Wehner: »Das Ende ist nahe«
Helmut Schmidt ließ keinen Zweifel an sich selber zu. Wieder einmal wußte der Kanzler genau, wem er seine Schwierigkeiten zu verdanken hat -- den anderen.
Auf der Vorstandssitzung der SPD am Montag vergangener Woche in Bonn ließ Schmidt seine Führungskollegen wissen, daß er fürderhin nicht mehr geneigt sei, sich »portionsweise demontieren« zu lassen.
Am Beispiel der vier SPD-Abweichler Manfred Coppik, Karl-Heinz Hansen, Dieter Lattmann und Erich Meinike, die bei den Antiterrorgesetzen im Bundestag mit der Opposition gestimmt hatten, ereiferte sich der Chefankläger im großen Saal der Bonner Parteizentrale, er fühle sich von Partei und Fraktion nur unzureichend unterstützt. Und wenn Hansen nun auch noch beginne, der Regierung vorzuwerfen, sie decke alte Nazis, sei das Maß voll. Schmidt: »Das muß Konsequenzen haben.«
An diesem Punkt fetzte Herbert Wehner dazwischen: »Leicht gesagt. Welche Konsequenzen?«
Längst hatte der Fraktionsvorsitzende alle Möglichkeiten erwogen, um »diesen Leuten, die der Regierung Fallen stellen«, das Handwerk zu legen. Ohne Erfolg -- wer an Mandatsentzug oder Fraktionsausschluß denke, so Wehner, den könne er nur aufklären: »Das geht nicht, die sind vom Volk gewählt.«
Die Stimmung um Parteichef Willy Brandt, entdeckten tags darauf die Delegierten des aus Parteirat und Kontrollkommission zusammengesetzten kleinen Parteitages, entsprach der Stimmung an der Basis: Alle rufen nach Geschlossenheit, und keiner weiß, wie sie zu erreichen ist.
In der Woche vor den wichtigen Kommunalwahlen in Bayern und Schleswig-Holstein, nur wenige Monate vor entscheidenden Abstimmungen in vier Bundesländern verhalfen die SPD-Oberen ihrer Gefolgschaft nicht zu dem ersehnten Auftrieb. Statt neuer Ziele gab es Ratlosigkeit, statt attraktiver Argumente düstere Beschwörungen.
Aus Bayern meldete sich die CSU mit der fröhlichen Prognose, sie werde die Sozis mit fetter Mehrheit aus dem Münchner Rathaus vertreiben; in Düsseldorf blamierte die Union die dortigen Sozialliberalen mit einem haushohen Sieg beim Volksbegehren gegen die Koop-Schule.
In der Druck- und Metallindustrie zeichnete sich Ende letzter Woche der möglicherweise härteste Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik ab -- und dies zu einem Zeitpunkt, an dem das traditionelle Bündnis von SPD und Gewerkschaften ohnehin durch die Auseinandersetzungen um die Rentensanierung Schaden genommen hat.
Der SPD-Präside und Schmidt-Kritiker Erhard Eppler lakonisch: »Die Partei weiß nicht mehr, wohin das alles läuft. Wir können nicht jahrelang von Mogadischu leben.«
Nur allzu schnell ist das in den Tagen der Schleyer-Entführung scharf konturierte Bild vom starken Kanzler erblaßt. Jetzt rächt sich, daß Schmidt und seine sozialdemokratischen Minister in den zurückliegenden Jahren ihre zähneknirschende Part ei dazu nötigten, auf allen Feldern der Innenpolitik mit der Union um konservative Lösungen zu wetteifern.
Mal waren es unternehmerfreundliche Steuersenkungen, die für Arbeitsplätze sorgen sollten, mal war es der Verzicht auf eine Berufsbildungsabgabe, um jugendliche Arbeitslose von den Straßen zu holen, mal war es der Radikalenerlaß, der den öffentlichen Dienst sauberhalten sollte immer wieder strapazierte die Regierungspartei die Loyalität der Genossen an der Basis.
Bitter kommentierte SPD-Programmatiker Erhard Eppler nach der Sitzung des Parteirats: »Die Leute wissen nicht mehr so recht, warum sie für die Sozialdemokraten arbeiten sollen. Hochgestochen nennt man das »Identitätskrise.
Dennoch stoßen alle Versuche linker Sozialdemokraten, über Alternativ-Standpunkte zur inneren Sicherheit, Renten oder Arbeitslosigkeit nachzudenken, bei den Oberen auf geballtes Mißtrauen. Sowohl der Parteivorsitzende Brandt als auch der zum linken Flügel zählende südhessische SPD-Vorsitzende Rudi Arndt distanzierten sich umgehend von einem kleinen Diskussionszirkel, der am vorletzten Wochenende im Keller eines Oberhausener Gartenrestaurants über die innere Sicherheit debattiert hatte.
Um die Macht in Bonn gemeinsam mit der FDP zu erhalten, locken die führenden Sozialdemokraten lieber die Gespenster der Geschichte hervor. Im Stile Konrad Adenauers beschwören sie den Untergang des sozialen Rechtsstaates. Brandt, Schmidt und Wehner werden nicht müde, den Genossen einzuhämmern, die SPD sei 1976 nicht gewählt worden, um die Bundesrepublik 1978 an Strauß und Dregger auszuliefern.
Damit erhält künftiges Abweichen von der Fraktionsdisziplin -- sei es beim Meldegesetz oder der Renten-Novelle, bei der Neutronenbombe oder dem Todesschuß -- die Qualität einer politischen Todsünde. Dem Abweichler Erich Meinike dämmerte im Parteirat: »Die Dolchstoß-Legende ist schon fertig.«
Auch wer öffentlich gegen den liberalen Koalitionspartner motzt, wird verwarnt -- ohne Rücksicht auf Rang und Namen. So erhielt SPD-Vize Hans Koschnick vom Präsidium einen Rüffel, weil er die Vermutung gewagt hatte, die FDP meine es wohl nicht mehr so ernst mit dem Bündnis.
Unter diesen Umständen mögen die Appelle der Parteispitze an die sozialdemokratischen Tugenden Disziplin und Gehorsam ausreichen, um das Anti-Terrorgesetz auch nach einer Zurückweisung durch den Bundesrat mit absoluter Stimmenmehrheit noch einmal zu sichern. Die Grenze freilich ist mit Sicherheit dann überschritten -- darin sind sich von Juso-Chef Gerhard Schröder über Herbert Wehner bis Kanzler Schmidt alle Genossen einig -, wenn die SPD ihre wichtigste Klientel, die Gewerkschaften, aus Gründen der Koalitionsräson vor den Kopf stößt.
Der Streit mit dem DGB ist bedrohlich nahegerückt -- bei Renten, Löhnen und Arbeitsplätzen. Im Parteirat blockte der Kanzler noch einmal alle Änderungswünsche am Rentenkonzept der Regierung ab. »Es gibt keine in der Koalition durchsetzbare Alternative.«
Es gibt aber auch -- trotz aller beschwichtigenden Darstellungen aus dem Kanzleramt -- bislang kein Einverständnis des DGB zur Preisgabe der bruttolohnbezogenen Rentensteigerungen.
Noch stärker kommen die Sozialdemokraten ins Gedränge, wenn bei andauernder wirtschaftlicher Flaute der Unternehmer-Druck auf die um Lohnprozente und sichere Arbeitsplätze kämpfenden Gewerkschaften zunimmt. »Dann müssen wir uns äußern«, verlangte im Parteirat Ex-Bildungsminister Helmut Rohde.
Der Schwabe Eppler hat in seiner streikbedrohten Heimat von Metallern die fatale Einschätzung mitgebracht: »Die Gewerkschafter fühlen sich von der Partei im Stich gelassen. Sie haben das Gefühl, daß die Philosophie der Regierung und der Unternehmer übereinstimmt.«
Was Wunder, daß bei so viel Bonner Düsternis auch wieder die Stimme jener Polit-Kassandra zu vernehmen ist, die schon früher bewiesen hat, daß sie über die Gabe der selffulfilling prophecy verfügt. Einen Besucher erschreckte SPD-Fraktionschef Herbert Wehner mit der dürren Prognose: »Das Ende ist ganz nahe.«