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DICHTER / RILKE Weisen von Liebe und Tod

aus DER SPIEGEL 13/1956

Durch das Gewühl der Menschen schreitet gelassen ein junger Mann, gekleidet in einen schwarzen altväterischen Gehrock, eine schwarze Binde umschlingt seinen unmodischen Kragen, er trägt einen breiten schwarzen Hut. In der Hand aber hält dieser Seltsame eine farbige Blüte, eine langstielige Iris. Feierlich fast schreitet er mit ihr einher, wie mit einer heiligen Opferkerze.«

Diese Szene stammt nicht aus einem Theater, sondern ereignete sich vor gut sechzig Jahren auf dem »Graben«, der Prager Promenade. Der von Augenzeugen überlieferte Vorgang hat symbolische Bedeutung: Der feierlich mit seiner Blume durch die flanierende Menge schreitende junge Mann im priesterrock-ähnlichen Gewand spielte eine frühe Szene aus seinem eigenen, dem Lebens-Schauspiel des Dichters Rainer Maria Rilke.

Es hat eine Unzahl faszinierter Zuschauer gefunden, eine von den Vorgängen dieses Monodrams magisch gebannte Gemeinde. René Rilke, der sich später Rainer nannte, hat in übertragenem Sinne nie etwas anderes getan als damals auf dem Prager »Graben«. Der Autor des »Stundenbuchs« und des »Cornet« und der »Geschichten vom lieben Gott«, der Dichter der dunklen »Duineser Elegien« und der »Sonette an Orpheus«, der vielkonsultierte Lebenströster - er ist, allzeit in auffallendem Feiergewand, durch die Gemüter seiner Gemeindemitglieder geschritten mit der blauen Blume ihrer Tagträume in der Hand.

Es paßt nur zu gut in dieses Bild, daß Rilke jetzt auch in die Traumfabrik gerät. Eine deutsche Filmgesellschaft hat die weltberühmte »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« bereits auf Zelluloid gebracht (SPIEGEL 44/1955). Etwa zur gleichen Zeit erschien der erste Band der neuen Rilke-Gesamtausgabe(1) - und wurde im letzten Weihnachtsgeschäft für den Insel-Verlag das meistverkaufte Buch.

Die Aktualität dieses Dichters wird auch durch andere Fakten belegt. Die Kriegsbriefe gefallener Studenten des letzten Krieges sind Beweis genug dafür, daß in unzähligen Tornistern ein Dichter mitgewandert ist, der den Vers schrieb: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles« - »den Vers, den meine Generation nie vergessen wird«, wie Gottfried Benn gesagt hat.

Die Auflageziffern weisen aus, daß Rilke als der meistgelesene Lyriker der Gegenwart gelten muß. Die 1899 entstandene »Weise von Liebe und Tod«, 1906 mit 300 Stück gestartet und 1912 als erstes Bändchen der wohlfeilen »Insel-Bücherei« erschienen, erreichte 1950 das 840. Tausend. Die beiden fast populär zu nennenden Briefsammlungen »An einen jungen Dichter« und »An eine junge Frau« hatten 1949 das 295. und das 200. Tausend erreicht. Und die vielumrätselten, bis zum Überdruß ausgedeuteten »Duineser Elegien« samt den »Sonetten an Orpheus«, anspruchsvollste lyrische Gebilde also, hatten es 25 Jahre nach ihrem Erscheinen (1923) auf Auflageziffern von 48 000 ("Elegien") und 69 000 ("Sonette") gebracht.

Rilkes Ruhm drang »mit der Sanftmut fließenden Wassers« (Holthusen) über die Grenzen des deutschsprachigen Kulturraums hinaus. Die Zahl der Übersetzungen ist Legion. Kurz vor, in und nach dem zweiten Weltkrieg wurden die »Duineser Elegien« fünfmal, die »Sonette an Orpheus« viermal allein ins Englische übertragen.

Dieser für einen Lyriker fast beispiellosen Breitenwirkung entspricht der Umfang der Rilke-Literatur. Eine 1951 erschienene Rilke-Bibliographie(2) verzeichnet 57 Gesamtdarstellungen, fast fünfhundert »allgemeine Aufsätze«, über tausend »Einzeldarstellungen«, darunter Dissertationen über »Rilkes Beziehungen zum Etschlande« und »Wie Rilke um die niederdeutsche Landschaft rang« sowie Aufsätze über den »Beter R. M. Rilke«, den »Gottsucher Rilke« und über »Rilke, den Wissenden des Herzens«.

Diese Titel kennzeichnen eine unter den Rilke-Exegeten weitverbreitete Haltung. Viele, wohl die meisten Rilke-Publikationen sind mehr oder weniger aus der Kniebeuge der Anbetung geschrieben - aus einer Perspektive also, die das Bild des Dichters gelinde gesagt verzerrt.

Dieser Vorgang ist symptomatisch. »Es kann wohl als bezeichnend gelten, daß die (Rilke-) Bewegung längst über das Gedicht als solches hinausgegangen ist und das Lyrische schlechthin auf einen ganz neuen, ihm eigentlich wesensfremden Standort gedrängt hat«, sagt Friedrich Sieburg in einem aggressiven Aufsatz über »Rilke, das Zeitsymptom"(3). »Der Dichter ist zum Propheten, zum Verkünder, zum bloßen Träger weltanschaulicher Elemente geworden, und die eigentliche lyrische Form ist fast schon ins Zufällige abgesunken.«

Sieburgs Angriff gehört zu einer Reihe neuerer Veröffentlichungen, die sich abseits halten vom großen Strom der »Hagiographien«, der vor dem buchstäblich vergötterten Gegenstand ihrer literarischen Anbetung gänzlich unkritisch verharrenden »Heiligenbeschreibungen«. Ein frischer Wind fährt neuerdings in die Weihrauchwolken der Rilke-Verehrung. »Ein Grund zur Abwehr entsteht«, sagt Sieburg, »wo das Dichterische den Anspruch einer Weltanschauung erhebt, die wahr, gültig und verbindlich sein will.«

Offenbar wächst der Abstand zu Rilke gelegentlich mit der räumlichen Distanz. Die angelsächsische Literatur hat die unter der dichten Decke der Hagiographien nur kümmerlich vegetierende Rilke-Kritik schon zu einer Zeit gefördert, als Rilke im deutschen Sprachraum auch der Philologie noch immer als sakrosankt galt.

1953 erschien das Rilke-Buch eines Außenseiters in zweifachem Sinne, des Emigranten und Arztes Dr. med. Erich Simenauer(4), eine von der Persönlichkeitsforschung, von der Tiefenpsychologie her angesetzte Untersuchung über »Legende und Mythos« um den Dichter. Das dem »Stundenbuch« Rilkes entnommene Motto dieser wissenschaftlich exakten, dickleibigen Darstellung bezeichnet den distanzierten Standort, der nichts gemein hat mit dem der Rilke-Apologeten: »Und deine Blöße kaum bedeckt der Ruhm.«

Nicht, daß sich nun auch die Psychoanalyse mit dem Phänomen Rilke befaßt, ist so sehr alarmierend für die weltweitverbreitete Rilke-Gemeinde, sondern allein die Tatsache, daß endlich und - wie es scheint, endgültig - ein Tabu durchstoßen wird: die von den Rilke-Hagiographen um die Person ihres Heiligen gezogene Zone des Schweigens.

Nicht ohne Grund ist die Verlegenheit der Rilke-Interpreten so groß. Unter den (bis 1951) nicht weniger als 62 zum Teil ausführlichen Abhandlungen über die »Duineser Elegien« und den 34 verschiedenen Deutungsversuchen der »Sonette an Orpheus« ist kaum ein einziges befriedigendes Ergebnis so angestrengter Bemühung zu finden.

Einer aus dem großen Chor der Rilke-Philologen, Hermann Pongs ("Rilkes Umschlag und das Erlebnis der Frontgeneration"), hat die Schwierigkeit formuliert: »Wer sich gläubig seinen Worten hingibt, ist schon verloren, er sieht sich in ein Labyrinth verstrickt, aus dem kein Ariadnefaden führt.«

Solche Einsicht ist selten; immer noch wächst die Gemeinde derer, die von Rilke »Anweisungen zum richtigen Leben« (Kretschmar), »den verbindlichen Ausdruck der Frömmigkeit« (J. Müller), »klare Richtlinien für die Menschheitsentwicklung« (Ruth Mövius), »Gewißheit über Wert und Unwert des Daseins« zu erhalten hoffen und glauben, Rilke habe eine »angelosophische Gemeinde gestiftet« (Heuschele) und sei auf die Erde »gesandt« worden.

Von diesem Rilke-Kult sagt Simenauer: »Es ist Rilke genau das geschehen, was er selbst als das Schicksal der Insel Capri beschreibt: 'Während dies arme Eiland der Bewunderungsarmee unterlegen ist, die sich Jahr für Jahr darüber ergoß...' 'Hier ist alles auf die traurige Maßeinheit billiger Begeisterung eingegangen...' 'Capri, das aus den Mißverständnissen deutscher Bewunderung gemacht scheint', und das deutsche 'Gemüth' habe sich dort in großem Maße gehen lassen.« Rilke spottet auch über »dieses gewisse Weichwerden des deutschen Gemüths unter dem Einfluß landschaftlicher 'Schönheit', wie Semmeln im Wasser«.

Das Mißtrauen gegen die sich großenteils »existentialistisch« gebende Rilke-Philosophie, deren Ergebnisse sich nirgends eigentlich fassen lassen, auch gegen die Rilke-Philologie, ist also wohlbegründet. Wer »Rilke, das Zeitsymptom« erkennen, das »Warum?« seiner Wirkung ergründen will, muß die vor seiner Gestalt liegende Nebelbank durchstoßen. Simenauer: »Um die Wesenseigentümlichkeiten des Dichters zu umreißen und seinen Standort genügend zu bestimmen, bedarf es über die Art seines Aussagens hinaus einer Beleuchtung seiner Persönlichkeit, seiner seelischen Situation.«

Der mutige Arzt steht mit seiner Ketzerei gegen den Rilke-Glauben nicht allein, er erhielt Hilfe von der Literaturwissenschaft. Simenauer, der sein 800-Seiten-Buch in Ostafrika beendete, konnte nicht wissen, daß zur gleichen Zeit eine Monographie des jungen Dozenten Peter Demetz über »René Rilkes Prager Jahre"(5) erscheinen würde, die seine analytische Theorie durch entscheidende Fakten ergänzt.

Allen Angriffen auf den ärgerlichen Rilke-Rummel, der die Kunst zum Fetisch erniedrigt, aus ihr einen Religionsersatz macht, ist das Bestreben gemeinsam, das verstellte Bild des Dichters in helleres Licht zu rücken. »Spätere Geschlechter werden freieren Zugang haben«, hofft Sieburg, »und sie werden zu erkennen wagen: es war ein Leben für die Kunst.« Auch Simenauer schreibt seine Untersuchung in dem Bewußtsein, daß es sich »um eine großartige geistige Leistung handelt«. »Rilkes eigentliche, unendlich rührende Leistung« war es, rühmt Demetz, »wie Münchhausen sich an seinem eigenen Haar aus dem Sumpf einer gehemmten Jugend und einer armen Sprache emporgezogen zu haben.«

So positiv sich Sieburg, Simenauer und Demetz damit grundsätzlich zu Rilke bekennen: im übrigen stehen sie ziemlich allein. Die 1954 erschienene »erste umfassende Rilke-Gesamtbiographie« aus der Feder von Else Buddeberg(6) unterscheidet sich als »Darstellung eines inneren Weges« nicht grundsätzlich von der üblichen anbetenden Rilke-Literatur, wie das Vorwort dieser »inneren Biographie« beweist: »Es ersteht das ergreifende und uns Heutige wirklich angehende Bild eines künstlerischen Lebensweges von überwältigender Folgerichtigkeit auch in seinen Umwegen. Die Erträgnisse dieses leidenden und kämpfenden Daseins sind uns als hohe Dichtung aufbewahrt.«

Offenbar ist auch Else Buddeberg jener besonderen Rilke-Wirkung erlegen, die zuallererst als Grund dafür gesehen werden muß, daß der beispiellose literarische Erfolg Rilkes geradezu epidemischer Natur ist: der faszinierenden Wirkung auf Frauen. »Ich las - nein, ich betete die ganze Nacht in Rainer Maria Rilkes Buch«, bekennt Rilke-Leserin Magda von Hattingberg und schreibt im Januar 1914 spontan ihrem Autor ("da ich wohl Ihr Freund bin ... aber Sie nicht meiner"). Und sofort kommt Rilkes Antwort: »... Lassen Sie das neue liebe Feuer nicht ausgehen, auch wenn ich jetzt nur selten einmal ein kleines Körnchen Herzharz hineinwerfen kann, daß es Ihnen dufte...«

Wie die derart begonnene Korrespondenz weiter und zu Ende ging, hat die Rilke-Gemeinde in aller Ausführlichkeit durch Rilkes »Briefwechsel mit Benvenuta"(7) erfahren. Er steht in der Reihe der gerade nach dem Kriege so auffällig zahlreichen »Publikationen der Frauen, die einst Rilke in periodischem Wechsel umkreisten« (Buddeberg).

Aber man kann die vielen aus den Boudoirs jetzt ans Tageslicht tretenden Erinnerungen der Seelenfreundinnen des Dichters nicht kurzweg als degoutanten Auswuchs der Rilke-Verehrung von Rilke selbst abtrennen. Sie gehören vielmehr als Dokumente einer aufs äußerste gesteigerten Empfindsamkeit zum Bild dieses Dichters. Sie sind - wenn auch auf tieferer Stufe - durchaus Reflexe seines Wesens.

Schon nach wenigen Briefen hießen die Partnerinnen »Teure«, »Nächste« oder »Schwester«, und der Dichter war »Bruder Rilke« geworden. Der unermüdliche Briefschreiber Rilke verstand geschickt, den Eindruck zu erwecken, sein weibliches Gegenüber dürfe an den seelischen Problemen des Dichters mitleiden.

Die persönliche Begegnung gar hob völlig über alles Begreifen hinaus. »Als ich ging, begleitete mich Rilke noch ein Stück Weges. Zu Hause schliefen schon alle. In meinem Zimmer trat ich vor den großen Spiegel und blickte mich an. Mir war, als hätte ich ein neues, ein geheiligtes Gesicht bekommen, seit ich eine unsterbliche Seele mit meinen irdischen Augen erblickt hatte.« (Magda von Hattingberg, von Rilke »Benvenuta« genannt(8).

Auch Elisabeth von Schmidt-Pauli hat auf Rilkes Stirn den »Glanz der heiligmachenden Gnade« wahrgenommen(9). Sie erinnert sich: »Wenn wir, Freunde und Freundinnen, untereinander unsere Lebensschicksale erwogen und uns zu einer Richtung entschließen mußten, dann frugen wir uns: Was würde Rilke dazu sagen?«

Rilke war diesen und den anderen Frauen - den »sirupseimigen Minnerinnen, wie sie so zahlreich in Rilke den 'Gott' angingen, der sie von den Migränen ihrer Seelchen zu erlösen bestimmt wäre, ... den so geschwätzigen wie tantiemenlüsternen Enthüllerinnen 'parfümierter Confessiönchen', wie ein gewisser Teil der Rilke-Gemeinde sie so gern als belletristische Droge vernascht«, wie der Essayist Gerhard F. Hering formulierte -, Rilke war ihnen eine Erscheinung, die nicht von dieser Welt war. Er ließ sich »Fra Angelico«, »Dottor Serafico« oder schlicht »Bruder« nennen (Magda von Hattingberg-Benvenuta: »Er ist für mich die Gottesstimme, die unsterbliche Seele... alles überirdisch Gute, Hohe, Heilige - aber kein Mensch!") und erzwang auf eine sehr sanfte Weise, daß man sich mühte, seiner unirdischen Gestalt die Berührung mit der Erde möglichst leicht zu machen. Dies nämlich hatte er, der Besitzlose ("Armut ist ein großer Glanz aus Innen"), der unstet von Land zu Land Wandernde, meist bitter nötig.

Der Münchner Professor Herbert Cysarz hat auf Rilkes wirtschaftliche Verhältnisse hingewiesen und dabei ohne alle Beschönigung das ausgesprochen, was »der ortsgruppenreichen deutschen Rilke-Gemeinde als unfein« gilt (Gerhard F.Hering): »Durch viele Jahre fast ohne Hervorbringung, wird er vorwiegend durch fremde Obsorge unabhängig gehalten. Freundeshilfe befreit den Wehrlosen aus allen Wirtschafts-, Kriegs- und Krankheitsnöten, rettet ihn 1919 aus dem Münchner Chaos und bereitet ihm in der Schweiz gute Bleibe und Arbeitsstätte. Monate und Monate lebt er in den Häusern und Schlössern seiner Freundinnen zu Gast; in Gesprächen und Briefwechseln mit ihnen gibt er jahrelang sein Bestes aus: ein esoterischer Edelschnorrer, neben dem Allerweltsschnorrer Peter Altenberg oder dem Gossenschnorrer Peter Hille.«

Aber es war nicht einfach Berechnung, was diese Beziehung Rilkes zu den Frauen stiftete. Die eminent verfeinerte, durchaus feminin geartete Gefühlskultur des Dichters schlug die Brücken. Rilke hat es selbst erkannt:

Denn meine Seele hat ein Mädchenkleid,
und auch ihr Haar ist seiden anzufühlen.

Die Begriffe »Kleid« und »seiden« fließen dem Dichter - »Rilkemännlein« hat ein Freund, der philosophische Schriftsteller Rudolf Kassner, ihn gelegentlich genannt - gewiß nicht von ungefähr in die Feder. Man braucht nicht die Tiefenpsychologie zu bemühen, sondern nur Rilkes Schwiegersohn Carl Sieber(10) nach der Jugend seines Schwiegervaters zu befragen, will man wissen, woher das kommt.

Sieber, dem es angeblich darum zu tun war, »der Legendenbildung um Rilkes Jugend entgegenzutreten«, fixiert dieses Faktum: Frau Sophie - genannt Phia - Rilke steckte ihren am 4. Dezember 1875 in Prag geborenen Sohn René bis zu seinem fünften Lebensjahr in Mädchenkleider. Er trug lange Locken und spielte mit Puppen und Puppenstube. Spielgefährten noch des Elfjährigen waren Mädchen - und die Mutter, mit der René seine Mädchenrolle immer wieder durchspielte. Im »Buch der Bilder« stilisiert Rilke diese Erinnerungen:

Und durch das alles gehn im kleinen Kleid,
ganz anders als die andern gehn und gingen -:
O wunderliche Zeit, ...

Der die Tochter mimende Sohn erfüllte damit einen Wunschtraum der Mutter. Ihr erstes Kind, ein Mädchen, war früh gestorben. Das zweite kam, als sei es zu stark herbeigesehnt worden, als Siebenmonatskind zur Welt - ein Knabe. Die Reaktion der Mutter ist bezeichnend: wenn schon »René«, dann auch »Maria«; Wenn schon ein Junge, dann sollte es wenigstens für die Mutter ein Mädchen sein.

Die Erziehung verlief entsprechend zärtlich, das Baby verbrauchte im ersten Jahr zwei Dutzend Ammen. Deren Engagement ging noch zu Lasten des Vaters, eines aus gekränktem Ehrgeiz freiwillig aus dem Dienst geschiedenen Berufs-Unteroffiziers, der mangels ziviler Fähigkeiten Mühe hatte, sich an der Hand seines einflußreichen Bruders wenigstens bis zum Stationsvorsteher und schließlich zum Revisor hochzuziehen.

Dem Berufssoldaten a.D. waren die von seiner Frau verordneten Röcke seines Sohnes René begreiflicherweise ein Greuel. Das bis ans Perverse heranreichende Idyll von Mutter und Tochter-Sohn mag nicht selten durch die barsche Befehlsstimme des Vaters gestört worden sein.

Aber es war auch Phias Wille, daß René, die Hoffnung des ohne Offizierspatent gebliebenen Soldaten-Vaters, ins Kadettenkorps kam. Nicht zufällig hatte der wohlbehüteten Tochter einer Prager Patrizierfamilie einst das bunte Tuch des forschen Artillerie-Unteroffiziers Josef Rilke derart in die Augen gestochen, daß sie blind wurde für die Intelligenz-Defekte ihres künftigen Gatten. Die Ehe wurde unglücklich; die Eltern trennten sich, als René noch ein Kind war.

Das Kind wurde der Mutter zugesprochen, aber der Vater versuchte auch weiterhin, den Sohn vor den ärgsten Folgen einer ins Allzuzärtliche entarteten Erziehung zu bewahren. Denn das war Phias geheime Hoffnung, die sich seltsamerweise mit ihrem Wunsch nach der bunten Uniform vertrug: den Sohn einmal als gefeierten Dichter zu sehen. Sie selbst, eine aus Bigotterie und verstiegenem Ehrgeiz absonderlich gemischte Frau, hielt sich für schriftstellerisch begabt und veröffentlichte ein Opus »Ephemeriden« mit Sentenzen wie: »Erröten ist zuweilen Pflicht« - »Gnadenbrot ist selten nahrhaft« - »Auch Lorbeerblätter welken«.

Aber Phias Phantasie trieb noch andere Blüten. Von ihr stammt Rilkes fataler Hang zum Adel, zum Leben auf alten Schlössern, der lebenslange Wunsch nach »Edelblut«. Der Einundzwanzigjährige reimt:

Was weinst du, Mutter? Ist das Spind
auch bettelleer, - sei gut!
Ich bin dein blondes Kronenkind,
Und du hast Edelblut!

Genährt wurde die krankhafte Adels-Sucht des Dichters durch den »Familienroman« der Rilkes, der schon einige Kapitel angesetzt hatte, ehe er von Rainer Maria weitergesponnen wurde. Der Onkel Jaroslaw stellte eigens Archivare an, um die Herkunft der Familie aus dem angeblich uralten Kärntner Adelsgeschlecht derer von Rylke, Rülke oder Rulico zu klären. Der Nachweis mißlang. Immerhin hatte der Landtagsabgeordnete Jaroslaw Rilke die Genugtuung, um seiner Verdienste willen in den Ritterstand erhoben zu werden - zum Neidwesen seiner Schwägerin Phia, der Frau eines kleinbürgerlich beschränkten Bahnbeamten.

Die Nobilitierung des Onkels, dazu ein vom Urgroßvater überkommenes sagenumwobenes Siegel, angeblich das Rilkesche Familienwappen (das aber einwandfrei als behördlicher Amtsstempel erkannt wurde) - das alles mag Rilkes eigensinnigen Glauben an seine Adels-Abkunft verstärkt haben. Er hat selbst ausgedehnte Ahnenforschung betrieben, hat - gleich seiner Mutter - den halben Gotha auswendig gekannt und in seinen Briefen die Abstammungs-Legende immer wieder erwähnt, wobei er gelegentlich seine Herkunft auch auf einen Prinzen von Frankreich zurückführte.

An diesem Familienroman häkelte er noch bis in seine letzten Lebensjahre. Daß es sich dabei nicht um eine Marotte, sondern um einen Wesenszug handelte, beweist das Werk an vielen Stellen.

Vollends zu larmoyant-lyrischen Schnörkeln erstarrt ist diese abgeborgte Haltung in der »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Rilke wollte mit dieser dichterischen Paraphrase um die (historische) Figur eines Christoph »Rülke« die Theorie seiner adligen Abstammung stützen. Der Dichter hat sich von diesem Jugendwerk, seinem erfolgreichsten Opus, später gelegentlich distanziert.

Bezeichnend ist auch Rilkes »Selbstbildnis aus dem Jahre 1906":

Des alten lange adligen Geschlechtes
Feststehendes im Augenbogenbau.
Im Blicke noch der Kindheit Angst und Blau
und Demut da und dort, nicht eines Knechtes,
doch eines Dienenden und einer Frau.

Im übrigen hat Rilke das Bild, das seine Leser sich von ihm machten, durch gelegentliche »Bemerkungen genealogischer Art« wie gegenüber seinem französischen Biographen Maurice Betz in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken gewußt:

»Wappen: schwarz und silbern gespalten, mit zwei einander anspringenden Windhunden (ohne Inschrift). Nach alter Überlieferung stammt meine Familie (die immer das gleiche Wappen führte) von jenen Rilkes in Kärnten ab, die dort seit 1276 unter dem Adel erwähnt werden; ein abgetrennter Zweig ließ sich gegen Ende des XV. Jahrhunderts in Sachsen nieder. Von da aus sind zu verschiedenen Zeiten zahlreiche Mitglieder der Familie nach Böhmen ausgewandert, wo mein Urgroßvater das Schloß Kamenitz an der Linde besaß.«

Die Wissenschaft weiß es besser. Josef Nadler - mit seinem einst so opportunen Hang zur Abstammungsforschung - schreibt in seiner »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften": »Wir glauben an diesen Kärntner Adel nicht, auch wenn er bestanden hat, wir glauben an die Tropfen slavischen Blutes, auch wenn sie nur spärlich waren, und wir glauben an seine jüdische Mutter, von der erzählt wird.«

Auch seine Freunde und sogar seine Freundinnen haben ihm dieses Märchen vom unerkannten Prinzen nicht immer geglaubt. Was von seinem blaublütigen Gehabe zu halten war, hat ihm eine seiner Bekannten, die Malerin Albert-Lasard, »in einer Anwandlung übler Laune... einmal ins Gesicht gesagt. Sein blaues Blut, seine adelige Abstammung, das alles war nur Einbildung. In Wirklichkeit waren seine zum Teil sächsischen, zum Teil Kärntner Vorfahren Bauern, sein Großvater war Verwalter«.

Das hinderte den Dichter nicht, einen ausgedehnten, durch devote Klauseln verzierten Briefwechsel mit adligen Herrschaften zu führen. Diesen fatalen Überhang seiner Korrespondenz konnten auch die Bearbeiter der »vom Rilke-Archiv in Weimar, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke« herausgegebenen Auswahl-Briefbände nicht kaschieren. So sind in dem Sammelband der aus den Jahren 1900 bis 1907 stammenden Briefe von insgesamt 117 Briefen nicht weniger als 74, also fast zwei Drittel, an adlige Personen gerichtet. Dieses Verhältnis bleibt ziemlich konstant. In dem Briefband 1914 bis 1921 sind von 144 Briefen, die nicht an seine Frau gerichtet waren, 88 Handschreiben an Aristokraten.

Diese wuchernde Korrespondenz mit erlauchten Partnern war dem Dichter ebenso Bedürfnis wie das Wohnen auf alten Adelssitzen. Mit magischer Gewalt zog es Rilke in diese Atmosphäre von ererbtem Reichtum und feudalem Glanz, und zwar offensichtlich nicht nur, weil er tiefste Abgeschlossenheit für seine literarische Produktion brauchte, sondern weil er für das erlesene Schauspiel seines Lebens, für die Selbststilisierung seiner Person der glänzenden Kulisse bedurfte. ("Schloßpoet« hat er sich selbst einmal genannt und seine schlechte Tasso-Kopie ironisiert.)

Der Wunschtraum seiner Mutter wirkt ein Leben lang nach. Die Attitüde ist bis ins scheinbar Nebensächliche hinein zu verfolgen, zum Beispiel bis in die Gewohnheit, altertümlich exklusiv »thun« und »Juny« zu schreiben.

Rilke betreibt den Herren-Kult bis zum Exzeß. Er sucht sich seine medizinischen Berater - Dr. von Gebsattel, Dr. von Stauffenberg - natürlich in aristokratischen Kreisen. Er logiert lieber in gräßlichen Grand-Hotel-Kästen, als daß er sich in der Zimmer-Preisklasse unter seinen angestrebten Stand begäbe, und eine in der proletarischen Dritten Klasse abgesessene kurze Eisenbahnfahrt, die durch die Begleitung eines weniger anspruchsvollen Freundes nötig wurde, wird ihm zur seelischen Pein.

»Im Grunde hatte er etwas von einem Snob in sich, oder noch ärger: von einem Abenteurer«, hat seine alte Bekannte Albert-Lasard offenherzig geäußert. Auch andere ihm Nahestehende haben sich an dieser allzu großspurigen Lebensart eines Mannes gestoßen, der wahrscheinlich zeitlebens niemals genug eigene Mittel besaß, um diesen Stil durchzuhalten, der aber immer auf »die großen wunderbaren Hilfen, die in fast rhythmischer Folge in mich eingreifen«, seine Hoffnung setzte - und niemals umsonst.

Dafür gibt es mindestens zweierlei Gründe. Rilke war wie kaum ein anderer Dichter ein Mensch mit seinem Widerspruch: ein Mann, der sich der zartesten Empfindlichkeit, einer bis zur Hypersensibilität ausgebildeten Empfänglichkeit seiner Natur rühmen konnte - und in seinen Gedichten davon Zeugnis gab -, der aber eine Elefantenhaut herauskehren konnte, wenn es um jene Voraussetzungen ging, die er als der Ergiebigkeit seiner Natur förderlich postulierte.

Bei der dauernden Jagd des ambulanten Schloßpoeten nach Einladungen auf Adelssitze nimmt seine Quartiersuche bisweilen ganz unlyrisch derbe Formen an. Da heißt es in einem Brief an »meine liebe Gnädigste Frau« Gudi Nölke(11):

»Unsere Würfel, diese Würfel unserer Winter, sind gefallen, die meinen (hélas!) nicht, ohne, daß ich tüchtig gerüttelt und ein wenig betrogen habe; es läßt sich anders nicht sagen. Voilà ce que j'ai fait: ich habe eine Einladung provociert, einfach provociert, bei Leuten, die mir ganz unbekannt sind, von denen ich allerdings seit Jahren wußte, Freundliches, Gutgewilltes -; ... und ab und zu kam jemand und erzählte mir, was es Mme. B. koste nicht an mich zu schreiben, um mich nicht zu stören, und ich rechnete ihr, durch die Jahre hin, diese Zurückhaltung hoch an. Nun aber, in meiner Winter-vornoth, hab ich selbst diesen Bann gebrochen, habe ich am 7. November von St. Gallen aus, mir selber unerwartet, geschrieben, sie gebeten, mich unter den Bedingungen genauester Abgrenzung und Einsamkeit aufzunehmen, - die telegraphische Zusage war schon am nächsten Tage in meinen Händen!

»Nämlich (die Hauptsache vergaß ich -) der ganze Schritt geschah, weil mir erzählt worden war, Bachrachs besäßen seit April oder May ein Schloß in Ascona (Castello San Materno), das sie zu dreien, Frau, Vater und Tochter bewohnten; das wars noch nicht, was den Ausschlag gab; sondern es wurde weiter berichtet, im Parke dieses Schlosses stände abseits ein alter Pavillon, unbewohnt, das sogenannte Châtelet: nun, Sie verstehen, das wars, was mich überwältigt hat. Tadeln Sie mich? Geben Sie mir recht? Ich denke, die Sache selbst wird das eine oder andere thun. Sie kommt mir gewagt, sie kommt mir beinah unmöglich vor...«

Das hinderte den Dichter nicht, der gastfreundlichen Familie nach erhaltener Einladung auf seine sanfte Art einen Korb zu geben. »Was soll ich viel klagen -, mit einem Wort: es hat nicht gestimmt, anpassen wollt ich mich nicht, das sollt es ja nicht sein, so bin ich gar nicht dort eingezogen...«

Der andere Grund dafür, daß Rilke der »großen wunderbaren Hilfen« sehr materieller Art »in fast rhythmischer Folge« teilhaftig wurde, liegt in der Anfälligkeit aristokratischer Schöngeister gegen adlig-seinwollende Literaten. Die Gräfinnen und Baronessen nahmen dem Dichter aus angeblichem Uraltadel seine Legende bereitwillig ab und ihn selbst ebenso gern in ihre Häuser auf. »Nichts kommt den Vorurteilen eines esoterischen Kreises mehr entgegen als die Entdeckung, daß ein Außenstehender, dem aus irgendeinem Grunde Sympathie, Bewunderung und Verehrung zuteil wird, seiner Herkunft nach zu ihm gehört.« (Simenauer.)

Das aber ist die gleiche Schwäche, die der durchschnittliche Rilke-Leser dem Gegenstand seiner Verehrung entgegenbringt - und das ist statt der Werkgestalt immer die Person des Dichters. Die Vieldeutigkeit seiner Verse bietet sich jeder Gemütslage an, begünstigt jede Art von Interpretation.

Immer schafft die unwiderstehliche Sanftmut seiner Sprache den Eindruck einer unmittelbaren Anrede an das lesende Gegenüber, das als Auszeichnung empfundene Gefühl, daß der Dichter seinen jeweiligen Leser favorisiere. Der aber fühlt sich seltsam erhoben - nicht anders als die vielen Frauen, die der Dichter seines Glücks einer langerwarteten, unwiederholbaren Begegnung versicherte.

Dieses Phänomen eines fehlgeleiteten literarischen Interesses hebt allen notwendigen Abstand zum Kunstwerk auf und konstituiert die heimliche Aristokratie der unzähligen Rilke-Vertrauten, die Rilkes Einsamkeit für die ihre halten und aus seiner Lyrik eine Lebenshaltung herleiten. »In Rilke hat der formblinde deutsche Hang nach Weltanschauungsdichtung eine erregende Stimme gefunden.« (Boehlich.)

Das Gefühl, herausgehoben zu sein und nicht in die - wie Rilke sich einmal ausdrückt - vom »Pflichtbewußtsein geleitete Ordnung« braver Bürgerlichkeit zu gehören, hat schon der junge René kultiviert, als er kaum erst dem muffigen Kleinbürger-Milieu der Seinen entronnen war: einer Familie, die schnell die Betten zusammenschlug und falsche Etiketten auf die Weinflaschen klebte, wenn sie eine »Gesellschaft« gab; einer Mutter, die mit Vorliebe in abgelegene böhmische Dörfer, damit aber in die Nähe hochherrschaftlicher Besitzungen in die Ferien fuhr und dort in ihrem nach der Tracht verwitweter Erzherzoginnen geschnittenen Schwarzseidenen promenierte.

Später übersiedelte sie nach Wien, um dem kaiserlichen Hofe näher zu sein. Daß diese völlig vom Schein lebende Frau, die den gefeierten Dichtersohn in ihrem Alter mit »Du Prachtmensch« anredete, es auch im Gespräch mit der Wahrheit nie ganz genau nahm, hat Rilke selbst überliefert.

Aber es ist doch nur eine andere Szene in dem gleichen Schauspiel, die Rilke aus seinem 20. Lebensjahr berichtet: »Noch weiß ich die besondere Art Herzklopfen, die mich (vor so viel Jahren! 1895, ich glaube,) in Pest überfiel, als Sie, die Krone, in den Festtagen der Milleniums-Feier, in ihrer eigenen Karosse ruhend, langsam, gegen Ofen hinauf an mir vorüberfuhr. Damals gerade drängte meine Familie mich, mir einen Beruf zu wählen... Gäbe es nicht, bei so viel Beziehung zum Ding, zum gesteigerten, bedeutenden, zum endgültigen Ding, für unser einen nur das eine Amt, wenn es ein völlig entsprechendes sein sollte: das des Erb-Kron-Hüters...?«

Eines seiner frühen Gedichte unterzeichnet er mit »René Cäsar Rilke«, und als Militärschüler fabriziert er sich Visitenkarten mit einem Sammelsurium seiner Titel-Wunschträume: »Korrepetitor, Zugcharge und Zugskommandant, Kameradschaftskommandantstellvertreter etc. etc.«.

Die später als »Totenhaus« mythisierte Militärschule hat seine Flucht vor der Realität in die »makellose Ersatzwelt, die er als Ritter oder Dichter beherrschte« (Demetz), kaum gestört, jedenfalls nicht so nachhaltig, wie es Rilke aus der Rückschau auf den Kerker seiner Kindheit gern wahrhaben wollte. Ein Mitschüler berichtet:

»Oftmals erhob er sich zu Beginn des Unterrichts in der deutschen Sprache lautlos von seiner Bank... ging mit seinen ganz kleinen Schritten zum Katheder, überreichte dem Lehrer einige kurze Gedichte und bat, sie vorlesen zu dürfen, was dann stets geschah... Wir verstanden wenig von Lyrik, wir schwiegen, und das war für uns der Ausdruck größter Hochachtung. Nie fiel ein böses Wort.«

Seine Besonderheit wußte schon der Militärschüler eindrucksvoll zu manifestieren. Er hielt sich auf dem Schulhof abseits von den anderen und zog sich meist in die später von ihm oft erwähnte »kleine Kirchhofsecke« des Anstaltsgartens zurück. Schon der Halbwüchsige war ein »Einsamkeitsfanatiker«, wie sich Rilke später selbst nannte.

In der Militärschule hat er auch frühzeitig die »Magie« seines Wortes erfahren, als er einem Schulkameraden, der ihn, den Schwächeren, quälte und ihn in seinen Ferienvorbereitungen gestört hatte, zornig zurief: »Du - du wirst nicht reisen, ich weiß es, du wirst nicht in die Ferien reisen.« Die Beschwörung tat scheinbar ihre Wirkung: Der andere glitt aus und brach sich ein Bein - Rilkes Wort, so wollte es scheinen, hatte zum erstenmal seine magische Gewalt bewiesen.

Als René mit fünfzehn Jahren aus nicht ganz geklärten, angeblich gesundheitlichen Gründen die Militär-Oberrealschule vorzeitig verläßt, stolziert er noch eine Zeitlang in »zweierlei Tuch«. Ein Liebesverhältnis beendet den Besuch der Linzer Handelsakademie. Die vom neuadeligen Abgeordneten-Onkel ermöglichte private Vorbereitung zum Abitur hat dagegen Erfolg.

In Prag bezieht der Zwanzigjährige die Universität. Erst läßt er sich in der philosophischen, dann in der juristischen Fakultät immatrikulieren, aber er verleugnet nicht seine Liebe zur Literatur. Er dichtet adelige junge Damen an, schreibt Operettenlibretti und naturalistische Dramen voll autobiographischer Bezüge und Gedichte etwa von dieser Art:

Kaum will der Tag die Hügel krönen,
regt sich's zu Wulfsmoor schon im Tal;
heut sols Graf Erich sich versöhnen
mit Jutta, seinem Ehgemahl.

Die Liliencron nachempfundene Schauer-Ballade endet blutig:

Den eignen Dolch im zarten Leibe.
Hoch steigt, da Blutgeruch ihn trat,
der Hengst - Bei seinem toten Weibe
liegt Erich mit zerschelltem Schlaf.

Mit diesen, nicht nur am späteren Rilke gemessen, erstaunlich dürftigen Versen kann René in Prag nicht reüssieren. Er verwaltet außerdem die Regionalredaktion einer deutsch-österreichischen Literaturzeitschrift, korrespondiert mit Dehmel und Liliencron und siedelt 1896 nach München über. Hier versucht er sich als Herausgeber einer im Eigenverlag erscheinenden Literaturzeitschrift »Wegwarten« ("dem Volke geschenkt"), die insgesamt dreimal erscheint.

Von 1897 an zeichnet er seine Briefe mit »Rainer« - Briefe »mit blaßblauen Siegeln« an Lou Andreas-Salome, die Frau eines Iranologen und Seelenfreundin zahlreicher Geistesprominenter von Nietzsche bis Rilke. Es sind überschwengliche Liebesbriefe, Seelenergüsse eines noch ganz Unreifen, abwechselnd voller Weltschmerz und dann wieder voll hochfliegender Pläne.

Rainer schwärmt Lou in Wolfratshausen an und begleitet sie nach Berlin, wo er sich - nach dem Vorbild des halbpersischen Professors Andreas - das Barfußlaufen und die naturgemäße Lebensweise frei nach Kneipp angewöhnt. Er reist mit Lou in deren russische Heimat, sieht Tolstoi und sammelt die Ernte jener Jahre im »Stundenbuch« ("Gelegt in die Hände von Lou") und in den »Geschichten vom lieben Gott«, im »Cornet« (1. Fassung) und in dem später »Frühe Gedichte« genannten Band, dessen ursprünglicher Titel so bezeichnend ist für die Entwicklungsstufe, zugleich für die zum Kult herausfordernde Attitüde dieser und aller Rilke-Lyrik: »Mir zur Feier«.

Rilke nannte die Gedichte der drei Teile des »Stundenbuchs"(12) zuerst Gebete. Es sind fürwahr eigenwillige »Gebete«, in denen es heißt:

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
... mit mir verlierst du deinen Sinn.

Aber es ist, genährt durch das Erlebnis Rußland, nicht nur Pantheismus, was diesen Stundenbuch-Gedichten ans Licht verhilft, sondern noch immer die Stimmungslage des »René Cäsar Rilke«, die sich nun sublimiert:

Dir ist mein Beten keine Blasphemie:
als schlüge ich in alten Büchern nach,
daß ich dir sehr verwandt bin - tausendfach.

Der sich selbst träumende Gott, der sich andererseits Lou gegenüber als fast Verworfenen bezeichnet wegen der Anmaßung seiner »Gebete«, fabriziert allerdings ziemlich zur gleichen Zeit auch die preziöse Gefühligkeit der »Weise von Liebe und Tod": Das Pendel schwingt zwischen Blasphemie und höfischer Tournüre - der »Cornet« gibt am einleuchtendsten Aufschluß darüber, was an Einflüssen hier zusammenrinnt.

Die naturalistische Vatermord-Geste des zwanzigjährigen Prager Literaten hat sich zur Neuromantik des Ritter- und Blonde-Frauen-Milieus beruhigt. Die schnörkelreiche Sprache aber enthüllt, woher Rilke eigentlich kam und worin er bis in die Elegien und letzten Gedichte hinein gefangen blieb: im Jugendstil, einer ebenfalls neuromantischen Komponente seines Schaffens.

Der Begriff »Jugendstil«, hergeleitet von dem Titel einer 1896 in München begründeten Zeitschrift, stammt aus der Bildenden Kunst. Er bezeichnet die Geschmacksrichtung des Natur-Ornaments, das Bestreben, Formen der Pflanzenwelt stilisiert in die Kunst zu übertragen - als erstarrtes »Naturgefühl«.

Diese Übernahme, gleich ob in der Bildenden Kunst oder in der Literatur, wird leicht zur Manier. Die Denaturierung der Natur schlägt auf die Kunst zurück, die am Ende zu Kunstgewerbe wird: Das abgelöste Ornament wuchert wild weiter. Gebrauchsgraphik auf der einen, manche Rilke-Gedichte auf der anderen Seite sind dafür Beweise.

An vielen Stellen findet sich bei Rilke diese Verformung des Naturmotivs, der überreiche Gebrauch von Bild, Vergleich und Symbol bis zur Auflösung aller Begriffe und Gestalten. Immer wieder klingen die übersüßen Terzen einer sich selbst lauschenden, in die eigene »sinnlose« Schönheit verliebten Sprachmusik auf - bis zur selbstgewählten Grabinschrift:

Rose, oh reiner Widerspruch,
Lust,
Niemandes Schlaf zu sein
unter so viel Lidern.

Rilkes Frühwerke enthüllen jedoch noch mehr. Die Tiefenpsychologie hat auf die Wurzel jener blasphemischen »Stundenbuch«-Gebete hingewiesen. Es ist die unbewußte Haßhaltung des Mutter-Sohnes gegen den Vater. Gerade in der Zeit mit Lou Andreas-Salomé wird die lebenslange Mutter-Bindung ganz deutlich. Lou war fast fünfzehn Jahre älter als Rilke (der sich fast immer zu älteren Frauen hingezogen fühlte). Sie sagt selbst, daß sie »wie eine Mutter« zu ihm trat, und von Rilke, der sich »ihren irgendwie verlorenen Sohn« nennt: »Er wollte Kind, Eichhörnchen sein«.

Lou ("mein Halt, mein Alles") blieb immer Rilkes mütterliche Zuflucht. Als sie sich 1900 trennten und alle Verbindung abbrachen, blieb doch ein Notsteg für den Jüngeren, den Seelen-Sohn, erhalten: In der Stunde der ärgsten Not sollte einer dem anderen schreiben dürfen. Rilke hat es schon drei Jahre später getan, und danach ist der Briefwechsel zwischen beiden nie mehr ganz abgerissen.

Rilke hatte in der Zwischenzeit die Worpsweder Bildhauerin Clara Westhoff geheiratet. Als Rilkes Vater die Unterstützung sperrte, mußte der Hausstand in der Worpsweder Moorhütte aufgegeben werden. Rilke ging nach Paris zu Rodin.

Die Begegnung mit dem großen französischen Bildhauer bedeutete für den Dichter das andere entscheidende Erlebnis. Was Rilke als eine Art Privatsekretär bei Rodin lernte, war nicht nur die Entdeckung, die genaueste Erfassung der »Dinge«, die im Schaffen des Dichters fortan eine so große Rolle spielten. Es war auch Rodins Wahlspruch, der den Prager und Münchner Bohemien ins Herz traf: »Il faut travailler - toujours travailler« - »Man muß arbeiten - immer arbeiten.«

Beispiel für die schärfere Erfassung der Dinge und ihre Deutung als Symbol ist das 1903 in Paris entstandene, mit Recht so berühmte Gedicht »Der Panther":

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
In der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Die zwischen 1903 und 1908 vorwiegend in Paris entstandenen »Neuen Gedichte« bieten viele Beispiele für diese dichterische »Eindrucks«-Kunst, die Dinge der umgebenden Welt in einer durch nichts gestörten Aufnahmebereitschaft sich anzuverwandeln und sie zu Vision und Versgestalt werden zu lassen.

Voraussetzung dafür ist die unablässige Differenzierung der Ausdrucksmittel, da es, wie Rilke selbst sagt, »überall auf die Nuance ankommt«. Diese bis zur Atomisierung vorgetriebene Aufspaltung des sprachlichen Ausdrucks und der Wortbedeutung hat zunächst das allgemeine Ziel aller Kunst, den Abstand des - in Rilkes Terminologie - »Säglichen« zum »Unsäglichen« zu überbrücken.

Aber Rilke betreibt diesen sonst unterschwellig verlaufenden Prozeß sehr bewußt; er setzt nicht selten diese Technik der äußersten Differenzierung absolut: Aus Kunst wird dabei leicht Künstlichkeit, ein Kunstgewerbe, wie er selbst erkennt und zu begründen versucht: »Ich habe immer einen Stil gesucht - vielleicht bis zur Manieriertheit bisweilen - in einer Zeit, in der schon alle Schranken zertrümmert waren.«

Diese Nüancierung »bis ins Endlose«, die zur Relativierung aller Begriffe und Bedeutungen führt, verstärkt in Rilkes Dichtung den Zug des Vagen, des verführerisch Vieldeutigen. Rilkes Unterfangen, sagt der amerikanische Rilke-Forscher Mason, »alles zur Nuance zu reduzieren, es der Zweideutigkeit anheimzugeben... verleiht ihm etwas Unheimliches, etwas Unfaßbares«.

Hier liegt auch die Wurzel der Widersprüche in Rilkes Werk. Ein allen Rilke-Freunden gewiß unverdächtiger Kronzeuge, der bedeutende Rilke-Biograph Dieter Bassermann(13), kommt zu der Feststellung: »Wenn man nur richtig zusieht, wird man für zahllose seiner Aussagen, die einseitig gerichtet sind... die rein widersprechende Gegenaussage finden« - eine Folge dieser endlosen Nuancierung. Denn wenn alle Abstände zwischen den Begriffen und Bedeutungen ausgestuft werden, rücken die Gegensätze schließlich scheinbar so dicht zusammen, daß der Übergang von Pol zu Pol sich gleitend, fast unbemerkt vollzieht. Diese Tendenz erklärt auch, daß Rilke zwar ein schwacher Denker, aber - mit Hilfe dieser Technik der Nuancierung - ein gewandter Dialektiker war: Auch darin liegt ein gut Teil seiner Anziehungs-, seiner »Überredungs«-Kraft.

Sie feiert einen höchsten Triumph in den »Duineser Elegien«, in denen die Wortbedeutung dauernd umschlägt und - wie etwa im Begriff des »Engels« - niemals genau zu fassen ist. Dialektisch werden schließlich Leben und Tod in eins gesetzt ("Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens"). Die »Denkspur« dieser dunklen Gedichte hat noch kein Interpret aufhellen können.

In den Pariser »Neuen Gedichten« liegt die Aussage offener zutage. (Kein Geringerer als der große Wiener Zeitkritiker Karl Kraus hat sie einst bewundert, bis er zufällig entdeckte, daß Rilke handschriftlich »May« und »July« schrieb. Erst dies hat die Augen des unbestechlichen Kritikers jäh geöffnet für viele Künstlichkeiten dieser faszinierenden Sprache.)

Grunderfahrungen der Rodin-Zeit - Ding-Erfahrung und Arbeitsdisziplin - sind festgehalten in dem Gedicht »Archaischer Torso Apollos«. Vor diesem vollkommen wahren Kunst-»Ding« überfällt den Dichter die Erkenntnis:

... da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

Den Wert der Rodin-Zeit hat Rilke - auch nach dem Bruch mit dem eigenwilligen Bildhauer - niemals vergessen. Noch in seinem Todesjahr hat er bekannt, daß Rodin ihm »eine lyrische Oberflächlichkeit und ein billiges... à peu près überwinden half. ... 'Il faut toujours travailler', - sagte mir Rodin jedesmal, so oft ich ihm von des täglichen Lebens Zwiespalt zu klagen versuchte.«

Diesen Zwiespalt zwischen Kunst und Leben hat Rilke sein Leben lang immer wieder zu überspringen versucht. Darin sah er, der sich bei Rodin von der fragwürdigen Innerlichkeit seiner »Stundenbuch«-Gebete buchstäblich zur Lebens-»Anschauung« gewandelt hatte, seine eigentliche Aufgabe. »Jeder erlebt schließlich nur einen Konflikt im Leben, der sich immer nur anders vermummt und anderswo heraustritt -, der meine ist, das Leben mit der Arbeit in einem reinsten Sinne zu vertragen; wo sich's um die unendliche, inkommensurable Arbeit des Künstlers handelt, da stehen die beiden Richtungen widereinander...«

Diese Einsicht war schwer und spät errungen; die Briefstelle stammt aus dem Jahre 1921. In Paris aber und noch lange danach hat Rilke immer wieder krampfhaft versucht, seiner Produktion eine gewisse Kontinuität und sich damit eine dauernde Selbstbestätigung zu sichern - Leben und Schaffen also miteinander zu vereinbaren.

Es ist ihm selten gelungen. In den zuweilen jahrelangen Pausen scheinbarer Leere und Unproduktivität hat er brieflich gejammert wie »Hiob auf dem Scherbenhaufen«. So deutlich wie selten sonst in der Kunst läßt sich bei Rilke das Phänomen der »schöpferischen Pause« und des plötzlichen »Umschlags« ins Schaffen beobachten.

Das Wort stammt aus dem 1908 entstandenen »Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth«, einen genialischen jungen Künstler, der sich das Leben genommen hatte. Es heißt darin:

Was hast du nicht gewartet, daß die Schwere
ganz unerträglich wird: da schlägt sie um
und ist so schwer, weil sie so echt ist.

Etwa zur selben Zeit schreibt Rilke aus Paris und anderswoher Briefe, die voll sind von den Exklamationen eines tief Deprimierten, an sich selbst Verzweifelnden. Und doch entstand damals neben den »Neuen Gedichten« nicht nur dieses »Requiem«, das mit den berühmten Worten schließt:

Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.

Auch die 1904 begonnenen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« wurden (bis 1910) zu Ende gebracht. Dieses seltsame Prosawerk, angeblich zusammengesetzt aus Erinnerungen und Reflexionen eines jungen adligen Dänen, in Wahrheit aber - wie Rilke Lou gegenüber bekannt hat - »zum Teil aus meinen Gefahren gemacht«, stellt den Versuch einer Selbstbefreiung dar. Diese Deutung macht sich auch der nicht psychoanalytisch engagierte Rilke-Interpretat Dieter Bassermann zu eigen. »Die Aufzeichnungen enthalten eine an der Figur eines jungen Dänen aufgewiesene Abrechnung mit den Unlösbarkeiten des inneren Daseins.«

»So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier«, beginnt Rilke das nach seinem Wunsch »gegen den Strom« zu lesende Pariser Tagebuch seines Malte-Ich, einer Spiegel-Gestalt - die aus einzelnen Monologen gestückelte »Linie ihres Lebensablaufes, welche einen Untergang beschreibt« (Zinn).

Rilke wollte mit diesem »Untergang« die eigene Kindheit und Jugend begraben, so wie der »Cornet« mit dem leicht parfümierten Untergang seines jungen Helden eine »autobiographische Selbsterlösung« des gescheiterten Militärschülers bedeutete.

Darum Malte-Rilkes Nachträgliche Überlegung: »Vielleicht mußte dieses Buch geschrieben sein, wie man eine Mine anzündet; vielleicht hätte ich ganz weit weg springen müssen davon im Moment, da es fertig war.« Aber danach fühlt er sich unerlöster denn je; es geht ihm »ein wenig wie dem Raskolnikow nach der Tat, ich weiß gar nicht, was nun kommen soll«.

Die Anspannung der »Malte«-Arbeit, nach der sich Rilke vom Schreiben zurückziehen wollte (ein »merkwürdiger Hintergedanke, den ich mir während der Beendigung des Malte öfters als eine Art Erleichterung vor die Nase hängte"), schlägt um in Apathie und Depression. Aber dieser Zustand ist nicht nur eine natürliche Reaktion: Er entsprang vielmehr Rilkes Einsicht, daß er sich von seiner Kindheit nicht befreit hatte, daß sie im Malte nun erst Gestalt angenommen hatte und neben ihn getreten war. Bezeichnenderweise hofft er später, daß ihn der Verlust seiner in Paris gebliebenen Habe während des Krieges von der »Obsession der Gestalt« Maltes erlösen werde - ebenso umsonst.

Und da weiß ich, daß nichts vergeht,
keine Geste und kein Gebet
(dazu sind die Dinge zu schwer),
meine ganze Kindheit steht
immer um mich her.

Nicht zufällig trug Rilke sich gerade in der Dürre der Nach-Malte-Periode mit ihrer unaufhörlichen Reise-Flucht des Dichters wieder mit dem Gedanken an eine psychoanalytische Behandlung. Aber er fürchtete sich, »die Kindheit in Brocken von sich zu geben«... »Etwas wie eine desinfizierte Seele kommt dabei heraus.« Er glaubte, es geschähe, »wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein ganz kleiner, sagen wir Schrecken«. Ihn ängstigte der Gedanke an ein solches »Aufgeräumtwerden«, an den Zustand nach der Behandlung: »roth korrigiert wie die Seite in einem Schulheft«.

Er sah statt dessen, »daß meine Arbeit eigentlich nichts anderes ist als eine derartige Selbstbehandlung, wie wär ich sonst überhaupt (mit zehn, zwölf Jahren schon) auf die Arbeit gekommen?« Am Ende seines Lebens, wenige Monate vor seinem Tode, formulierte er denselben Gedanken so: »Der Trieb zur Kunst ist ja nichts als eine fortwährende Neigung, die Konflikte auszugleichen, die unser aus so verschiedenartigen und einander oft widerstrebenden Elementen sich immer neu bildendes 'Ich' gefährden und spannen.«

Für diesen Prozeß bietet Rilkes Leben geradezu Musterbeispiele. Dazu zählt etwa sein Hausen hinter dicken Schloßmauern, seine Sucht nach Einsamkeit, von der er hofft, »wenn sie in gute Hände käme, verlöre sie ganz die Nebengeräusche des Krankhaften... und ich brächte es in ihr endlich zu einiger Kontinuität, statt sie, wie einen verschleppten Knochen, unter lautem Halloh von Gebüsch zu Gebüsch zu tragen«.

Diese Zeichen einer Selbstironie, deren Rilke zuweilen durchaus fähig war, stammen aus dem Jahre 1912, einer Zeit besonders tiefer, selbstgewählter Einsamkeit auf dem alten Adria-Schloß Duino, einem Besitz der Fürstin von Thurn und Taxis aus einer Periode scheinbar völliger Unproduktivität, in der »Wochen, ja Monate vergehen können, in denen ich nur mit äußerster Anstrengung fünf Zeilen eines ganz gleichgültigen Briefes aufbringe, die mir, wenn sie endlich da sind, einen Nachgeschmack von solcher Unfähigkeit hinterlassen, wie etwa ein Gelähmter sie empfindet, der nicht einmal mehr die Hand geben kann«.

Tage später schickt er seiner mütterlichen Vertrauten Lou einen brieflichen »Juchzer«, der die Entstehung der ersten »Duineser Elegien« ankündigt - der »Umschlag« war wieder einmal eingetreten, die vorangegangene Unfruchtbarkeit war nicht Stagnation gewesen, sondern Anstau des Gefühls und Verdichten im unzugänglichen Innern bis zu jenem äußersten Punkt, an dem die im Unterbewußten sich bildende Versgestalt vollkommen fertig nach außen tritt, wie Rilke es einmal umschreibt: »Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig unbegreiflich verwandelt -, umspringt in jenes leere Zuviel. Wo die vielstellige Rechnung zahlenlos aufgeht.«

Diese krisengebundene Art des Schaffens, die für viele Künstler - für Rilke allerdings besonders - typisch ist, läßt sich an der Entstehung der »Duineser Elegien« am deutlichsten nachweisen. Mit diesem lyrischen Hauptwerk Rilkes verbindet sich die längste »schöpferische Pause« in seinem ganzen Schaffen. Sie umfaßt volle zehn Jahre, wenn man geneigt ist, den Begriff der »Pause« etwas nachsichtig zu interpretieren.

Denn die 1912 begonnenen, 1922 vollendeten Elegien sind ebensowenig nur auf Schloß Duino entstanden - vielmehr an insgesamt sechs verschiedenen Orten und teilweise auf Reisen: in Duino, Paris, München, Toledo, Ronda und endlich Muzot wie nur in jenen beiden Jahren 1912 und 1922. Die vierte Elegie stammt aus dem Jahre 1915, also mitten aus der Kriegszeit - was Rilke, der von seiner »Verschüttung«, einem »völligem Absturz« seiner Produktion während des Krieges sprach, später nicht allzugern wahrhaben wollte.

»Es geht mir wie dem Käfer, dessen Natur es ist, sich anzuhalten, solange die Welt nicht geheuer ist«, schrieb er im selben Kriegsjahre 1915, das einen »rapiden Arbeitsanstieg« brachte, einen »Vorsturm von Arbeit, einzelne merkwürdige Gedichte, die Elegien, alles stieg und strömte... Schon glaubte ich vor den freiesten Aussichten zu stehen, da fiel mir das dichte graue Militärtuch vors geklärte Gesicht...«

Nüchterner ausgedrückt: Rilke wurde eingezogen, nicht für lange Zeit zwar, aber »das war das Grausamste... daß ich, fünfundzwanzig Jahre später, noch einmal der Militärschulzeit Entsprechendes würde durchzumachen haben«. Wieder kehrte die Kindheit mit ihren Schatten und unbewältigten Konflikten zurück. (Das hinderte ihn nicht, die feldgrauen Kolonnen zu besingen: »Heil mir, daß ich Ergriffene sehe...«.)

Für die restliche Kriegszeit und weit darüber hinaus hatte ihn die Zeit seiner »Einrückung... mit Stummheit geschlagen, ich vermochte nur gerade, ins Innerste zurückgezogen, mich zu erhalten...« (Materiell dagegen brachte ihm der Weltkrieg Gewinn: Seine Auflagen stiegen sprunghaft an. Vorher schon hatten ihm vermögende Verehrer die Brotsorge abgenommen, indem sie die vom Insel-Verlag ausgesetzte Monatssumme bis zum Existenz-Betrag aufrundeten.)

Mit dem Verstummen des Dichter-Soldaten war der neue Ansatz zur Vollendung der Elegien abermals gescheitert. Rilke glaubte oft selbst nicht mehr an einen neuen »Umschlag«, diese Gedichte betreffend, und wollte sie noch 1921 resignierend als Fragment herausgeben. Denn die vorangegangenen Jahre zwischen 1915 und 1919, diese nach Rilke - »fünf undurchdringlichen, unleistbaren, alles aufrichtige Leben unterbrechenden Jahre« brachten das längste »Brachliegen« im Leben des Dichters.

Am Ende dieser Dürreperiode, die Rilke meist in München, vorübergehend auch in Wien verbrachte, stand eine Vortragsreise in die Schweiz, aus der ein Aufenthalt bis zum Lebensende werden sollte. Zunächst begann Rilke verzweifelt nach den äußeren Voraussetzungen zu suchen, die ein »Anheilen an die Bruchstellen« seiner dichterischen Arbeit ermöglichen sollten. Die jahrelange Schweizer Quartiersuche, an der viele Freunde beteiligt waren, diese geräuschvolle, von vielen interessiert beobachtete Vorbereitung zum Sicheinpuppen, hat dann Formen angenommen, die der Dichter gelegentlich selbst als anrüchig empfand.

Die Briefe an Elisabeth von Schmidt-Pauli kreisen in dieser ersten Schweizer Zeit in beängstigender Weise um das Schloß-Problem. Sie empfahl ihm schließlich sieben Schlösser in Böhmen, auf die Rilke jedoch nicht zurückzugreifen brauchte, da ihm inzwischen der Winterthurer Mäzen Werner Reinhart das Château de Muzot im Wallis gemietet hatte.

Der alte Schloßturm erwies sich als ideale Dichterklause. Hier ereignete sich im Februar 1922 endlich der erstaunlichste »Umschlag« nach der überlangen Pause. Lou und die Fürstin von Thurn und Taxis waren die ersten, die von der jähen Vollendung der zehn »Duineser Elegien« erfuhren.

»... Ich bin hinausgegangen und habe das kleine Muzot, das mirs beschützt, das mirs, endlich, gewährt hat, gestreichelt wie ein großes altes Tier«... »Alles in ein paar Tagen, es war ein namenloser Sturm, ein Orkan im Geist (wie damals auf Duino), alles, was Faser in mir ist und Geweb, hat gekracht, - an Essen war nie zu denken, Gott weiß, wer mich genährt hat...«

Diese Frage hat später Frida Baumgartner, Rilkes Haushälterin, seine »Getreue und Angepaßte«, lachend beantwortet: »Ich, Frida Baumgartner, habe ihn genährt. Es mag allerdings sein, daß er es kaum gemerkt hat in diesen Tagen. Sein Appetit war aber nicht schlechter als sonst.« (Rilkes Haushälterin äußerte im übrigen, die Leute sollten nicht so viel Aufhebens machen von dem heiligen und asketischen Leben Rilkes; er habe sehr gern und gut gegessen.)

Diese entzaubernde Notiz eines Dr. Kiefner ändert an der beispiellosen Sturzgeburt dieser Gedichte ebensowenig wie die Tatsache, daß der Dichter in jenen Tagen zwischendurch Zeit fand, aufs Postamt zu eilen und seinem Verleger die Ankunft der ersten neuen Elegien zu vermelden. Auf dem Heimweg fielen ihm bereits weitere Verszeilen ein...

Aber die »Duineser Elegien« waren nicht einmal alles. »Nicht genug, es wurde mir daneben, in einem Ansturm des Geistes, den ich körperlich kaum ertrug, so ungeheuer und unaufhaltsam war er, - noch ein ganzes Buch Sonette geschenkt, die Sonette an Orpheus... Sie sind vielleicht das geheimste, mir selber, in ihrem Aufkommen und sich-mir-Auftragen, rätselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten und geleistet habe; der ganze erste Teil ist, in einem einzigen atemlosen Gehorchen, zwischen dem 2. und dem 5. Februar 1922 niedergeschrieben, ohne daß ein Wort im Zweifel oder zu ändern war...«

Was nun den Inhalt der Elegien und der Sonette angeht, so fürchtete Rilke selbst, diese Gedichte mögen »dem Leser, ab und zu, etwas rücksichtslos gegenüberstehen... Ich dringe auch selber erst mehr und mehr in den Geist dieser Sendung ein...«

Diese Ratlosigkeit Rilkes vor seiner »größesten Arbeit« ist bezeichnend: für den Charakter der Dichtung wie des Dichters. »Bin ich es, der den Elegien die richtige Erklärung geben darf?« fragt er seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz, dem er immerhin einen Interpretations-Versuch dieser dunklen Gedichte zukommen läßt.

»Sie reichen unendlich über mich hinaus. Ich halte sie für eine weitere Ausgestaltung jener wesentlichen Voraussetzungen, die schon im 'Stundenbuch' gegeben waren, die sich, in den beiden Teilen der 'Neuen Gedichte', des Welt-Bilds spielend und versuchend bedienen und die dann im Malte, konflikthaft zusammengezogen, ins Leben zurückschlagen und dort beinah zum Beweis führen, daß dieses so ins Bodenlose gehängte Leben unmöglich sei.

»In den 'Elegien' wird, aus den gleichen Gegebenheiten heraus, das Leben wieder möglich, ja es erfährt hier diejenige endgültige Bejahung, zu der es der junge Malte, obwohl auf dem richtigen Wege 'des longues études', noch nicht führen konnte. Lebens- und Todesbejahung erweist sich als eines in den 'Elegien'.«

Es wirft nun ein helles Licht auf den ganz im Unterbewußtsein verlaufenden Entstehungsprozeß der Lyrik Rilkes, insbesondere der Elegien, daß die entscheidende Wende Rilkes - der brieflich oft so ausschweifend über sein Leben und Leiden lamentierte - zur entschlossenen Lebensbejahung just in jenen scheinbar leeren, »unleistbaren« fünf Jahren 1915 bis 1919 erfolgte, als der Dichter sich selbst völlig unproduktiv erschien.

In Wahrheit bedeuteten jene Jahre den »wendenden Punkt«, brachten sie Rilkes Aussöhnung mit seinem Schicksal durch Einwilligung in das »redliche Entbehrenkönnen aller Tröstung«, die Realisation seiner »Requiem«-Verse von einst: »Überstehn ist alles.«

An diesem Wendepunkt in Rilkes innerer Entwicklung, an seinem »Einsehen unserer Trostlosigkeit« und der Abwehr gegen den »Mittler Christus«, an der Konfessionsfeindlichkeit des »rabiaten Antichristen« und seiner blinden Lebensbejahung ("Hiersein ist herrlich!") hat die moderne Existenzphilosophie angesetzt und Rilke für sich in Anspruch genommen.

Die Folgen waren fatal. Sie brachten zunächst eine neue Schwemme wolkiger Rilke-Kommentare. Sie trafen wieder auf den »deutschen Hang nach Weltanschauungsdichtung« und förderten damit die Rilke-Legende, die in einer glaubensschwachen Zeit einen pseudo-religiösen Kult begründen konnte.

Dabei berufen sich die Rilke-Gläubigen auf ein - vor allem in den »Elegien« niedergelegtes - »lyrisches Evangelium«, das sie nur als Sprachmusik genießen, im Grunde aber gar nicht begreifen: weil sich die »Sonette« und »Elegien« einer geschlossenen Deutung wohl immer entziehen.

Rilkes eigene Erklärungsversuche ("Es gibt weder ein Diesseits noch Jenseits, sondern die große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die 'Engel', zu Hause sind") liefern jedenfalls zum Verständnis dieser lyrischen Paraphrasen über »Engel« und »Puppe«, über »Held« und »Kindheit« keine besseren Hilfen als die Masse bemühter Kommentare. Worin »die unendlichen, unvermeidlichen Schwierigkeiten, die die Verse mit sich bringen«, begründet sind, hat Rilke selbst geahnt: »weil ihre Ausgangspunkte oft verborgen sind wie Wurzelwerk«, weil sie häufig »lyrische Summen nennen, statt die Posten anzureihen, die zum Ergebnis nötig waren«.

Rilke entwirft auch das Bild einer »Bewußtseinspyramide«, die gleichsam nur mit der oberen Spitze ins Faßbare ragt. Die »Sprachtrümmer« der Elegien sind wie das nur bruchstückweise ans Licht tretende Stenogramm eines immerwährenden »inneren Monologs«. Rilke hat es selbst in der Ersten Elegie so formuliert:

Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur
Heilige hörten ...
... das Wehende höre,
die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.

Dieses »Diktat« wird bei der Ver-Dichtung in ein gleichsam stenographisches Protokoll verschlüsselt, dauernd chiffriert: durch eine mit Assoziationen angereicherte Sprache. Beispiel dafür ist der Anfang der »Sonette an Orpheus":

Da stieg ein Baum O reine Übersteigung!
Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.

Dieser im Unterbewußten andauernde »innere Monolog«, der alle Indisposition des Dichters unterlaufende Prozeß des Ver-Dichtens ("Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen"), erklärt das erstaunlich glatte »Anheilen an die Bruchstellen« sogar innerhalb einzelner Elegien. So ist zur gleichen Zeit wie der berühmte Anfang der Ersten Elegie:

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen?

auch der nicht weniger oft gerühmte Beginn der Zehnten und letzten Elegie entstanden:

Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,
Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.
Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens
keiner versage an weichen, zweifelnden oder
reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz
glänzender mache; daß das unscheinbare Weinen
blühe.

Die Anfangszeilen von 1912 »heilten« bruchlos an das 1922 entstandene Übrige dieser Elegie an, und auch jene 1915 geschriebene Vierte Elegie fügt sich ohne Rest in den Kreis der zu ganz anderen Zeiten entstandenen übrigen Gedichte ein.

Denn der Grundvorgang blieb immer der gleiche. Rilke hat ihn in der Achten Elegie als den immer nutzlos wiederholten Versuch bezeichnet das Chaos - und hier sagt die Tiefenpsychologie: »der verdrängten Triebe und Vorstellungen« - durch dichterische Gestaltung zu bannen:

Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

Rilke hat diesen riesenhaften »Ordnungsversuch«, diese letzte große »Selbstbehandlung« durch dichterische Sublimierung, nur um wenige Jahre überlebt. Seine letzte Lebenszeit war - nach dem anfänglichen Hochgefühl des Vollbrachten ("Jetzt weiß ich mich wieder... Ich habe überstehen dürfen bis dazu hin. Durch alles. Wunder. Gnade...") - schließlich wie ein langsames, qualvolles Zerfallen: Er starb am 29. Dezember 1926, wenige Wochen nach seinem 51. Geburtstag, an der von ihm selbst zuerst geahnten, von den Ärzten zu spät erkannten Blutkrankheit Leukämie. Auf dem Bergfriedhof von Raron bei seiner letzten Wohnstätte Muzot liegt er begraben.

Zu dieser stillen Ruhestätte in fremder Erde hinübergrüßend hat 1947 der Insel-Verleger Anton Kippenberg seinen toten Autor mit den Worten gefeiert: »Daß dieser Dichter ein Deutscher war... darf uns heute... aufrichten... Daß Rilke unserem Volke geschenkt wurde... empfinden wir in tiefer Dankbarkeit als eine göttliche Gnade...«.

Er fand begeisterte Zustimmung bei all denen, die, halb Gemeinde, halb Gefolgschaft, treu ein Vermächtnis Rilkes an seine Leser und Ausleger erfüllen: »Wo ein Dunkel bleibt, da ist es von der Art, daß es nicht Aufklärung fordert, sondern Unterwerfung.«

Diese Demut der Rilke-Anbeter ist allerdings auf das eigene Innere beschränkt. Nach außen tritt die Gemeinde als Gefolgschaft in festgeschlossenen Reihen auf, die jede andere Meinung über ihren Lebens-»Führer« kollektiv und mit nahezu totalitären Methoden bekämpft.

»Ein Gesetz zum Schutze der Toten scheint mir notwendig. Beim Pen-Club und bei der Unesco müssen Vorschläge eingebracht werden, wie die Toten zu schützen seien. Wer sich anschickt, ihre Ehre zu mindern, soll wissen, daß sie nicht ohne Anwalt in ihren Gräbern liegen.«

Diesen auf Rilke bezogenen flammenden Appell an die Zensurbehörden leistete sich der Wiener Literat Felix Braun ("Rainer Maria Rilke ist der einzige Dichter gewesen, der nicht nur Dichter war, wenn er Verse schuf") in der Schweizer Presse - der Presse eines Landes, dessen Rilke-Archiv vom Benutzer eine schriftliche Verpflichtung fordert, »den Entwurf allfälliger Veröffentlichungen auf Grund des Archivs dem Eidgenössischen Departement des Innern zu unterbreiten, welches prüft, ob in diesen Veröffentlichungen das Material des Archivs in einer Weise ausgewertet wird, die des Andenkens an den Dichter würdig ist. Der Benutzer hat sich überdies gegenüber der Schweizerischen Landesbibliothek schriftlich zu verpflichten, diesbezüglichen Beanstandungen Rechnung zu tragen.«

Diese beispiellose Unduldsamkeit der Rilke-Gralshüter spricht ebensosehr für ihre fanatische Gläubigkeit, die ein Götzendienst ist, wie für die Schwäche ihrer Argumente. Denn dies ist das erstaunlichste Faktum: daß Rilkes Werk noch kaum auf den Prüfstand der reinen Literaturkritik - der die Psychologie nur Hilfen zur Verfügung stellen kann und will - genommen worden ist.

Wo es vereinzelt geschah, da wurde wohl eine weitläufige Herkunft seines Stils von Klopstocks Oden und Hölderlins Hymnen attestiert oder die »Gestimmtheit« seines Tonfalls und seine eigentümliche Wirkung aus der Zeit um die Jahrhundertwende erklärt. Sie hat in Stefan George nicht zufällig noch einen anderen Dichter-Priester hervorgebracht, der allerdings heute gegenüber Rilkes Ruhm fast vergessen scheint, nicht anders als Hugo von Hofmannsthal, der andere große, vom Jugendstil gleichfalls angerührte Zeitgenosse Rilkes.

Hofmannsthal war einer der ersten Rilke-Kritiker, der zuerst zwar glaubte: »Er ist mehr als ich - aber sie werden zugeben, daß er von mir kommt«, später jedoch fand, wie Rudolf Kassner mitgeteilt hat, »in Rilke sei wohl die Materie zu einem Dichter vorhanden, das sei aber auch alles, was er zugeben könne, das Letzte fehle ihm, er sei kein Dichter«.

Eben das aber: der dichterische Kern, wird Rilke auch von der Literaturforschung bisher immer unterstellt, ohne einmal unvoreingenommen betrachtet und gewogen zu werden. »Hat Rilke überhaupt eine Form gefunden?« scheint noch immer keine ernsthafte Frage.

Der junge Literaturwissenschaftler Walter Boehlich hat sie dennoch angeschnitten und dabei den Grund der Defekte von Form und Inhalt in der Persönlichkeit des Dichters erkannt. Rilke ist - nach Boehlich - »ein Mensch, der sich zwar den Dingen hingibt, der mit geschlossenen Augen erkennt wie der Mystiker, der aber immer nur sich selbst aussagt«.

Allerdings hat Rilke auch übersetzt, so die »Fragmente zum Narziss« von Paul Valéry - aber auch dabei sprach er im Grunde nur von sich selbst. Der französische Dichter hatte in seinem Übersetzer deutlich den Narziss-Typ erkannt, wie sein Nachruf beweist: »Teurer Rilke... Meine Phantasie mußte in Ihrem Inneren den unendlichen Monolog eines ganz einsamen Bewußtseins belauschen, das durch nichts von sich selbst und dem Gefühl, einzigartig zu sein, abgelenkt wird.«

Rilkes verzückte und verzaubernde Selbstbespiegelung hat verhindert, sein »Leben für die Kunst« als seine eigentliche Leistung zu sehen - die aber eben als persönlichster »Existenzentwurf« alle Nachfolge ausschließt. Im übrigen liegt in der dauernden Selbstoffenbarung seiner so oft als Prophetie mißverstandenen Dichtung »seine Größe für den Augenblick, aber auch eine mögliche Beschränkung für eine nachexistentialistische Zeit«, wie Boehlich glaubt.

Eine solche Eingrenzung seines allzu pauschal, nämlich bis auf die kleinste Aufzeichnung konservierten und publizierten Oeuvres - »Das bedeutet, Rilke ist bereits heute so klassisch, wie Goethe es nie gewesen ist und nie werden kann« - würde auf den aller Kritik standhaltenden Kern seiner Dichtung zurückführen. Von ihm glauben mit Boehlich alle, die Rilke gegen seine Gemeinde verteidigen, daß auch in ferner Zeit solche Stücke weiterleben werden, in denen »die Verschmelzung des Gefühlten mit dem Gesagten so gelungen ist wie in der großartigen Formel: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens'...«.

(1) Rainer Maria Rilke: »Samtliche Werke«. Erster Band: Gedichte 1. Herausgegeben von Ernst Zinn (In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke und mit dem Rilke Archiv): Insel-Verlag, Wiesbaden, 1955; 879 Seiten; 30.00 Mark.(2) Walter Ritzer: »Rilke-Bibliographie«. Kerry Verlag, Wien; 328 Seiten; 24 Mark.(3) Friedrich Sieburg: »Die Lust am Untergang - Selbstgespräche auf Bundesebene": Rowohlt Verlag, Hamburg; 374 Seiten; 12.80 Mark.(4) Erich Simenauer: -Rainer Maria Rilke - Legende und Mythos": Schauinsland - Verlag, Frankfurt Main; 759 Seiten; 29 Mark.(5) Peter Demetz: »Rene Rilkes Prager Jahre«; Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf; 211 Seiten; 8,90 Mark.(6) Else Buddeberg: »Rainer Maria Rilke - Eine innere Biographie«; Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart; 579 Selten; 29,50 Mark.(7) Rainer Maria Rilke: »Briefwechsel mit Benvenuta«; Bechtle Verlag, Eßllingen; 156 Seiten; 6,40 Mark.(8) Magda von Hattingberg: »Rilke und Benvenuta. Ein Buch des Dankes«; Andermann-Verlag, München; 320 Seiten; 9,50 Mark.(9) Elisabeth von Schmidt-Pauli: »Rainer Maria Rilke. Ein Gedenkbuch«; Bürger-Verlag, Lorch -Stuttgart; 285 Seiten.(10) Carl Sieber: »René Rilke. Die Jugend Rainer Maria Rilkes«; Insel-Verlag, Leipzig; 176 Seiten. (11) Rainer Maria Rilke: »Die Briefe an Frau Gudi Nölke - Aus Rilkes Schweizer Jahren«. Insel-Verlag: 207 Seiten: 12.00 Mark. (12) »Das Buch vom mönchischen Leben«; »Das Buch von der Pilgerschaft«; »Das Buch von der Armut und vom Tode«.(13) Dieter Bassermann: »Der späte Rilke«; Oldenburg Verlag, München; 465 Seiten; 5,50 Mark.

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