»Weg vom Bonner Tropf«
SPIEGEL: Herr Diepgen, Ihnen ist gelungen, was seit 1959 kein Regierungschef in der Bundesrepublik mehr geschafft hat: in ein zuvor verlorenes Amt zurückzukehren. Sie sind jetzt, nach 23monatiger Abwesenheit, wieder in Ihr altes Amtszimmer im Schöneberger Rathaus eingezogen. Was für ein Gefühl ist es, wenn man sein eigener Nach-Nachfolger ist?
DIEPGEN: Das Wahlergebnis erfüllt mich mit Freude. Aber da ich das Amt und die Probleme der Stadt kenne, spüre ich auch eine große Anspannung.
SPIEGEL: Sie regieren heute, nach Überwindung der Spaltung Deutschlands und Berlins, eine völlig andere Stadt als noch vor zwei Jahren. Damals wurden Sie als Bannerträger der freien Welt angesehen und im Ausland wie ein Staatsoberhaupt empfangen. Heute sind Sie ein Kommunalpolitiker wie viele andere auch - ohne die Chance, internationales Renommee zu gewinnen wie einst Ernst Reuter oder Willy Brandt. Bedrückt Sie der Abstieg in die Provinzialität?
DIEPGEN: Natürlich gibt es Veränderungen. Wenn ich früher in Washington war, wurde ich selbstverständlich vom Präsidenten empfangen. Wenn ich demnächst in die USA reise, werde ich vielleicht nur den stellvertretenden Bürgermeister von Washington sehen. _(* Mit Redakteuren Jochen Bölsche und ) _(Norbert F. Pötzl in Diepgens Amtszimmer ) _(im Schöneberger Rathaus. )
Aber daran, daß ich gerade in die Sowjetunion eingeladen worden bin, zeigt sich, daß Berlin weiterhin eine international interessante Stadt ist. Im übrigen ist Kommunalpolitik für mich nichts Minderwertiges, sondern wegen ihrer Bürgernähe geradezu die Krone der Politik.
SPIEGEL: Noch etwas ist jetzt anders als in Ihrer ersten Amtszeit. In Berlin regiert - bundesweit zum ersten Mal seit 1972, als in Baden-Württemberg ein schwarzrotes Bündnis endete - wieder eine Große Koalition. Ist diese Elefantenehe, so notwendig sie aus arithmetischen Gründen ist, auch politisch gerechtfertigt?
DIEPGEN: Ja. Denn wir müssen parteiübergreifend dafür werben, daß Berlin Regierungs- und Parlamentssitz wird und eine kulturell und wirtschaftlich wichtige Stadt bleibt. Dabei steht die Große Koalition in Berlin gegen eine ganz große Koalition im Westen.
Aber auch die Probleme, vor denen die Stadt steht, lassen sich mit einer breiten Mehrheit leichter bewältigen. Bei allem Streben nach sozialer Gerechtigkeit wird das Zusammenwachsen der Stadt in einer Übergangsphase zu einer Fülle von Ungerechtigkeiten führen. Wenn beide großen Parteien zusammenwirken, läßt sich in der Bevölkerung eher die Bereitschaft wecken, mit anderen zu teilen und eigene Wünsche zurückzustellen.
SPIEGEL: Gesetzt den Fall, Sie können die Politik der Stadt bis zum Jahr 2000 gestalten - wie wird das Berlin der Jahrtausendwende aussehen?
DIEPGEN: Berlin sollte dann Regierungs- und Parlamentssitz sein, außerdem Austragungsort der Olympischen Spiele 2000. Denn damit wären ein modernes Verkehrssystem, zusätzliche Wohnungen und sportliche Angebote verbunden, kurzum: mehr Lebensqualität. Und Berlin sollte im Jahr 2000 eine internationale Stadt mit Flair sein, die den Ost-West-Dialog pflegt.
SPIEGEL: Schöne Pläne, fromme Wünsche. In Sachen Regierungssitz sind viele Ihrer Unionsfreunde offenbar ganz anderer Meinung als Sie. Der bayerische Ministerpräsident Max Streibl sagt offen, es dürfe keine »Hauptstadt Kreuzberg« geben, wo der Druck der Straße die Parlamentsarbeit behindere.
DIEPGEN: In der Tat sind die Widerstände - über die Parteigrenzen hinweg - groß, aber die Glaubwürdigkeit der Argumente gegen Berlin ist gering. Zwar dürfen die sozialen Probleme im Raum Bonn/Siegburg/Köln nicht vernachlässigt werden. Aber Fragen der Bequemlichkeit von Beamten oder des Grundstücksmarktes dürfen nicht den Ausschlag geben.
SPIEGEL: Viele Bonner können sich offenbar vorstellen, daß Berlin eine Hauptstadt ohne Regierungssitz bleibt, eine Konstellation, wie es sie weltweit nur in 5 von 179 Staaten - den Niederlanden, Südafrika, Bolivien, Benin und der Elfenbeinküste - gibt. Vom Bundeskanzler, den Sie bisher stets als »Freund Berlins« gepriesen haben, ist noch immer kein klärendes Wort zu hören. Kann sich der Berlin-Freund Kohl in seinem Kabinett nicht durchsetzen?
DIEPGEN: Ich möchte diese Frage nicht personalisieren. Wann immer es um Berlin geht, kann ich mit Verständnis und Unterstützung des Bundeskanzlers und beispielsweise des Innenministers Wolfgang Schäuble rechnen.
SPIEGEL: Viel mehr Freunde als diese beiden werden es im Kabinett nicht sein. Nach Ihrem jüngsten Vier-Augen-Gespräch mit Kohl stand in der Welt: »Der Kanzler ist neben dem Innenminister der einzige verbliebene Berlin-Freund innerhalb der Bonner CDU.«
DIEPGEN: Ach, wissen Sie, es wird viel geschrieben. Sie werden mich nicht dazu bringen, die Gesamtdiskussion dadurch zu erschweren, daß ich mich mit einzelnen Personen anlege. Jetzt gilt es, mit aller Bescheidenheit und mit aller Beharrlichkeit Freunde für Berlin zu gewinnen.
SPIEGEL: Sie haben Ihrem sozialdemokratischen Vorgänger Walter Momper vorgeworfen, er habe sich zu »holzhammerartig« für die Interessen Berlins eingesetzt. Verhalten Sie sich nicht allzu artig im Umgang mit Bonn? Sie hatten ja sogar Schwierigkeiten, einen Termin beim Kanzler zu bekommen.
DIEPGEN: Das ist doch Quatsch, was da partiell in den Gazetten stand. Ich habe mit dem Kanzler in der letzten Zeit mehrmals pro Woche gesprochen.
SPIEGEL: Wann sollen Ihrer Meinung nach in Bonn die Umzugskartons gepackt werden?
DIEPGEN: Wichtig ist, daß überhaupt über den künftigen Regierungssitz entschieden wird. Diese Entscheidung muß nicht unbedingt in diesem Jahr getroffen werden. Aber die Entscheidung selber ist dringlicher als ihr Vollzug. Daß den Bonnern eingeredet wird, sie müßten sofort die Koffer packen, ist natürlich Unfug. Ein Umzug würde sich doch in Etappen über Jahre hinziehen, wahrscheinlich bis zum Jahr 2000.
SPIEGEL: Sie haben mehrfach erklärt, daß schon die bloße Entscheidung zugunsten Berlins eine »Sogwirkung auf Industrie und Dienstleistungsunternehmen« ausüben werde; allein dies werde zur wirtschaftlichen Gesundung und zur finanziellen Kräftigung der Stadt beitragen.
DIEPGEN: Davon bin ich überzeugt. Eine solche Entscheidung würde internationale Unternehmen bei ihrer Suche nach einem europäischen Standort stärker auf Berlin fixieren, als das sonst der Fall wäre. Das wiederum hätte Rückwirkungen auf das Angebot an Arbeitsplätzen sowie auf Zulieferer und Dienstleistungsunternehmen, die sich in Berlin und seinem Umland ansiedeln würden.
SPIEGEL: Auf jeden Fall brauchen Sie erst mal viel Geld, um Ihre Vision vom Berlin 2000 zu verwirklichen. Doch auch bei den Finanzen werden Ihnen die Bonner kaum entgegenkommen - obwohl die Berliner CDU vor der Wahl den Eindruck erweckt hat, man müsse nur für Diepgen stimmen, und schon fließe das Geld aus Bonn in Strömen.
DIEPGEN: Eine solche Argumentation wurde der CDU böswillig unterstellt. Ich habe diesen Eindruck nicht vermittelt.
SPIEGEL: Gleich nach der Wahl hat die Bundesregierung beschlossen, die Berlin-Hilfe und die Berlin-Förderung zügig abzubauen - entgegen früheren Zusagen. Fühlen Sie sich von Bonn düpiert?
DIEPGEN: Ich will mich jetzt nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Wir müssen als Berliner damit leben, daß es, vor allem seit dem 9. November 1989, über alle Parteigrenzen hinweg die Ansicht gibt, der Abbau der Bundeshilfe für Berlin sei ein probates Mittel, um sämtliche Finanzprobleme der Bundesrepublik zu lösen.
SPIEGEL: Heißt das, daß sich die Berliner mit diesem Trend abfinden müssen?
DIEPGEN: Die Koalition in Bonn hat einzelne Entscheidungen getroffen. Die Daten, die das Bundesfinanzministerium vorgegeben hat, sind für Berlin so _(* In der Mainzer Straße, nach den ) _(Krawallen im November 1990. ) nicht akzeptabel. Ich werde im Gesetzgebungsverfahren um Korrekturen kämpfen. Dabei rechne ich auch auf Unterstützung aus den neuen Bundesländern.
SPIEGEL: Diepgen als Anführer eines innerdeutschen Ostblocks gegen Bonn?
DIEPGEN: Berlin und die neuen Länder sitzen in einem Boot. Wer die Axt anlegt an die Wurzeln der Berliner Wirtschaft, schadet der gesamten Region im Bereich der ehemaligen DDR. Denn wenn es in Berlin zu weiteren wirtschaftlichen Problemen kommt und im Westteil der Stadt Arbeitsplätze abgebaut werden müssen, ohne daß in der Gesamtregion in hinreichender Zahl neue geschaffen werden, hat das Rückwirkungen nicht nur auf Brandenburg, sondern bis weit hinein nach Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen.
SPIEGEL: Es gibt aber auch Interessengegensätze zwischen Berlin und den neuen Bundesländern. Sie stemmen sich gegen den von Bonn betriebenen Abbau der achtprozentigen Arbeitnehmer-Zulage, die nur in West-Berlin gezahlt wird, wo ohnehin mehr als doppelt soviel verdient wird wie im Osten. Im Wahlkampf haben Sie noch gefordert, dieses soziale Gefälle müsse abgebaut werden. Der CDU-Slogan hieß »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«.
DIEPGEN: Die Arbeitnehmer-Zulage, die früher einmal aus guten Gründen eingeführt wurde, ist Teil des Familieneinkommens. Das aber kann man nicht von heute auf morgen massiv reduzieren, nur um die Lebensverhältnisse zwischen Ost- und West-Berlin einander anzugleichen. Gegen eine langfristige Anpassung ist nichts einzuwenden. Im Jahr 2000 wollen wir keine Extrawürste mehr für Berlin.
SPIEGEL: Da werden die Berliner noch auf mancherlei verzichten müssen. Bislang schießt Bonn mehr als die Hälfte zum Berliner Haushalt zu.
DIEPGEN: Im Vordergrund unserer Politik steht das Bemühen: weg vom Tropf, statt dessen Mobilisierung der eigenen Leistung und Nutzung aller Kräfte und Ressourcen, die in Berlin vorhanden sind. Für eine Übergangszeit, während die Sozial- und Wirtschaftssysteme in Ost und West noch zusammenwachsen, brauchen wir allerdings weiterhin die Solidarität der anderen Länder und des Bundes . . .
SPIEGEL: . . . der jedoch, nicht zuletzt aufgrund der Zahlungsverpflichtungen für den Golfkrieg, verstärkt nach Möglichkeiten suchen muß, Subventionen wie die Berlin-Hilfe abzubauen.
DIEPGEN: Die Sorgen der Finanzpolitiker in Bonn werden sich durch den Golfkrieg verstärken. Daher muß ein Gesamtkonzept vorgelegt werden, das auch die Steueraufteilung zwischen den alten und den neuen Bundesländern einbezieht. Durch die Wiedervereinigung ist die Konjunktur in den alten Ländern angekurbelt worden. Wenigstens die dadurch entstandenen Steuermehreinnahmen sollten für den Aufbau im Gebiet der ehemaligen DDR genutzt werden.
SPIEGEL: Statt Aufbau steht im Osten Berlins wohl erst mal ein Abbau an. Schon wird über die Schließung der Hälfte der Schwimmbäder und das Aus für 20 von 35 Theatern spekuliert.
DIEPGEN: Wenn man versucht, alle Probleme aufzulisten, macht man sich selbst und allen Betroffenen angst. Meine Erwartung und dringende Forderung ist, daß die deutsche Einheit nicht mit dem Abbau wichtiger kultureller und wirtschaftlicher Einrichtungen in Berlin und anderswo einhergeht. Ich erwarte, daß der Bund seine gesetzlichen Verpflichtungen zum Ausgleich des Berliner Haushalts und zur Sicherung der Hauptstadtfunktion erfüllt. Wir stehen mitten in Verhandlungen.
SPIEGEL: Sie werden trotzdem nicht darum herumkommen, sich nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten umzutun.
DIEPGEN: Mir gefällt nicht, daß Sie so tun, als würden wir nur der Not gehorchen, wenn wir uns jetzt auf die eigenen Kräfte besinnen. Vom Bonner Tropf wegzukommen gehört zum neuen Selbstverständnis Berlins. Es darf nicht der Eindruck entstehen, wir wollten uns weiterhin hinter einer Mauer verstecken und die Hand aufhalten.
SPIEGEL: Im Freistaat Sachsen wird schon daran gedacht, Autobahnen von _(* Oben: mit US-Präsident Reagan (1987); ) _(unten: mit US-Präsident Bush (1990). ) Privatfirmen bauen und betreiben zu lassen, um Steuergelder zu sparen. Ist die Privatisierung öffentlicher Aufgaben auch für Sie eine Alternative?
DIEPGEN: Selbstverständlich.
SPIEGEL: Zieht Ihr sozialdemokratischer Koalitionspartner da mit?
DIEPGEN: Von ihrem gesellschaftspolitischen Ansatz her tut sich die SPD etwas schwer mit der Privatisierung. Aber in der Koalitionsvereinbarung steht, daß wir Anteile an landeseigenen Unternehmen veräußern wollen. Dabei soll allerdings eine Mehrheitsbeteiligung des Landes gewahrt werden.
SPIEGEL: Wo wollen Sie denn anfangen?
DIEPGEN: Beispielsweise bei der Berliner Bank. Ich kann mir aber auch vorstellen, daß wir bestimmte Einrichtungen für die Olympischen Spiele privat finanzieren und privat betreiben lassen, bis hin zu modernen Verkehrsmitteln. Die Sanierung der verrotteten S-Bahn würde, wenn wir sie selber bezahlen müssen, 40 oder 50 Jahre dauern. Soviel Zeit haben wir nicht.
SPIEGEL: Nachdem in Berlin jahrzehntelang das Geld aus Bonn mit vollen Händen ausgegeben worden ist, wird sich die Stadt ans Sparen gewöhnen müssen. Dennoch haben Sie die Zahl der Senatoren von 13 auf 15 und die der Staatssekretäre sogar von 18 auf 24 erhöht. Das verursacht jährliche Mehrkosten von 1,8 Millionen Mark. Ist diese Entscheidung das richtige Signal?
DIEPGEN: Die Zusammensetzung einer Landesregierung muß sich an den Aufgaben orientieren. Wir leben in einer zusammenwachsenden Stadt. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und im Sozialsektor verlangen eine bürgernahe Verwaltung. Investitionen in eine vernünftige Verwaltungsstruktur sind im Ergebnis für alle Steuerzahler sinnvoller als ein Verwaltungsaufbau, mit dem die Aufgaben nicht erfüllt werden können.
SPIEGEL: Mit Sicherheit hat der Bürger nichts davon, daß sich Berlin mit 241 Abgeordneten das größte und teuerste Landesparlament leistet.
DIEPGEN: In diesem Punkt teile ich Ihre Kritik. Durch die Verfassungslage von 1950 und durch das Wahlergebnis, das zu Überhang- und Ausgleichsmandaten geführt hat, ist die Zahl der Parlamentarier in Berlin besonders groß geworden.
SPIEGEL: Auch bei Normalgröße hätte das Abgeordnetenhaus mehr als doppelt so viele Sitze wie der hessische Landtag, obwohl Berlin nur gut halb so viele Einwohner wie Hessen hat.
DIEPGEN: Ich glaube nicht, daß man sich an der Einwohnerzahl orientieren kann. In Berlin mußten erst mal zwei Parlamente aus der früher geteilten Stadt zusammengefügt werden. Aber die Koalitionspartner haben sich bereits darauf geeinigt, daß zu Beginn dieser Legislaturperiode eine Verkleinerung des Parlaments beschlossen werden soll.
SPIEGEL: Bei anderen Themen wird es nicht so leicht Übereinstimmung geben zwischen CDU und SPD. Glauben Sie, daß Sie länger durchhalten können als Ihr Vorgänger Momper mit seinem ständig zerstrittenen rot-grünen Senat?
DIEPGEN: Ich werde versuchen, den Senat so zu führen, daß sich seine Mitglieder nicht gegeneinander, sondern miteinander profilieren. Diese Koalition ist zum Erfolg verurteilt. Wenn wir in einen Profilierungswettstreit eintreten, werden die Berliner beide Koalitionspartner bei der Stimmabgabe abstrafen. Darüber soll sich jeder im klaren sein.
SPIEGEL: Sie stehen einem Senat vor, dem es an Glanzlichtern mangelt. Früher waren Politiker wie Norbert Blüm, Ulf Fink oder Peter Glotz sich nicht zu schade, in Berlin mitzuregieren. Mußten jetzt allzu viele verdiente Lokalgrößen mit Posten versorgt werden, oder sind die Ämter, die Sie zu vergeben hatten, für namhafte Politiker zu piefig?
DIEPGEN: Ob es Glanzlichter im Berliner Senat gibt, entscheiden Sie bitte in einem Jahr.
SPIEGEL: Auf seiten der CDU haben Sie in Ihre Senatsmannschaft keine einzige Frau berufen und nur einen einzigen Ost-Berliner - den Gesundheitssenator Peter Luther, eine altgediente Blockflöte, seit 18 Jahren Mitglied der SED-treuen Ost-CDU.
DIEPGEN: Die Bemerkung »Blockflöte« halte ich für eine Unverschämtheit. Man muß doch akzeptieren, daß viele DDR-Bürger in die dortige CDU eingetreten sind, um dem Druck zu entgehen, Mitglied der SED zu werden. Außerdem sollte sich jeder von uns darüber Gedanken machen, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht das Glück gehabt hätte, im Westen zu leben.
SPIEGEL: Hätten Sie für Ihren Senat nicht wenigstens einen Ost-Berliner finden können, der nach der Wende in der Volkskammer oder im Magistrat seine demokratische Haltung und sein politisches Talent unter Beweis gestellt hat?
DIEPGEN: Für mich war vor allem wichtig, daß Dr. Luther im SED-Staat keine politischen Ämter innehatte. Und zu den Frauen: Der Senat setzt sich nach Sachverstand zusammen. Angesichts der Wahl von Hanna-Renate Laurien zur Parlamentspräsidentin und der Beteiligung von Damen auf der Ebene der Staatssekretäre braucht sich die Berliner CDU Frauenfeindlichkeit nicht vorwerfen zu lassen. Richtig ist allerdings, daß die Förderung von Frauen auf der mittleren Ebene erheblich verstärkt werden muß.
SPIEGEL: Daß der bisherige Präsident der Freien Universität, Dieter Heckelmann, Innensenator geworden ist, hat viele überrascht.
DIEPGEN: Nur Sie.
SPIEGEL: Für sein neues Amt hat sich Heckelmann vor allem dadurch empfohlen, daß er während eines Hochschulstreiks den Campus von der Polizei räumen ließ - ein erzkonservativer Haudegen also.
DIEPGEN: Das ist böswillig formuliert, aber journalistisch zulässig. Herr Heckelmann ist jemand, der das Amt eines Innensenators sehr gut ausüben kann - aufgrund seiner Erfahrungen sowohl mit einem großen Verwaltungsapparat als auch im Umgang mit Rechtsbrechern.
SPIEGEL: Im Wahlkampf hat die innere Sicherheit eine große Rolle gespielt. Sie haben dem rot-grünen Senat vorgeworfen, er sei »hilf- und konzeptionslos« gegenüber der »dramatisch ansteigenden Kriminalität«, und Sie haben immer wieder die »Deeskalationsstrategie« der Polizei im Umgang mit Hausbesetzern und Demonstranten kritisiert. Was wird nun unter Ihrer Führung anders? Knüppel frei für die Polizei?
DIEPGEN: Wir werden konsequent gegen rechtsfreie Räume angehen. Das heißt konkret: Räumung dort, wo es aus rechtsstaatlichen Gründen notwendig ist, und andere Lösungen dort, wo es sachgerecht ist - also vor allem im Osten, wo aufgrund des totalen Versagens der früheren staatlichen Wohnungswirtschaft Nutzungsverhältnisse vorliegen, die wir anders beurteilen müssen als Hausbesetzungen im Westen.
SPIEGEL: Eine alte Berliner Spezialität ist die Verfilzung von Politik und Geschäft. In politische Nachschlagewerke hat das Urteil Eingang gefunden, Sie hätten den »politischen Kredit«, mit dem Sie 1984 Ihre erste Amtszeit angetreten haben, während der Korruptions- und Parteispendenskandale um den CDU-Baustadtrat Wolfgang Antes »verspielt«; Ihr »vielgerühmter politischer Instinkt« habe Sie auch in der Affäre um Ihren damaligen Innensenator Heinrich Lummer verlassen. Haben Sie aus solchen Erfahrungen Lehren gezogen?
DIEPGEN: Ich teile nicht ganz die Ausgangsposition Ihrer Frage. Aber ich habe natürlich Schlußfolgerungen gezogen aus den Entwicklungen in Berlin und aus meinen Erfahrungen im Umgang mit Menschen. Das beste Mittel gegen Gefährdungen dieser Art ist, eine Verquickung von Amt und Mandat zu vermeiden.
SPIEGEL: Bei Antes ging es um allzu große Nähe zwischen Politik und Wirtschaft. Der Fall Lothar Späth hat gezeigt, wohin das führen kann.
DIEPGEN: Ich möchte nicht im einzelnen bewerten, was Sie den »Fall Späth« nennen. Die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik hat in diesen Dingen eine besondere Sensibilität entwickelt, zum Teil zu Recht, zum Teil gibt es Übertreibungen. Der Kernpunkt für mich ist, daß man als Politiker bemüht sein muß, schon den bösen Schein zu meiden. Im _(* Bei einer Farbeier-Attacke in der FU. ) übrigen plädiere ich dafür, möglichst wenig staatlich zu reglementieren. Denn je mehr die Menschen von der Bürokratie abhängig sind, desto größer ist die Gefahr, daß jemand versucht, die Entscheidungsträger zu bestechen.
SPIEGEL: Die Frankfurter Allgemeine hat Ihnen vor kurzem attestiert, daß Sie auf der Oppositionsbank Lernfähigkeit entwickelt hätten: »Diepgen hat begriffen, wie leicht Macht angesichts allzu großer Selbstherrlichkeit dem Sande gleich aus den Händen zerrinnt.« Was bedeutet das für Ihren künftigen Regierungsstil?
DIEPGEN: Die Wahlverluste 1989 hatten vielfältige Ursachen. Ich mache es mir aber nicht so einfach, die Gründe vor allem in Bonn zu suchen. Einiges hatte ich selbst zu verantworten. Damit muß ich mich auseinandersetzen. Das wird sicherlich Auswirkungen auf meine künftige Regierungspraxis haben.
SPIEGEL: Wie groß schätzen Sie Ihr Risiko, daß sich die angeschlagene SPD in der Großen Koalition regeneriert? Von sozialen Spannungen im Ostteil der Stadt werden die Sozialdemokraten sicherlich eher profitieren als die Union.
DIEPGEN: Die Große Koalition bietet Chancen für beide Partner. Meine Philosophie ist: Bevor ich lange darüber nachdenke, ob die SPD irgendwelche Vorteile aus diesem Bündnis zieht, konzentriere ich mich lieber darauf, die Koalition zu wirklichen Erfolgen zu führen. Den nächsten Wahlkampf sollten wir nicht vor 1995 planen.
SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, daß dann Ihr Vorgänger Momper ein ebenso glänzendes Comeback hat, wie es jetzt Ihnen gelungen ist? Die Berliner Politik scheint ja immer wieder mal gut für Überraschungen.
DIEPGEN: Ich hoffe, vor allem für angenehme Überraschungen.
SPIEGEL: Herr Diepgen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Mit Redakteuren Jochen Bölsche und Norbert F. Pötzl in DiepgensAmtszimmer im Schöneberger Rathaus.* In der Mainzer Straße, nach den Krawallen im November 1990.* Oben: mit US-Präsident Reagan (1987); unten: mit US-Präsident Bush(1990).* Bei einer Farbeier-Attacke in der FU.