In einer als betulich bekannten deutschen Zeitung, der »FAZ«, war von einem als maßvoll bekannten Journalisten, von Adelbert Weinstein, zweimal Innerhalb von drei Tagen eine Warnung vor den militärischen Aspirationen der Sowjet-Union abgedruckt. Weinstein ist der Militärkorrespondent des Blattes, sein Denken kann für die Voreingenommenheit, Betriebsblindheit, ja man muß schon sagen Borniertheit der Militärpersonen aller Länder und Herren als Zeugnis gelten.
»Kapitulation ohne Krieg« -- und ohne Fragezeichen -- war sein erster Artikel (17. Dezember) überschrieben, »Vom Ural bis zum Atlantik« der zweite (19. Dezember): Die Kapitulation der nichtkommunistischen Länder bis hin zum Atlantik ganz ohne Krieg wurde an die Mene-Wand getekelt.
Weinstein Ist kein Kommißkopp sui generis. Er weiß seit langem, was Carl Friedrich von Weizsäcker uns jüngst noch großartig nachweisen wollte: daß die Bundesrepublik im Ernstfall nicht verteidigt werden, daß es keinen »sinnvollen Kampfauftrag« geben kann; daß ihre Sicherheit in der Aufrechterhaltung des zwischen Ost und West gegebenen Gleichgewichts liegt (man muß zufügen, nicht hierin allein). Aber Weinstein sieht in der Sowjet-Union einen »nationalen Super-Staat, dessen Strukturen von einer expansiven Ideologie bestimmt werden«. Er hält für möglich, daß dieser Super-Staat in Europa »gleichfalls« die Expansion anstrebt.
Dies »gleichfalls« ist verräterisch. Wo denn noch? Ist es denn so verwunderlich, daß die Sowjets der Meinung sind, die Amerikaner hätten im östlichen Mittelmeer und in Südostasien nicht mehr zu suchen als sie selbst? Wo sonst sollen die Sowjets die Amerikaner zwicken, wenn nicht am Suez-Kanal« solange die Amerikaner sich das Recht herausnehmen, ohne erklärten Krieg im kommunistischen Nordvietnam zu bomben, zu verheeren und Kommandotrupps einzusetzen, wie es Ihnen gerade beikommt?
Heute noch wären die Sowjets technisch nicht in der Lage, Ägypten in einem Landkrieg wirksam zu Hilfe zu kommen, wie die USA den Israelis immer noch zu Hilfe kommen könnten, Gott Dank. Also suchen sie gleichzuziehen. Das ist unangenehm für die Nato, aber was soll denn daran »expansive Ideologie« sein? Daß die USA eine nur widerwillig ertragene und mit Ekelgefühlen betrachtete Schutzmacht geworden sind, verdanken sie doch nicht dem expansiven Treiben der Sowjets, sondern ihrem eigenen verbrecherischen Treiben in Vietnam.
»Die Sowjet-Union der Breschnew-Doktrin«, schreibt Weinstein, »bereitet sich auf die Übernahme der Macht in ganz Europa vor.« Das schreibt er so hin, obwohl er dafür, wie er auch zugibt, nur »Anhaltspunkte« hat, oder, muß man hinzusetzen, zu haben glaubt. So geht es einem mit Leuten, die nur Militärpolitik und nicht die wirkliche Lage Im Kopf haben.
Denn das Vorfeld der Sowjet-Union wird in regelmäßigen Abständen von schweren inneren Unruhen erschüttert, alle nase- und alle zwei, drei Jahre lang. Wie sollte diese »periclitirende« (Bismarck), diese über ihren naturgegebenen Machtbereich hinausgetretene Macht daran denken, sich noch Teile des übrigen Europa auf den Hals zu laden? Stimmt es denn nicht, daß sie alle Hände voll zu tun hat, um im Lot zu halten, was in ihrer Einflußsphäre liegt? Ist nicht jede zu rasche und jede zu sehr verspätete Änderung in ihrem Machtbereich für sie lebensgefährlich?
Nein, wer den Sowjet-Führern Absichten in Richtung Westeuropa unterschiebt, liest im Kaffeesatz. Natürlich wären sie froh, die Amerikaner aus Europa herauszubugsieren und West-Berlin kaltzustellen. Aber das sind natürliche, keine kapitulativen Absichten, und eben nur Absichten, man muß ihnen nicht nachgeben. Fraglich ist schon, ob sie an einem völligen Abzug der Westmächte aus Berlin wahrhaft und uneingeschränkt interessiert wären.
Berlin ist auch für die Sowjets ein nützlicher Platz, um die Finger im Teig ihres deutschen Verbündeten zu halten. An einer Berlin-Regelung sind sie interessiert und auch nicht, wie die Westmächte auch. Die Amerikaner hingegen könnten und würden West-Berlin nicht verlassen, auch wenn West- und Ostdeutsche, Brandt, Ulbricht und Strauß sie kniefällig darum bitten würden.
Berlin ist der kritische Punkt, wo alle Gemeinsamkeiten und Divergenzen sich verknoten. West-Berlin kann nur sehr beschränkt gesichert werden, nur so lange, wie die USA sich davon abhalten lassen, in Fernost oder Nahost einen entscheidenden Schlag gegen das Gleichgewicht der Mächte zu führen. Warum also die Panikmache In Deutschlands weihnachtlichster Zeitung?