GOERGEN Wegen Betrugs pp.
Mit der Entschlossenheit von Stoßtruppkämpfern stürmten am Mittwoch vergangener Woche um 9.59 Uhr elf Männer in das Vorzimmer des Generaldirektors der Henschel-Werke AG in Kassel. Chefsekretärin Frau Königstein wunderte sich: »Sie haben sich sicher geirrt.«
Der breitschultrige Anführer verneinte; man habe sich keineswegs geirrt und wünsche Herrn Dr. Goergen zu sprechen. Frau Königstein bedauerte: »Sie sind aber nicht angemeldet.«
Da zückte der Herr einen amtlichen Ausweis und stellte sich vor: »Staatsanwalt Rath von der Staatsanwaltschaft Koblenz. Wir müssen hier eine Hausdurchsuchung vornehmen.« Noch ehe die Vorzimmerdame ihrem Chef den ungebetenen Besuch avisieren konnte, marschierten Rath und zwei Begleiter in das Büro von Goergen, der gerade mit drei Angestellten seines Maschinenbaus konferierte.
Fritz J. Rath, Experte für Bundeswehr-Korruption, eröffnete dem Henschel-Generaldirektor und -Mehrheitsaktionär, Dr. rer. pol. h. c. Fritz-Aurel Goergen, 54, daß gegen sein Unternehmen und mehrere leitende Angestellte ein Ermittlungsverfahren »wegen Betrugs pp.« eingeleitet worden sei.
»Prinz Aurel«, der nach dem Kriege den Düsseldorfer Stahl- und Röhrenkonzern Phoenix-Rheinrohr AG aufbaute - aus dem er 1957 mit Krach und 2,648 Millionen Mark Abfindung ausschied - und von 1959 an das notleidende Familienunternehmen Henschel sanierte, mußte sich einer Leibesvisitation stellen. Die Beamten ließen sich auch den Inhalt seiner Brieftasche vorblättern. Dann begann Raths Gruppe die Aktenschränke zu durchstöbern.
Das Aktenstudium setzte gleichzeitig an mehreren Orten ein. Nachdem die Aktion vier Tage lang vorbereitet worden war, strömten etwa hundert Staatsanwälte, Kriminalbeamte und Steuerfahnder
- in 'die Büros der Henschel-Hauptverwaltung und der Henschel-Flugzeugwerke AG in Kassel,
- in die Kontore der Tochterfirmen E. W. Bliss-Henschel GmbH und Henschel-Export GmbH, Düsseldorf,
- in Goergens Landsitz in Hösel bei Düsseldorf und in das Henschel -Gästehaus auf dem Kasseler Dachsberg sowie
- in die Privatwohnungen der Bereichsleiter Dr.-Ing. Fritz Wenck und Herbert Gundlach, des Hauptabteilungsleiters Gernot Friedrich und des Unterabteilungsleiters Hieser. Hessens Kriminalamt hatte die Stoßtrupps aus zahlreichen Dienststellen rekrutieren müssen. Weil die Beamten einander nicht kannten, trug jeder -von ihnen als Erkennungszeichen eine Nadel mit rosarotem Kopf im linken Rock revers. Ihre erste Amtshandlung: Sie blockierten die Telephonleitung des Konzerns. Das Kasseler Lastwagen-, Lokomotiv- und Maschinenbau-Unternehmen (Jahresumsatz 1963: 500 Millionen Mark; 12 500 Beschäftigte) war
von der Außenwelt abgeschnitten. In Goergens Landhaus in Hösel, Waldstraße 10, waren zehn Beamte beordert worden.
In den Räumen des Vorstandes und der Rüstungsabteilungen studierten die Beamten alle Akten und Briefe und legten sie beiseite, sobald sie darin Hinweise auf qHenschels Reparaturarbeiten an amerikanischen Panzern entdeckten. In einem blauen VW-Bus stapelte sich das konfiszierte Papier.
Während sich die Beamten bei der Konzernverwaltung in der Kasseler Henschelstraße 2 durch die Aktenfluchten arbeiteten, landete um 17.17 Uhr auf dem Flugplatz Kassel-Waldau die zweimotorige Firmenmaschine D - IHSK vom Typ Queen-Ail. Ein Sechser-Kommando umzingelte die aussteigenden Vorstandsmitglieder Gerhard Hollmann und Günter Nawrath sowie den Einkaufs-Chef Gundlach, die von einer Belgienreise zurückkamen: »Kriminalpolizei. Dürfen wir Ihre Ausweise sehen? Aber bitte nacheinander, damit es nicht so auffällt.«
Cheftechniker Hollmann und Finanzchef Nawrath wurden zuerst überprüft und fuhren mit ihren Wagen in die Stadt. Unterwegs merkten sie, daß ihnen der schwarze Opel-Kapitän ihres Einkäufers Gundlach nicht folgte. Im Werk erfuhren sie den Grund: Gundlach, 52, war an der Maschine verhaftet worden. Zur selben Zeit nahm in Belgien Interpol den Unterabteilungsleiter Hieser, 55, Gundlachs Einkaufsmann für Rüstungsware, in Haft.
Henschel-Boß Goergen war zunächst weder vernommen noch über den konkreten Anlaß der Aktion ins Bild gesetzt worden. Er drängte den Staatsanwalt Rath immer wieder, ihn zu vernehmen; er werde jede Auskunft geben. »Nur schonen Sie mir die Henschelei, denn geschäftsschädigende Folgen sind nicht zu übersehen.«
Erst durch einen telephonischen Hilferuf des Amtsrichters Dr. Jansen aus Goergens Haus in Hösel erfuhr »Prinz Aurel«, was gegen seine Firma vorlag. Der Richter hatte bei der Durchsuchung in Hösel Goergens Tresor entdeckt und konnte ihn nicht öffnen. Der Generaldirektor nannte Jansen die Zahlenkombination, dafür klärte ihn Jansen auf: »Sie stehen unter dem Verdacht, amerikanische Ersatzteile an die Bundeswehr zu überhöhten Preisen verkauft zu haben.«
Jetzt bestand Goergen darauf, sofort vernommen zu werden. Bis 21.30 Uhr stand er dem Staatsanwalt Rath und dessen Beamten Rede und Antwort.
Oberstaatsanwalt Karl Schäfer, Leiter der Staatsanwaltschaft in Koblenz, wo auch das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung ansässig ist, hatte am Nachmittag verlautbart: Bei einer Überprüfung von Ersatzteillieferungen für amerikanische Panzer, die heute noch bei der Bundeswehr eingesetzt seien, habe sich ein Betrugsverdacht ergeben. Die fraglichen Lieferungen stammten aus den Jahren 1960 und 1961.
Wer die Staatsanwaltschaft auf die Henschel-Spur gesetzt hatte, blieb vorerst ein offenes Geheimnis. Das Bonner Verteidigungsministerium, das eigens ein Referat »Verhältnisse im Verkehr mit der Wirtschaft, Ermittlung in Sonderfällen« - zur Korruptionsbekämpfung unter dem Regierungsdirektor Karl Helmut Schnell unterhält, bekannte sich nicht zur Urheberschaft.
Dennoch war zu erfahren, was Bonn den Kasselern vorwarf: Henschel habe zur Reparatur von Bundeswehrpanzern amerikanischer Produktion gebrauchte Ersatzteile aus den USA importiert, sie aber zum Neupreis in Rechnung gestellt. Der voraussichtliche Schaden der Bundeswehr belaufe sich auf über eine Million Mark.
Seit Jahren bekommen die Henschel -Werke umfangreiche Wehraufträge (1963: 51,6 Millionen Mark). So war ihnen auch im Rahmen eines »Betreuungsvertrags« die Wartung der USPanzertypen M 41/42, M 47 und M 48 anvertraut worden, mit denen Amerika die Bundeswehr in ihrer Anlaufzeit ausgerüstet hatte.
Für diese Panzer lieferte Goergens Konzern in den Jahren 1960 und 1961 Ersatzteile im Wert von insgesamt 28,7 Millionen Mark; darunter waren für 6,8 Millionen Mark US-Importe. Da bei Rüstungsgeschäften einer Gewinnmarge von rund fünf Prozent der Selbstkosten bewilligt wird, muß Henschel aus den US-Teilen etwa 340 000 Mark erlöst haben.
Goergens Rüstungsmanager verwahren sich gegen den Vorwurf, um solcher Summen willen alt für neu verkauft zu haben.
Soweit die Ersatzteile nicht bei Henschel selbst hergestellt werden konnten, habe man nach dem vom Bund vorgeschriebenen Verfahren jeweils mindestens drei Firmen zu Angeboten aufgefordert. Das nach Preis und Lieferzeit günstigste Angebot habe den Zuschlag erhalten.
Allerdings hatten es die Kasseler oft schwer, die Berechtigung der geforderten Preise nachzuprüfen. Da sie vom Verteidigungsministerium weder Konstruktionsunterlagen noch Originalersatzteile bekommen hatten, besaßen sie keine Anhaltspunkte zur Begutachtung des gelieferten Materials.
Überdies wurden der Firma von den Bundeswehrbeschaffern bei Bestellung neuer Teile vielfach lediglich sogenannte Versorgungsnummern angegeben. Henschel mußte blind bestellen, ohne zu wissen, um was es sich handelte. Auch in solchen Fällen hatten Goergens Einkäufer naturgemäß keinerlei Preismaßstäbe.
Trotz solcher Schwierigkeiten spürten Goergens Manager mehrfach US-Lieferungen auf, deren Preis offenkundig in krassem Gegensatz zu ihrem Wert stand. Solche »goldenen Nägel« (Einkaufschef Gundlach) seien regelmäßig bereits beim Zoll zurückgewiesen worden.
Zu dem Vorwurf, Henschel habe gelegentlich auch Ersatzteile gekauft und mit einem Preisaufschlag von 100 Prozent direkt an die Bundeswehr geliefert, heißt es in Kassel: Bei Handelsware können derartige Aufschläge erforderlich werden, wenn die Ersatzteile nicht einwandfrei sind und im Werk mit entsprechendem Kostenaufwand überholt und geprüft werden müssen.
Fritz-Aurel Goergen glaubt sich deshalb in einer guten Abwehrstellung. Er will Bonns prominentesten Rechtsanwalt; Professor Dahs, beauftragen, den Kampf für Henschel zu führen. Goergen weiß, daß für sein Prestige und das gerade erst sanierte Unternehmen viel auf dem Spiel steht.
Wenn die Staatsanwaltschaft ihre Anschuldigung erhärten kann, werden die Henschel-Manager wegen Betruges verurteilt. Außerdem kann das Bundesverteidigungsministerium zivilrechtlich Schadenersatz gegen Henschel und seine Direktoren geltend machen.
Dabei wäre es für die Firma von entscheidender Bedeutung, ob Firmeneigentümer Goergen an einem Betrug mitgewirkt hat oder ob nur Angestellte ohne sein Wissen straffällig geworden sind.
Sollte sich herausstellen, daß die Henschel-Werke den Bund betrogen haben, dann, so ließ Bonn durchblicken, muß das Unternehmen mit einer fristlosen Kündigung des Panzerbetreuungsvertrags rechnen.
Darüber hinaus wird ein Schuldspruch wahrscheinlich auch dazu führen, daß der Bund einen den Henschel-Werken bereits erteilten Riesenauftrag annulliert: die Lieferung von 300 Schützenpanzern im Wert von 150 Millionen Mark.
Henschel-Chef Goergen
Fahndung im Privat-Tresor
Goergen-Wohnhaus in Hosel: Goldene Nägel zurückgewiesen