STADTSTREICHER Weihnachtliche Milde
Der Angeklagte vor dem Hamburger Amtsgericht ist von der Sorte, die Staatsanwälten und Richtern selbstgefällige Heiterkeit abringt, natürlich nur bis zur Urteilsverkündung.
Gustav Reinhold Strauß, 49, steht in Sträflingshose im Gerichtssaal, schlank, mittelblond, ein einfältiger, freundlicher Mann. Der arbeitslose Kfz-Schlosser soll 34mal schwarzgefahren sein. »Ach, wissen Sie«, sagt er treuherzig dem Richter, »das war viel öfter, eigentlich jeden Tag.«
Von Januar bis April dieses Jahres war Gustavs Hauptwohnsitz die Hamburger S-Bahn, immer erster Klasse, immer ohne Miete. Vom Amtsrichter wurde er deshalb - und für ein paar Fälle von Mundraub - einige Tage vor Weihnachten zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, ohne Bewährung. Der Staatsanwalt sprach noch von »einer Sternstunde weihnachtlicher Milde«.
Strauß, ein Mann aus ärmlichen Verhältnissen in einem niedersächsischen Dorf, ist Stadtstreicher. Er war irgendwann nach Hamburg gekommen, ohne hier Fuß fassen zu können. »Weil''s draußen so lausig kalt war«, fuhr Gustav den ganzen Tag S-Bahn. So toll trieb er es, daß Kontrolleure ihn einmal zur selben Stunde gleich an zwei verschiedenen Orten gesehen haben wollen.
Der Bettelmann, befindet die hanseatische Justiz, sei »nicht mehr sozialtherapeutisch zu fassen. Das Gesamtbild ist furchtbar ungünstig bei ihm«. Strauß ist einer aus der mittlerweile wieder rasant zunehmenden Randgruppe der sogenannten Nichtseßhaften, jener Menschen, die in der wirtschaftlichen Flaute und nach der politischen Wende den Rückzug des Sozialstaates am deutlichsten zu spüren bekommen.
Mit den Arbeitslosen ist die Zahl der Wohnungslosen angestiegen, in den letzten zwei Jahren um 20 000 auf 100 000. Die Hilfsangebote für die Vagabunden hingegen, erklärt Heinrich Holtmannspötter von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaftenhilfe in Bethel, seien »auf einem Stand von Mitte der siebziger Jahre geblieben«.
Statt mehr für wird zunehmend mehr gegen die Obdachlosen getan. Während die Zahl der Penner-Unterkünfte (15 000) und -Beschäftigungsplätze (4500) in den Großstädten seit Jahren stagniert, werden in kleineren Städten Asyle zuhauf geschlossen - obwohl nach dem Bundessozialhilfegesetz Obdachlosen »Hilfe zur Überwindung der Schwierigkeiten zu gewähren« ist.
Allzuviel Fürsorge für diese Randgruppe haben Stadtverwalter immer schon für wenig opportun gehalten. Seit Jahren werden Wohnsitzlose mit bürokratischer Abneigung verfolgt, vor die Tore der Stadt abgeschoben und fern von allen Verkehrsmitteln ausgesetzt (wie 1980 in Mainz) oder auf der Polizeiwache schwer mißhandelt (wie 1982 in Düsseldorf).
Die Stadt München erließ 1982 eine Verordnung, nach der alle Nichtseßhaften aus den Einkaufszonen der City vertrieben werden konnten. In Friedrichshafen am Bodensee verscheuchten im vorletzten Sommer Wachmänner mit scharfen Hunden die struppigen Zecher.
Rechtzeitig zur letzten hessischen Landtagswahl versprach Frankfurts Oberbürgermeister Wallmann, der Spitzenkandidat der Landes-CDU, er werde eigens ausgebildete Hilfspolizisten einsetzen, die mit den Tippelbrüdern schon aufräumen würden - ein Verfahren, das eindeutig rechtswidrig ist. Denn Stadtstreicher, urteilte im Sommer der badenwürttembergische Verwaltungsgerichtshof, stellen »keine hinreichende abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung« dar.
Noch immer geht in Westdeutschlands Gemeinden die Mär, daß die Streuner an ihrem lausigen Leben Gefallen finden. Doch achtzig Prozent der Nichtseßhaften, ergab eine Untersuchung der »Ambulanten Hilfen e. V.«, ersehnen nichts mehr »als eine geregelte bürgerliche Existenz«.
Der S-Bahn-Penner Strauß etwa, geschieden und kinderlos, wollte in Hamburg, wie er vor Gericht sagt, wieder ein eigenes Zimmer haben und etwas Geld verdienen. Vordem war er in einem Heim für Gestrauchelte untergebracht, wo er für Taschengeld Paletten gestapelt hatte. In Hamburg aber, bei 75 000 Arbeitslosen, war kein Job zu finden.
Weil es ohne Arbeit weder Brot noch Wohnung gab und Gustav sich bei der Sozialhilfe »wohl zu schusselig angestellt« hatte, verlegte er sein Leben in die Bahn. Morgens deckte er sich mit seiner Tagesration ein, Sauerfleisch und Apfelkorn, in der Nacht tauchte er gelegentlich im Asylanten-Wohnheim auf. Der Richter: »Eine entsetzliche Bilanz.«
Eher ein typisches Stadtstreicher-Schicksal. Denn kaputtes Elternhaus und geschiedene Ehen, Arbeitslosigkeit und Alkohol sind, diversen Studien zufolge, die Hauptursachen der Nichtseßhaftigkeit. Zu Stadtstreichern werden, wie es in einem Bericht der Bundesregierung heißt, in 96 Prozent der Fälle Männer, vor allem in der Altersgruppe von 26 bis 40 Jahren. Frauen suchen vielfach einen Ausweg in der Prostitution.
Seit allerorten Bahnhöfe und Ladenpassagen zu Sperrzonen erklärt werden, weichen Penner nachts immer häufiger in Betonnischen und in U-Bahn-Schächte aus. Vor allem in Großstädten, wo es an Asylplätzen mangelt, nächtigen Obdachlose im Winter auf Baustellen, über Lüftungsschächten, zum Teil gar in Bahnhofsschließfächern und in Streugutkisten.
Vor Wochen schon sagte Nichtseßhaftenhelfer Holtmannspötter Westdeutschlands Pennern einen »harten Winter« voraus: »Wir erwarten Meldungen, daß Nichtseßhafte im Freien erfroren sind.« Drei Tage vor Heiligabend traf die erste einschlägige Meldung ein: In Frankfurt, wo es 110 Notübernachtungsplätze, aber 2500 Obdachlose gibt, erfror ein stadtbekannter Bettelmann namens Ivan.
Ein solches Ende, immerhin, bleibt dem Hamburger S-Bahn-Fahrer Strauß vorerst erspart. Den drakonischen Urteilsspruch hat er sofort akzeptiert - im Kittchen war ein Zimmer frei. _(Im Frankfurter Hauptbahnhof. )
Im Frankfurter Hauptbahnhof.