretion, Scheu.« Nicht mehr von Sprache ist die Rede, »auf die Schwingungen in den Intervallen« kommt es an.
Ror Wolfs »Fortsetzung des Berichts« hat, wie es das Unglück will, nichts von diesen Postulaten. Wenig Voraussicht gehört dazu, behauptet man, daß er keinen Anlaß geben wird fürs Schaffen derer, die über Bücher etwas zu sagen wissen. Das Buch kommt ungelegen, ohne eine gewisse Neigung zur Wehmut, ohne Schwingungen in den Intervallen, ohne Zurückhaltung, Diskretion, Scheu, ja nicht einmal gelegentliche Züge der Sentimentalität hat der Autor zustande gebracht. Schlimmer noch, er hält sich an Alltägliches, an Köche, Köter, Fliegenfänger.
Erstattet wird ein Bericht, von dem der unbenannte Erzählende, einer aus der Familie der Ich-Erzähler, die als Registrierapparat wirken, sagt, er solle ihm die »Genugtuung« verschaffen, alles wiederzugeben, was er sieht, hört, schmeckt, riecht, tastet. Von blankem Wiedergeben indes kann keine Rede sein: Es geht um Bilderfolgen, die das Gedächtnis absondert, doch da es Lücken hat und die Vorstellung immer wieder in das Erinnerte dringt, vermischen sich die Bilder, gleiten aus oder zerbröckeln. Mit jedem Ansatz der Beschreibung tritt die Anstrengung zutage, die da beschreibt. Sie ist vorsätzlich, wie es auch Vorsatz ist, daß die Szenerien wacklig bleiben, die Ausweise unsicher - und die Personen, egal ob sie Wobser' Schlötzer, Gibser oder Schrader heißen, vertauschbar. Ebenso unbestimmt gibt sich der Erzähler, der, sieht er sich im Spiegel, nur bemerkt: »Alles, soweit ich erkennen kann, ist von einer gewissen Aligemeinheit, Unauffälligkeit.« Mit Hut, sagt ein Tischgenosse, sehe er aus wie Wobser, ohne Hut wie Schrader.
Nicht daß den besonderen Kennzeichen ausgewichen wird? Aber schon der gebräuchlichste Gegenstand ruft Zweifel hervor, die dem Leser vermittelt werden. Als müsse er nun beweisen, wie glaubwürdig er ist, nennt der Erzählende den Gegenstand beim Namen, beschreibt die Kennzeichen und umkreist ihn, denn die Zweifel sind schwer aus der Welt zu schaffen, unaufhörlich mit Wörtern. Aber gerade diese Worttiraden entfernen den Gegenstand von neuem, und je genauer sie ihn packen wollen, um so aussichtsloser scheint es, seine Konturen nachzuzeichnen. Um der Genauigkeit willen stockt die Rede, denn sie zergliedert, was sie sich aneignen will.
Der Rahmen, der den Erfahrungsbereich abgibt, ist knapp. Er beschränkt sich auf ein Zimmer, auf Personen im Zimmer, auf Geräusche aus dem Nebenzimmer, auf den Ausblick zweier Fenster und auf ein paar Gänge durch Ort- und Landschaften. Im Zimmer geschieht wenig, kaum daß einer aufsteht und etwas zu trinken holt. Nicht einmal während der Gänge passiert dem Erzählenden Außergewöhnliches. Einmal hat er Schwierigkeiten, seine Hände vom Fliegenfänger zu lösen. Einmal wird er mit Steinen beworfen. Ein andermal behelligt ihn die Frau des Kochs mit Familienangelegenheiten, die gestochene Titel haben wie: »Die Hand des Sohnes« oder »Mein Mann der Koch«. Auch Wobser, oder der, der Wobser genannt wird, erzählt Geschichten. Doch am wenigsten ist auf freunde Geschichten Verlaß: Was Wobser oder die Frau des Kochs hervorbringt, sind allenfalls Parodien aufs Geschichtenerzählen. Die Pointen entgleiten, die Handlung bleibt
widersinnig, trotz allen Eifers, sie zu belegen, und glaubwürdiger wird sie auch nicht durch eine zweite Version, die der ersten, durch eine dritte, die der ersten und der zweiten widerspricht.
In dieser Welt gestörter Phänomene trägt den Bericht ein Vorgang, eine Mahlzeit. Sie ist Motiv und Sujet, wie im bürgerlichen Roman es Eifersucht oder Verfall war. In Wolfs Bericht wird gekocht, gebraten, aufgetragen, genötigt, zugegriffen, gekaut, geschmatzt, man hört es in der Küche brodeln und zischen, man sieht und riecht die Speitsen. Eine Mahlzeit hat überdies, nicht anders als Eifersucht oder Verfall, ihre Vorgeschichte und ihr Nachspiel: Vorn Schlachten also und von Abfällen wird referiert. Sie hat schließlich ihre Korrelate: Kadaver, die von Würmern und Krähen gefressen werden, ein verwesendes Stück Fleisch, das von einem Hund verschlungen wird, der daran verendet, ein Säugling, der eifrig gefüttert wird und das Futter erbricht. Selbst Begattungen scheinen allein zu dem Zweck da, Esser und Eßbares zu erzeugen. Das Essen ist das Verläßlichste: Was man sich einverleibt, hat man sicher.
Diese Mahlzeit wird durchbrochen von Erinnerungen, Assoziationen und Bildern. Durch ihre Fülle und ihre Gleichwertigkeit allerdings laufen sie Gefahr, ihre Wirkung zu beeinträchtigen. Zuweilen klingt der Text aus und scheppert weiter mit Metaphern oder Alliterationen aus dem expressionistischen und surrealistischen Abfalleimer. ("Das Brot, das schöngewölbt und großäugig vom Tisch glotzt«, die »lappenartig herabhängenden oder wie Schlotklappen sich klappenartig anlegenden schlappen Ohren"). Die Wörter werden nach ihrem Klang, nicht nach ihrer Bedeutung eingesetzt. Dort, wo die Prosa stromlinig wird, läßt sich, so scheint's, der Autor von ihr treiben, der Erzählende registriert nicht mehr, sondern macht übernatürliche Wahrnehmungen geltend. Denn die Genauigkeit schlägt ins Ungereimte um, wenn der Berichtende hört, wie im Nebenzimmer Flüssigkeit versickert, oder wenn er Tränen riecht, wenn er andererseits, wie eine lädierte Beckett-Figur, beim besten Willen nicht versteht was ihm ein Tischgenosse gegenüber sagt.
Wo-aber der Bericht Bericht ist und die fünf Sinne das registrieren, was wahrzunehmen sie imstande sind, der Erzählende also unbestreitbar Registrierapparat bleibt und seine Sinne oder Sinnestäuschungen nicht einer fragwürdigen Poesie unterordnet, hat Wolf den Text in der Hand. Das Buch ist lesenswert für den, der ein bißchen Beckett, ein bißchen Keramik, ein bißchen Wortgefecht in Kauf nimmt.
Suhrkanmp
Verlag
Frankfurt
272 Seiten
16 Mark
Gisela Elsner