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ZEITGESCHICHTE / HITLER Was nun?

aus DER SPIEGEL 18/1967

Hitler schwärmte für die Briten. »Wenn wir ... Ausschau halten wollen nach europäischen Bundesgeflossen«, schrieb er schon in »Mein Kampf«, »so bleiben nur zwei Staaten übrig: England und Italien.« Und: »Nur mit England allein vermochte man ..., den neuen Germanenzug zu beginnen.«

Kaum Reichskanzler geworden, machte er sich daran, seine Vision von der germanischen Bruderschaft zu verwirklichen. Als die Schlacht von Waterloo, wo Briten und Deutsche am 18. Juni 1815 gemeinsam den Franzosen Napoleon besiegten, sich zum 120. Male jährte. erkannte er die britische Vorherrschaft zur See vertraglich an und verpflichtete sich, nicht mehr als ein Drittel der britischen Kriegsschiff-Tonnage zu bauen: Die Flotten-Rivalität, die Deutsche und Briten vor dem Ersten Weltkrieg entzweit hatte, sollte sich nicht wiederholen.

Ein Jahr später bot er den Insulanern sogar an, notfalls zwölf deutsche Divisionen für die Verteidigung des britischen Weltreichs abzukommandieren. Die Engländer winkten ab, aber Hitler bewahrte ihnen Sympathie. Er wollte sie als Bundesgenossen, nicht zum Feinde haben. Und als England am 3. September 1939 ihm den Krieg erklärte, war er derart fassungslos, daß er seinen Außenminister Joachim von Ribbentrop fragte: »Was nun?«

Den Krieg führte er zunächst so, als zählten die Engländer nicht zu seinen Gegnern. Am 20. Mai 1940, dem zehnten Tag des Frankreichfeldzugs, belehrte er den Generalstabschef Franz Halder, »die Engländer könnten jederzeit Sonderfrieden haben«. Am 2. Juni, während der Schlacht um Dünkirchen, die mit der Rettung des 224 585 Mann starken britischen Expeditionskorps endete, mutmaßte er, England sei nun wohl zu einem »vernünftigen Friedensschluß« bereit. Und am 13. Juni versicherte er gegenüber dem Chefkorrespondenten der amerikanischen Hearst-Presse, Karl von Wiegand, er habe nicht die Absicht, das britische Empire zu zerstören.

Großbritanniens Winston Churchill aber fragte sich: »Würden sie (die Deutschen) mit einem Male aus dem Blauen mit neuen Waffen ... überwältigenden Kräften ... auf unsere fast gänzlich ungerüstete, unbewaffnete Insel herabstoßen?«

England war zu dieser Zeit, da sich die französische Niederlage abzeichnete, praktisch hilflos. Am Strand bei Dover standen -- auf einem Abschnitt von sieben Kilometern verteilt -- drei einsame Panzerabwehrgeschütze. Und jedes hatte nur sechs Schuß Munition.

Da bediente sich Churchill einer Kriegslist, die jetzt erst von dem britischen Publizisten Laurence Thompson, 52, enthüllt wird*.

Aus dessen Studie »1940« geht hervor, daß die Briten -- perfide, wie sie laut NS-Propaganda nun einmal waren -- in der damaligen kritischen Situation die Anglomanie Hitlers ausnutzten, um ihn zu nasführen. Durch gezielte diplomatische Winke in London und Madrid sowie in Gesprächen mit deutschen Diplomaten, Konsuln und Agenten im neutralen Ausland erweckten sie den Eindruck, sie seien nun tatsächlich zu einem Kompromiß mit dem Reich geneigt -- ein Trick, der allein dazu diente, Zeit für die Aufrüstung zu gewinnen.

So eröffnete Richard Austen Butler, Unterstaatssekretär des Foreign Office, dem schwedischen Botschafter in London, Björn Prytz, am 7. Juni 1940, »Vernunft und nicht Tollkühnheit« bestimmten Englands Haltung zu einer Verständigung mit Deutschland -- was, wie Butler einkalkuliert hatte, prompt nach Berlin weitergegeben wurde. Mitte Juni schlug ein Agent des britischen Generalkonsuls in Genf, H. B. Livingston, dessen deutschem Kollegen Dr. Wolfgang Krauel vor, übet Frieden zu sprechen.

Zugleich erörterte der englische Botschafter in Bern, David Kelly, mit dem deutschen Prinzen Max zu Hohenlohe-Langenburg, der enge Kontakte zum Auswärtigen Amt und zur SS unterhielt, mehrere Male das gleiche Thema. Wenig später traf in Berlin ein langer Bericht über defätistische Äußerungen des britischen Botschafters in Madrid, Sir Samuel Hoare, ein, die dieser dem spanischen Außenminister Serrano Suñer gegenüber gemacht hatte. Auf diese Weise wurde Hoare, einer der »Appeaser«, die im Sommer 1939 den Krieg mit Deutschland um fast jeden Preis vermeiden wollten, zugeschrieben: Vielleicht werde Spanien nun zwischen England und Deutschland ähnlich vermitteln müssen wie kurz zuvor zwischen dem geschlagenen Frankreich und Deutschland.

Kurz -- die Briten taten, als hätten sie den Krieg verloren (Briten-Botschafter Lord Lothian in Washing-

* Laurence Thompson: »1940«. Collins Verlag, London; 254 Seiten; 30 Schilling.

ton: »England hat den Krieg verloren. Es soll zahlen") und hofften nun auf einen für sie ehrenvollen Frieden.

Ob diese psychologische Kriegführung bei den Nazis Wirkung hatte oder nicht -- Tatsache ist, daß Hitler erst am 16. Juli dekretierte: »Da England, trotz seiner militärisch aussichtslosen Lage, noch keine Anzeichen einer Verständigungsbereitschaft zu erkennen gibt, habe ich mich entschlossen, eine Landungsoperation gegen England vorzubereiten und, wenn nötig, durchzuführen.«

Aber er meinte es nicht ernst. Das militärische Risiko einer Landung schreckte ihn ebenso, wie ihn seine noch immer ungebrochene Bewunderung für England erneut milde stimmte. Zu seinem Generalstabschef sagte er: »Wenn wir England militärisch zerschlagen, zerfällt das britische Weltreich. Davon hat aber Deutschland keinen Nutzen.«

Um die widerborstigen Briten zum Einlenken zu zwingen, plante er nun militärische Operationen gegen sie -- aber fernab vom Mutterland, im Mittelmeer, in Afrika, in Arabien, im Persischen Golf und Indien. Sogar der Angriff auf die Sowjet-Union diente, wie er später selber immer wieder beteuerte, diesem Zweck.

Am 31. Juli 1940, als Hitler beschloß, die Sowjet-Union zu überfallen, notierte Generalstabschef Halder die Führerworte: »Rußland ein Faktor, auf den England am meisten setzt. Irgend etwas ist in London geschehen. Die Engländer waren schon ganz down, nun sind sie wieder aufgerichtet ... Ist aber Rußland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt.«

Der fixen Idee, es mit den Engländern selbst im Kriege nicht restlos zu verderben, hing Hitler selbst dann noch an, als Briten-Bomber bereits deutsche Städte in Brand setzten. »Sie sind doch das Volk, mit dem wir uns verbinden können«, sagte er in vertrauter Tischrunde. Oder: »England hat eine wunderbare Menschenauslese in seinen oberen Schichten.«

Und als Hitler starb, verdammte er nicht die Engländer, sondern die Deutschen: »Die Nation hat sich als schwach erwiesen.«

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