ZEITSCHRIFTEN »Weg ins Nirwana«
Rolf Wickmann, Zeitschriftenvorstand des Hamburger Großverlags Gruner + Jahr (G + J), stand noch unter der Dusche, als am vergangenen Montag gegen halb acht morgens das Telefon klingelte. Am Apparat war Michael Maier, 41, Chefredakteur des »Stern«. Er habe beschlossen, sich von Thomas Osterkorn zu trennen, verkündete der Journalist. Der geschäftsführende Redakteur und Ressortleiter sei der Rädelsführer einer Verschwörung altgedienter »Stern«-Leute, die es darauf abgesehen hätten, ihn zu Fall zu bringen.
»Darüber müssen wir noch reden«, sagte Wickmann, »ich bin in einer Stunde im Büro.« Doch Maier ließ sich nicht bremsen. Wenige Minuten später eröffnete er Osterkorn, er müsse gehen.
Um acht Uhr versuchte »Stern«-Verlagsleiter Michael Beckel ein letztes Mal, seinen Chefredakteur davon abzuhalten, den folgenschwersten Fehler seiner Karriere zu begehen. »Herr Maier«, sagte Beckel, »Sie unterschätzen Ihre Redaktion.« Doch der Beratungsbedarf des »Stern«-Chefs war an diesem Morgen klein. Gegen 8.15 Uhr verkündete er dem Redaktionsbeirat: Osterkorn solle gehen.
In völliger Verkennung der Lage flog Maier wenige Stunden später auf den Balkan, ins nächste Krisengebiet. Er besuchte die Familie des Dolmetschers, der zusammen mit den »Stern«-Reportern Gabriel Grüner und Volker Krämer im Kosovo ermordet worden war.
Am nächsten Morgen trafen sich in der Zentrale von Gruner + Jahr ("Stern«, »Geo«, »Brigitte") Konzernchef Gerd Schulte-Hillen und Vorstand Wickmann, um über das weitere Schicksal ihres wichtigsten Chefredakteurs zu beraten. Die Herren waren sich schnell einig: Diesmal war Maier zu weit gegangen. »Rolf«, sagte Schulte-Hillen, »let''s face it. Wir müssen handeln.« Vergebens versuchten sie, Maier auf dem Balkan zu erreichen.
Am Nachmittag des gleichen Tages teilte Schulte-Hillen dem Redaktionsbeirat mit, man werde Osterkorns Demission nicht hinnehmen. Am Mittwoch informierte er Mark Wössner, den Aufsichtsratschef. Abends gegen 22 Uhr kam es schließlich zur entscheidenden Unterredung mit dem »Stern«-Chef, der kurz zuvor in Hamburg eingetroffen war, noch mit Lehm aus Mazedonien an den Schuhen.
Maier habe gegen seinen Vertrag verstoßen, erklärte Schulte-Hillen, er habe für die Osterkorn-Aktion nicht die Zustimmung des Verlags eingeholt. Maier widersprach, doch der Verlagschef blieb hart: »Die Grenze ist erreicht. Das Vertrauen ist weg.« »Dann brauche ich wohl einen Anwalt?« fragte Maier. »Ja, den brauchen Sie wohl.« Das war das Aus für den Österreicher, der seinen Job erst im Januar als gefeierter Hoffnungsträger angetreten hatte.
»Viele Wege führen nach Rom«, kommentiert Schulte-Hillen, »aber nach Rom müssen Sie schon gehen. Doch der von Maier hätte ins Nirwana geführt.« Das sei eine »große Enttäuschung für mich, das Haus und Herrn Maier«.
Mit dem abrupten Abgang des Mannes, der die seit Jahren anhaltende Talfahrt des »Stern« stoppen sollte, steckt Deutschlands größte Illustrierte tiefer in der Krise denn je. Noch nie hat sich ein Chefredakteur so schnell entzaubert, noch nie sind Hoffnungen auf eine große Generalreform bei dem Traditionsblatt so schnell zerstoben. Woche für Woche sank die Auflage auf historische Tiefstände. Besonders im Einzelverkauf am Kiosk drohte das Blatt zum Ladenhüter zu werden. Mit Sonderverkäufen hielt der Verlag die Auflage stabil.
Ausgerechnet am Tag, als beim Gütersloher Verlagseigentümer Bertelsmann Konzernpatriarch Reinhard Mohn seine Mehrheitsstimmrechte feierlich an ein Gremium von Managern, Mitarbeitern und Familienmitgliedern abgab, machte das Vorzeigeorgan Negativ-Schlagzeilen.
Dabei hatten die Strategen vom Mutterhaus Bertelsmann mit dem Flaggschiff ihrer Zeitschriftentochter gerade Großes vor. Die bekannte Presse-Marke soll, als großes Tor zu breiten Publikumsschichten, Leser locken und Kunden für andere Konzernaktivitäten bringen, etwa fürs Internet. Maier galt auch in Gütersloh als erste Wahl. Und nun - der »Stern« im Gerede, Schulte-Hillen 16 Monate vor Ende seiner Amtszeit im Krisenstreß.
»Ich weiß ziemlich genau, was man beim ''Stern'' machen muß«, hatte Maier Ende vergangenen Jahres im Interview mit der österreichischen Zeitschrift »TV Media« ("Ich will an die Spitze") getönt und auf die Frage nach seiner Qualifikation geantwortet: »Was glauben Sie, was man mir schon alles nicht zugetraut hat!«
Der promovierte Jurist und gelernte Orgelspieler hatte es in wenigen Jahren vom Redakteur einer österreichischen Kirchenzeitung zum Chefredakteur des G + J-Blattes »Berliner Zeitung« gebracht. Mit finanziellen Kraftakten schaffte er es, das frühere SED-Parteiblatt zur respektablen Hauptstadtzeitung auszubauen - wenn auch mit bröselnder Auflage.
Doch Maier strebte nach Höherem. »Er kennt nur ein Ziel: Er will nach oben«, sagt ein Ex-Mitarbeiter. Der »Stern« schien da gerade recht. Die größte deutsche Illustrierte erwirtschaftet mit jährlich über 400 Millionen Mark rund acht Prozent des G + J-Umsatzes. Es gab Zeiten, da wurde die Hälfte des Verlagsgewinns vom »Stern« bestritten.
Das Blatt zehrt immer noch vom Mythos des legendären Illustrierten-Gründers Henri Nannen. Der hatte britischen Besatzungsoffizieren nach dem Krieg eine Lizenz für die Jugend-Illustrierte »Zick-Zack« abgeschwätzt, die später zum »Stern« mutierte. Das Bilderblatt würzte er in den ersten Jahren bevorzugt mit Storys über Stars und Starlets, später mit Politik. Nannen stützte Willy Brandts Ostpolitik und veröffentlichte das Bekenntnis prominenter Frauen: »Wir haben abgetrieben.«
Das war in den Siebzigern. Der »Stern«, dieser »Musikdampfer« (Nannen), traf das Lebensgefühl einer Generation und die kühnsten Zielprojektionen des Verlags. Die Auflage stieg auf bis zu 1,9 Millionen Hefte. »Der ''Stern'' war die Lokomotive, die nicht nur den Zug, sondern den ganzen Bahnhof mitzog«, scherzte Nannen gern.
Doch diese Schubkraft hat schon lange nachgelassen. Nachdem sich Gründer Nannen Anfang 1981 aus der Chefredaktion verabschiedet hatte, sank der »Stern« rapide. Nannens große »Wundertüte« blieb immer häufiger leer - und leistete sich zwei Jahre später einen spektakulären Fehlgriff.
Der Skandal um die angeblichen Hitler-Tagebücher, die Meisterfälscher Konrad Kujau in Heimarbeit angefertigt hatte, setzte Redaktion und Verlag auf viele Jahre schwer zu. Immerhin war es Schulte-Hillen, der dem damaligen Reporter Gerd Heidemann in einer Geheimaktion an der Chefredaktion vorbei rund 9,3 Millionen Mark für Kujau und seine Kladden zahlte.
Blamiert vor aller Welt, mußten die Chefredakteure Peter Koch und Felix Schmidt zurücktreten. Das war der Auftakt zu einer Serie rasanter Wechsel (siehe Grafik).
Wer auch immer in den Folgejahren den »Stern« führte: Den Niedergang konnte er nicht stoppen. Zuletzt scheiterte Werner Funk, 62, früher Chefredakteur des SPIEGEL, der die Redaktion mit harter Hand geführt hatte, daran, daß er keinen Nachfolger aufgebaut hatte. Daraufhin wurde Schulte-Hillen aktiv.
Insgesamt hat das Haus in den 18 Jahren seit Nannens Abgang 13 Chefredakteure verschlissen - Branchenrekord.
Zu den hausgemachten Problemen kam der Niedergang des ganzen Illustrierten-Genres. So wurde Konkurrent »Quick« eingestellt. Spezialzeitschriften, Privatfernsehen und neue Magazine wie »Focus« zogen Leser und Werbekunden ab.
Wo früher die wißbegierige »Stern«-Klientel exklusiv mit Fotos aus Kriegen, Regierungsbüros oder Ehebetten bedient wurde, erfüllen heute 30 TV-Programme täglich alle Informationswünsche.
Zudem machte sich der Verlag selbst Konkurrenz. Mit den Gewinnen des »Stern« entwickelte G + J ein Reportage- ("Geo") und ein Klatschmagazin ("Gala"). Sogar vor einer Billigversion ("Tango") seines Luxusdampfers schreckte Schulte-Hillen nicht zurück - und scheiterte damit.
Die Folgen der veränderten Medienwelt für den »Stern": Die Zahl der Anzeigenseiten fiel von 6177 (1982) auf 4438 (1997). Nur mit einer deftigen Preissenkung wurde der Rückgang gestoppt. Die Auflage sackte im gleichen Zeitraum von 1,66 Millionen auf 1,1 Millionen - jeder dritte Leser ging verloren. »Insgesamt muß man feststellen, daß sich seit 1980 die Auflage linear nach unten bewegt«, gestand der neue Chefredakteur Maier Mitte April öffentlich ein.
Der Österreicher und sein Landsmann und Stellvertreter Oliver Herrgesell trafen auf eine zutiefst verunsicherte Mannschaft, als sie das Blatt übernahmen. »Nach dem Martyrium unter Funk haben wir ihn mit offenen Armen empfangen«, sagt ein Redakteur über Maier, dem aus Berliner Zeiten der Ruf eines »Menschenfängers« vorauseilte, der manchen Journalisten »wie einer attraktiven Frau nachstellte«, um sie abzuwerben.
Doch der neue Mann wurde schneller entzaubert, als es irgendeiner in der Branche für möglich gehalten hatte. Nach nur sechs Monaten feierten »Stern«-Redakteure seinen vorzeitigen Abgang vergangene Woche mit Champagner. »Die Redaktion hat sich von einem Joch befreit«, sagt Reporter Heiko Gebhardt, immerhin seit 33 Jahren beim »Stern": »Sie ist der wahre Sieger und wird zeigen, daß noch Feuer in der Hütte brennt.« Ein Kollege: »Unter Funk hatten die Leute Angst um ihren Job, unter Maier hatten sie Angst um den ''Stern''.«
Schon kurz vor seinem Start in Hamburg ließ der Neue seine künftige Redaktion über ein Porträt in der Zeitschrift »Max« indirekt wissen, daß er die Optik für mißlungen halte und den zuständigen Art Director Wolfgang Behnken wahrscheinlich durch Dirk Linke ersetzen werde, den Chefgrafiker der »Woche«. Da schäumten die ersten.
Kaum im Amt, leierte Maier einen Exklusivbericht über die Hochzeit der monegassischen Prinzessin Caroline mit Prinz Ernst August von Hannover an, bei dem er sich in einer Vereinbarung verpflichtete, den Text samt Fotos dem Presse- und Prin-
zenanwalt Matthias Prinz vorzulegen. Da schäumte auch der Vorstand zum erstenmal, und das zuständige Ressort rächte sich, indem es im Inhaltsverzeichnis den liebedienerischen Text als Hof-Bericht ankündigte.
Vom wachsenden Unmut in der Redaktion bekam Maier wenig mit. »Mensch, Herr Maier, Sie müssen da reingehen und immer wieder mit den Leuten reden«, forderte Schulte-Hillen.
Maier aber sinnierte im Kämmerlein mit Getreuen über einen neuen »Stern«, mit Rubriken für Interviews, Reportagen und Porträts - und mit einer um Internet-Themen erweiterten TV-Beilage, in der die defizitäre Multimedia-Zeitschrift »Konrad« entsorgt werden sollte. Nebenbei jettete er zwecks Personalgewinnung nach New York, schrieb Kolumnen im Wiener »Standard« ("Warum muß die Kirche weiter nach rechts"), philosophierte in meist unbeholfenem Bürokraten-Deutsch im »Stern«-Editorial über Gott und die Welt und bastelte an den aktuellen Heften.
Die verkauften sich am Kiosk immer schlechter, die Auflage sackte und sackte. Titel wie »100 Jahre beißen und gehorchen - Der deutsche Schäferhund« oder ein Stück über die belgische Dioxin-Lebensmittelkrise, das mit einem gerupften Huhn angekündigt wurde, gerieten zu Lachnummern. Maier hatte offenbar Nannens Bonmot ("Schon oft sind Leute als Adler gestartet und als Suppenhuhn gelandet") mißverstanden. Selbst vermeintliche Verkaufsgaranten wie ein Stück über Allergien zogen nicht mehr. Eine Coca-Cola-Flasche in der Gestalt einer untergehenden »Titanic« auf dem Titelbild verhinderte vergangene Woche in letzter Minute erst der Hausjustitiar - er befürchtete Schadensersatzforderungen des von Skandalen genervten Coca-Cola-Konzerns.
Zum Schluß glichen die Redaktionssitzungen beim »Stern« drögen Pressekonferenzen: Chef Maier und Vize Herrgesell fragten, die Redakteure mauerten.
* Am 30. September 1997 auf einer Feier zur Veröffentlichung der Sonderhefte zum 50jährigen »Stern«-Jubiläum in Hamburg.
Als Drahtzieher der Opposition machte Maier den im Verlag beliebten Thomas Osterkorn aus, als Ressortchef für Deutschlandthemen zuständig. Den schon von Funk favorisierten langjährigen »Stern«-Mann hatte Schulte-Hillen bei Maiers Amtsantritt als stellvertretenden Chefredakteur empfohlen. Doch Maier fühlte sich von Osterkorn schlecht informiert, ging auf Distanz. Am 11. Juni teilte er Schulte-Hillen mit, er wolle sich von dem Mann trennen. Der Verlagschef widersprach und empfahl erneut, Osterkorn zum Stellvertreter zu machen. Das war der Anfang von Maiers Ende. Der kämpft inzwischen um seine Abfindung, die sich in Millionenhöhe bewegen wird.
Jetzt soll sein Gegner Osterkorn kommissarisch für eine Übergangszeit der Redaktion vorstehen. Als erstes will der Neue an der Spitze zusammen mit Verlagsmanagern und dem Oberkreativen Linke, der an Bord bleiben soll, über Maiers Reformvorschläge richten.
Viel wird davon nicht übrigbleiben. Schulte-Hillen will kein neues Info-Magazin schaffen, er glaubt an Nannens Rezepte: »Das Prinzip Wundertüte funktioniert, wenn sie richtig gefüllt wird.« Der »Stern« komme aus dem Bauch, sagt er, und sei immer auch ein unterhaltsames Blatt gewesen: »Alles, was singt, tanzt und pfeift.«
Die »Stern«-Krise habe mit dem Blatt zu tun, »nicht mit dem ganzen Segment«, meint der Hamburger Werbeagenturchef Jean-Remy von Matt: »Die große Illustrierte hat noch immer Chancen - ob der ,Stern'' eine Zukunft hat, weiß ich nicht.«
Mit einem Werbeetat von zusätzlich zehn Millionen Mark will der Verlag den alten Musikdampfer in diesem Jahr wieder flottmachen - und in spätestens zehn Wochen soll auch der neue Kapitän feststehen.
Nach dem Maier-Mißgriff sucht Schulte-Hillen zur Zeit intensiv nach einem Nachfolger. Der Redaktionsbeirat brachte bereits den früheren Chefredakteur Michael Jürgs, 54, ins Spiel. Aber auch die Chefredakteure Hans Mahr (RTL) und vor allem Michael Spreng ("Bild am Sonntag") gelten als aussichtsreiche Kandidaten. Sogar Kulturstaatsminister Michael Naumann wird als Name gehandelt.
Spreng, zur Zeit im Italien-Urlaub, erklärt, es habe keine Anfrage gegeben. Immerhin - den Mann vom Springer-Verlag zeichnet großer Realitätssinn aus: »Das ist der härteste Job, der derzeit im deutschen Journalismus zu vergeben ist.«
KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN,
HANS-JÜRGEN JAKOBS, THOMAS TUMA
[Grafiktext]
Schneller Verschleiß Auflagenverfall und Wechsel der Chefredakteure beim Stern 1,72 Verkaufte Exemplare in Millionen Januar 1981: Gründer Henri Nannen wird Herausgeber und übergibt die Chefredaktion an Peter Koch und Felix Schmidt 1,61 25. April 1983: Veröffentlichung der gefälschten Hitlertagebücher. Rücktritt von Koch und Schmidt im Mai 1983, Rolf Gillhausen (ab Januar 1983) verbleibt in der Chefredaktion 1,58 ab Mai 1983: Peter Scholl-Latour und Rolf Gillhausen; Johannes Gross wird auch berufen, tritt aber nicht an 1,52 ab März 1984: Rolf Winter 1,43 ab Mai 1986: Heiner Bremer, Klaus Liedtke (beide bis Januar 1989) und Michael Jürgs 1,33 Januar 1989: Michael Jürgs bleibt; Herbert Riehl-Heyse ist zwischenzeit- lich für vier Monate mitverantwortlich 1,27 ab Februar 1990: Rolf Schmidt-Holtz 1,25 ab Mai 1994: Werner Funk 1,11 ab Januar 1999: Michael Maier, entlassen am 1. Juli 1999 1,04 Ausgabe 22/99
[GrafiktextEnde]
* Am 30. September 1997 auf einer Feier zur Veröffentlichungder Sonderhefte zum 50jährigen »Stern«-Jubiläum in Hamburg.