RAUMFAHRT Weg vom Fenster
Es sollte eine Woche ganz nach dem Geschmack des Bundeskanzlers werden, mit Spaß am Beruf. Besonders freute sich Helmut Kohl auf den kommenden Donnerstag, elf Uhr: Inspektion französischer Truppen in Baden-Baden, Seit' an Seit' mit Staatspräsident Francois Mitterrand.
Doch Anfang dieser Woche erfuhr der Regierungschef, daß das Treffen mit dem Franzosen Schwierigkeiten birgt. Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Forschungsminister Heinz Riesenhuber kündigten ihm auf dem Dienstweg an, Freund Mitterrand werde unangenehme Fragen stellen.
Das Schlimme: Jeder seiner Helfer empfiehlt dem Kanzler eine andere Antwort.
Die irdischen Probleme entstehen Kohl wegen einer fälligen Entscheidung über den Weg der Bundesrepublik ins All. Dabei dachte der Kanzler, er hätte das Problem längst vom Tisch. Anfang vorigen Jahres hatten elf europäische Staaten sich entschieden, »Europas Eigenständigkeit und Wettbewerbsfähigkeit« solle auf »alle Bereiche der Raumfahrt ausgedehnt werden«.
Konkret beschlossen die in der »Europäischen Raumfahrtagentur« zusammengeschlossenen Länder, unter französischer Federführung die Trägerrakete Ariane V zu entwickeln und sich unter deutscher Projektleitung am Bau der US-Weltraumstation Columbus zu beteiligen. Kosten für die Bundesrepublik: rund vier Milliarden Mark.
Da das Geld erst in einigen Jahren fällig wird, widersprach Finanzminister Gerhard Stoltenberg nicht. Doch der Griff nach den Sternen war dem Etat-Herrn schon Anfang vorigen Jahres verdächtig.
Am 16. Januar 1985 diktierte er ins Kabinettsprotokoll: »Mit der Verwirklichung dieser beiden Programme sind unter den gegebenen Umständen die Möglichkeiten der Bundesregierung, zivile Raumfahrtvorhaben vergleichbarer Größenordnung in Angriff zu nehmen, erschöpft.«
Die Bonner Sparmaxime hinderte die technikbesessenen Franzosen nicht, weitere extraterrestrische Phantasie zu entwickeln. Um von den Amerikanern wirklich unabhängig zu werden, so argumentierte Mitterrand, bedürfe es eines eigenen »Rückkehrvehikels« (Genschers Planungschef Konrad Seitz), mit dem wie mit den US-Raumfähren Menschen und Material von der Umlaufbahn um die Erde wieder zurückgeholt werden
können. Die neue Raumfähre, die von den Franzosen zur Zeit noch allein projektiert wird, soll »Hermes« heißen. Noch in diesem Frühjahr will Paris die anderen Europäer, hauptsächlich die finanzstarke Bundesrepublik, einladen mitzumachen und vor allem mitzuzahlen.
Mitterrand drängte Kohl schon beim deutsch-französischen Gipfel im Dezember, sich zu beteiligen. Kohls Antwort in Paris: Wenn er gezwungen werde, schon 1986 über den bundesdeutschen Zuschlag zu entscheiden, müsse die Antwort »nein« heißen. Der Freund solle ihm bis 1987 Frist geben.
Aber der Freund mag nicht. Mitterrand ist in außerirdischen Angelegenheiten ohnehin sauer auf Kohl: Bei dem von den Franzosen gewünschten europäischen Spionage-Satelliten hatte der Kanzler erst eine deutsche Mitarbeit avisiert, dann eine gemeinsame Kommission zwecks Erarbeitung von Verbesserungen gewünscht und war schließlich ausgestiegen: Es bestehe kein Bedarf für den Himmelsspion.
Die Franzosen beschwerten sich bei deutschen Diplomaten. Der Kanzler könne nicht erst den Mund voll nehmen und sich dann an Absprachen nicht halten.
Um Mitterrand wieder freundlich zu stimmen, rät Genscher, Kohl solle am Donnerstag bei der Parade eine Bonner Mitarbeit bei Hermes ankündigen.
Der Außenminister macht es dringend. Auf dem Spiel stehe nicht nur die deutsch-französische Freundschaft, sondern zugleich die Zukunft der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie und mehr. Genscher: »Wer sich beim Weltraum ausklinkt, der wird am Ende des Jahrhunderts weg vom Fenster sein.«
Dem sparsamen Stoltenberg versucht Genscher seine Forderung mit dem Argument schmackhaft zu machen, bis zum Jahr 1990 koste Hermes jährlich nur ein paar Millionen, die der Kollege Riesenhuber locker freimachen könne.
Tatsächlich veranschlagen die Franzosen die Kosten für das Hermes-System mit 6,6 Milliarden Mark. Dabei sind noch nicht einmal die Ausgaben für das weltweite Satellitennetz berücksichtigt, das zur Überwachung der Hermes-Flüge erforderlich ist und weitere sechs Milliarden verschlingen wird. Weitere Gelder wären für den Neubau des europäischen Weltraumbahnhofs Kourou in Französisch-Guayana und für neue Fertigungsstätten der Trägerrakete Ariane V nötig.
Angesichts solcher Unwägbarkeiten spielt Forschungsminister Riesenhuber erst einmal auf Zeit. »Wir sollten alles tun«, empfiehlt er dem Kanzler, »den Entscheidungstermin 1987 zu halten.« Er glaubt sogar: »Hermes ist nicht ohne Alternativen.«
Riesenhubers Zweifel wurden durch die Lektüre einer Studie der »Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt« (DFVLR) genährt, die eine deutsche Mitarbeit an Hermes glühend befürwortet.
Die Gutachter gehen davon aus, daß die Europäer vor dem Jahr 2000 in der bemannten Weltraumfahrt autonom sein müssen. Das sei nur mit dem französischen Projekt zu schaffen. Weil dieser Zeitplan für den Forschungsminister nicht zwingend ist, wiegen die von den Fachleuten beschriebenen Nachteile von Hermes für ihn um so schwerer.
Der Minister fürchtet, in eine Technik zu investieren, die schließlich erheblich mehr kosten wird als jetzt veranschlagt und die beim ersten Start kurz vor der Jahrtausendwende schon veraltet sein könnte.
Der »kleine billige Shuttle« Hermes kann nämlich pro Start maximal nur viereinhalb Tonnen Nutzlast ins All befördern, die heute gebräuchliche US-Raumfähre schafft bereits jetzt 18 Tonnen. Hermes wäre deshalb gar nicht geeignet, eine dauernd bemannte Raumstation zu versorgen - der Weltraum-Stützpunkt könnte nur zeitweilig besetzt sein.
Zudem sagen die Gutachter voraus, daß die Amerikaner Anfang des nächsten Jahrtausends ein völlig neuartiges Weltraum-Transportsystem einsatzfähig haben werden, das Nutzlasten für nur zehn Prozent der heutigen Kosten in eine Umlaufbahn bringen kann. »Ein Transportsystem vom Typ Ariane V/Hermes wird dann nicht mehr wettbewerbsfähig sein.«
Schließlich haben Riesenhubers Fachleute erhebliche Bedenken gegen den Standort Kourou als Erdbasis. Der exotische Standort bedingt, daß der europäische Stützpunkt im All auf einer Umlaufbahn angesiedelt wäre, die jeden Kontakt mit der US-Raumstation »definitiv ausschließt« - selbst eine Rettungsaktion von Raumstation zu Raumstation wäre unmöglich.
Für die Franzosen rechnet sich das Hermes-Konzept trotz allem: Ihre staatliche Luft- und Raumfahrtindustrie hätte auf Jahre zu tun, und die von den anderen Europäern mitfinanzierte Technologie ließe sich zudem noch militärisch nutzen.
An einen Nutzen für die deutsche Wirtschaft glaubt Hermes-Befürworter Genscher. Der Außenminister hofft, Kohl mit dem Arbeitsplatz-Argument auf seine Seite ziehen zu können.
Zwar hütete er sich in der vergangenen Woche, beim Gespräch mit seinem Kollegen Roland Dumas in Paris irgendwelche Zusagen zu machen. Daheim aber berichtete er, was in den Franzosen vorgeht: »Sie spüren, daß Bonn in eine sehr akzeptable Richtung denkt.«