POLEN MACHTKAMPF Weg des Untergangs
Im Jahr nach der Befreiung Polens von den Nazis, im Juni 1946, wurden in Polen Juden gesteinigt.
Nach offiziellen Angaben mißhandelten und erstachen Einwohner der Stadt Kielce über 60 Juden, wahrscheinlich jedoch mehr als 200. Die Polizei griff nicht ein.
Die Regierung beschuldigte lokale Chauvinisten der Tat. Der Chef der untätigen Polizei von Kielce war ein Partisanenführer der Besatzungszeit. Er hieß Mieczyslaw Moczar.
Heute ist er Polens Innenminister, Chef der Polizei, des Staatssicherheitsdienstes und der Hilfspolizei »Ormo«. Er greift nach der Macht. Sein jüngstes Opfer ist Polens Staatspräsident Edward Ochab.
Kollege Novotny in Prag wich dem neuen tschechoslowakischen Liberal-Kommunismus. Ochab wich dem -- stalinistischen -- Nationalkommunisten Moczar. Letzten Montag bot der Staatschef, 61, dem Warschauer Parlament seinen Rücktritt an, angeblich wegen gesundheitlicher Schwäche.
Ochabs wahre Schwäche aber liegt in Herkunft und Heirat: Er war im Krieg Moskau-Emigrant und ist Ehemann eine Jüdin. Moczar hingegen will Polen unabhängig von seinen Erbfeinden machen: Er nennt sie »Zionisten«, er meint Russen und Deutsche.
Wie kaum eine andere KP wurden Polens Rote von jüdischen Intellektuellen geprägt. Rosa Luxemburg und Karl Radek standen in ihren Reihen. Jetzt säubert Moczar diese Partei von »jüdischen Nationalisten«, die angeblich das Vaterland an Israel verraten.
Nationalkommunist Moczar hatte sich stets im Hintergrund gehalten. Vorletzten Freitag, vier Tage vor Ochabs Rücktritts-Offerte, trat er aus der Deckung: Erstmals erschien der Hintergrundkrieger im polnischen Fernsehen, auf einer Versammlung der Veteranen-Organisation »Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie«. Dazu pries der Fernsehkommentator die Führungsrolle des Kriegervereins in der gegenwärtigen Staatskrise. Vorsitzender der Vereinigung ehemaliger Partisanen: General Moczar.
Dieser Veteranenklub zählt rund 800 000 Mitglieder. Sie sind privilegiert: Sie empfangen Orden, deren Verleihung mit 25 Prozent Rentenzuschlag verbunden ist; sie genießen kostenlose ärztliche Behandlung und werden bei der Vergabe von Portiersstellen und Zeitungskiosken, in der Zuteilung von Wohnungen, Geschäftslizenzen und Studienplätzen ihrer Kinder bevorzugt.
Über den Kämpfer-Hilfsfonds konnte Moczar in fünf Jahren 50 Millionen Zloty verteilen. Er baute seine Machtpositionen aus: Drei Warschauer Wochenzeitungen und das Bürokraten-Blatt »Prawo i Zycie« (Recht und Leben) gerieten unter Moczars Einfluß; auch das polnische Fernsehen begann, sich nach ihm auszurichten.
Vor allem eroberte sich Moczar den Polizei- und Konfidenten-Apparat und sammelte Dossiers über seine Gegner. Als Chef der Sicherheitspolizei »Bezpieka« suchte er seit 1956 Stück um Stück kleine Freiheiten wieder abzubauen.
Nur in der Partei blieb Moczars Einfluß schwach. Er selbst sitzt seit 1945 im Zentralkomitee, dessen Mitglieder ihm etwa zu einem Fünftel folgen. Im Politbüro gibt es nur einen Moczar-Mann, den Sekretär Strzelecki.
Doch .nach der Nahostkrise im vorigen Jahr eröffnete Moczar den Sturm auf die Partei-Festung -- mit der Parole: gegen den »Zionismus«. Unter den Anführern der Studentendemonstrationen im März ermittelten Moczars Observanten Studenten jüdischen Namens. Moczar säuberte die »Juden-Fraktion«.
Auf Tausenden von Betriebsversammlungen und Volkskundgebungen forderten polnische Bürger Ordnung und Sauberkeit von zionistischem Unrat. Unter dem Druck des Volksempfindens stürzten sieben Universitätsprofessoren. 34 Studenten der Warschauer Universität wurden relegiert, sieben Fachschaften geschlossen -- ihre Hörer müssen neue Zulassungsprüfungen ablegen.
Gegen die Autoren Kisielewski -- einen auch im Westen bekannten Feuilletonisten -, Grzidzinski und Jasinica, Verfasser historischer Bestseller, läuft ein Antrag auf Ausschluß aus dem Schriftstellerverband. Mehrere Theater- und Filmfachleute wurden entlassen, der weltbekannte Regisseur Alexander Ford angegriffen.
Ihm wird vorgeworfen, daß er den Film »Der achte Wochentag« mit dem Berliner Artur Brauner ko-produziert habe -- und dem ehemaligen polnischen Staatsbürger Brauner wird der Weg nach Westdeutschland vorgehalten, »dem Land, wo er auf jedem Schritt die Mörder seiner nächsten Angehörigen trifft«. In dem Film »Der achte Wochentag« sei die polnische Gesellschaft als Ansammlung notorischer Trinker dargestellt worden.
Moczar säuberte Polens Sport: Der Direktor des Instituts für Leibesübungen und ein Berater des Sport- und Touristenausschusses wurden gefeuert. Moczar säuberte Polens Regierungsapparat: Leitende Funktionäre des Handelsministeriums, der Chef der Atomenergie -- Kommission, der Präsident des Amtes für Staatsreserven verloren ihr Amt.
Als Moczar auch die Genossen Diplomaten säubern wollte, erlitt Minister Rapacki eine Herzattacke. Zynisch bemerkte das Moczar-Organ »Prawo i Zycie«, die Krankmeldungen' Urlaube und Kuraufenthalte der Außen-Beamten häuften sich: Gefährdete Funktionäre flüchteten vor der Verfolgung.
Moczars Strecke zählt bisher 36 Spitzen-Funktionäre -- die meisten sind Juden. In dem Belgrader Parteiblatt »Komunist« nannte das jugoslawische ZK-Mitglied Oskar Davico die Moczar-Aktion eine »Überprüfung nach »Stürmer'-Art«. Nach »Stürmer«-Art entdeckte Polens Presse nun auch eine »zionistische Weltverschwörung«.
Die »Trybuna Mazowiecka« verlangte von der »Sozial-kulturellen Gesellschaft der Juden in Polen« ("Babel-Club") eine Stellungnahme gegen die »zionistischen Zentren im Westen«. In den Synagogen von New York, behauptete das Blatt, verkündeten die Rabbiner zum Jahrestag des Warschauer Getto-Aufstands einen »Bannfluch gegen Polen«.
Doch die Rabbiner klagten allenfalls darüber, daß die Warschauer Zeitung »Kurier Polski« jetzt erklärte, nur 1000 Juden hätten sich 1943 am Aufstand gegen die Deutschen beteiligt. Die »Führer der Welt-Judenorganisationen, die heute in Israel herrschen«, hätten sie im Stich gelassen.
Moczar gestattete 1967 zur Einweihung eines Denkmals im Vernichtungslager Auschwitz keinen jüdischen Gottesdienst. Jetzt beschuldigte er den -- von dem Ex-Sowjetagenten Leopold Dan geleiteten -- »Babel-Club« des Landesverrats an Polen: Er sei eine Spionage-Organisation.
Zu der jüdischen Kultur-Vereinigung, so die Moczar-treue Jugend-Zeitung »Sztandar Mlodych«, gehörten:
* der 1955 in die USA geflüchtete Geheimdienstoberst Jozef Swiatlo, geboren als Isaak Fleischfarb,
* der 1965 in den Westen übergetretene, im vorigen Jahr gestorbene West-Berliner Missionschef Wladyslaw Tykocinski, der eigentlich Tikotiner hieß,
der 1960 von einem Amerika-Besuch nicht zurückgekehrte Armee-Oberst Pawel Monat und
der Polizei-Funktionär Severyn Bialer, Dozent an einem ZK-Institut, der Gestapo-Mitarbeiter gewesen sei.
Der neue Volksfeind-Typ ist nicht nur Jude, sondern auch »Kosmopolit": Es ist auch jeder Pole, der neben seinem polnischen Vaterland noch ein anderes hat -- das Vaterland aller Werktätigen, die Sowjet-Union.
Als sich in Moczars Diffamierungs-Feldzug auch antisowjetische Töne mischten, griff Parteichef Gomulka ein. Er ließ drei hohe Moczar-Offiziere auf unwichtige Posten versetzen: den Chef der polnischen Luftlande-Division ("Bote Barette"), den Kommandanten des Militärbezirks Warschau und den Stabschef des Militärbezirks Pommern. In diesen Positionen hätten sie einen Staatsstreich Moczars decken können. Nun haben sie keinen Kontakt zur Truppe mehr: Sie dürfen nur noch ausbilden und inspizieren. Denn der Kreml meldete Bedenken gegen Polens National-Kurs an.
Die Moskauer Zeitung »Sowjetskaja Rossija« warnte vorletzten Donnerstag vor »gefährlichen nationalistischen Tendenzen« in der kommunistischen Weltbewegung, vor der Mißachtung der Rolle der KPdSU.
Damit meinte das Kreml-Blatt nicht die bündnistreuen Tschechoslowaken und auch nicht die nationalkommunistischen Rumänen. Das Blatt behauptete vielmehr: »Polnische bürgerliche Nationalisten ... versuchten im März, Polen auf den Weg des Untergangs zu stoßen.«
Nationalkommunist Moczar ließ sich indes nicht einschüchtern: Vier Tage nach dem Sowjet-Tadel stieß er Polens moskautreuen Staatschef Ochab, Träger des Ordens »Erbauer des Vaterlands«, auf den Weg der Abdankung.