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UNGARN Weiße Flecken

Die Neubewertung des Volksaufstands von 1956 und die Rehabilitierung seiner Opfer stellt die Legitimität der kommunistischen Partei in Frage.
aus DER SPIEGEL 23/1989

Die Einsicht kam spät. Dementsprechend unglaubwürdig klang sie auch.

In einem Gespräch mit der Zeitung »Magyarorszag« überraschte der ehemalige ungarische Parteichef Janos Kadar mit dem Bekenntnis, er habe den hingerichteten Führer des Volksaufstands vom Oktober 1956, Imre Nagy, »niemals als Konterrevolutionär« betrachtet, sondern in ihm stets einen »anständigen Menschen und fähigen Kommunisten« gesehen.

Das war eine zynische Volte des Altkommunisten Kadar, 77, der im Mai 1988 nach mehr als drei Jahrzehnten an der Spitze der Partei von Karoly Grosz abgelöst worden war und vor vier Wochen endgültig aus allen politischen Ämtern (auch dem des eigens für ihn geschaffenen eines Parteipräsidenten) entlassen wurde.

Immerhin war es dieser Kadar gewesen, der jahrzehntelang eisern an der historischen Lüge vom »konterrevolutionären Putsch« festgehalten, vor allem aber auch selber tatkräftig an der Niederwerfung des Volksaufstands mitgewirkt hatte. Die danach einsetzende Massenrepression, der auch Nagy zum Opfer fiel, ist untrennbar mit seinem Namen verbunden.

Nun fiebert Ungarn dem 16. Juni entgegen: An diesem Datum, dem 31. Jahrestag der Hinrichtung, werden Ungarns Kommunisten ihren von der Partei ermordeten Premier Nagy noch einmal feierlich bestatten und damit eine beispiellose Geschichtsrevision hinter sich bringen.

Im Sommer 1956 war das sowjetische System in Osteuropa in Gärung geraten. In Polen wankte die bis dahin unbestrittene Herrschaft Moskaus, ebenso in Budapest. Der verhaßte Parteichef Matyas Rakosi, Ungarns »kleiner Stalin«, wurde gestürzt, der reformfreudige Kommunist Imre Nagy, damals 60, aus der politischen Versenkung geholt. Als Ministerpräsident stieg Nagy zu einem Symbol für jene auf, »die eine Wende zum Besseren auf friedlichem Weg einleiten wollten«, schreibt der Ungarn-Kenner Paul Lendvai.

Kadar, selber ein Opfer der Willkürherrschaft Rakosis, unterstützte anfangs Nagy und warnte die Russen vor einer Intervention. Als aber Nagy nach dem Ausbruch des Aufstandes am 23. Oktober die Neutralität Ungarns und das Ende der Einparteienherrschaft verkündete, wechselte Kadar rasch auf die Seite der Sowjet-Union, die damals nicht bereit war, derart radikale Umwälzungen in ihrem Lager zu dulden.

Gemeinsam mit dem Spanienkämpfer Ferenc Münnich gründete Kadar in Szolnok eine »Revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung«, deren einzige Aufgabe darin bestand, der längst beschlossenen Niederwerfung des Volksaufstands durch Sowjettruppen nach »brüderlichem Hilferuf« einen dünnen Anstrich von Legitimität zu verleihen.

Die blutigen Kämpfe zwischen Aufständischen und Invasoren forderten nach offiziellen Angaben 2700 Tote und 20 000 Verwundete, etwa 200 000 Ungarn flohen damals ins Ausland. Zehntausende verschwanden in Gefängnissen oder Lagern.

Die Geschichte der Niederwerfung des Aufstands ist auch eine Geschichte des Verrats. Kadar selber hatte Nagy, der in die jugoslawische Botschaft geflüchtet war, freies Geleit versprochen. Dennoch wurden Nagy und seine Mitstreiter von sowjetischen Militärs verhaftet und nach einem geheimen Prozeß am 16. Juni 1958 von Ungarn gehängt, ihre Leichen im Armesünderwinkel des Budapester Rakoskeresztur-Friedhofs verscharrt.

Kadar haftete lange Jahre das Odium des Verräters an, der seine eigenen Genossen an den Galgen geliefert und die Repression geleitet hatte. Der »Kadarismus« war »ein Produkt einer vernichteten Revolution«, urteilt die Soziologin Agnes Heller.

Dennoch setzte sich derselbe Kadar in den kommenden Jahren behutsam aber stetig vom Rakosi-System und dem Sowjetvorbild ab. Er führte Ungarn an die Spitze des zunächst wirtschaftlich orientierten Reformkommunismus in Osteuropa.

Doch alle Versuche, die Namen der verratenen Aufständischen aus dem Gedächtnis der Ungarn zu tilgen, schlugen fehl. Dafür sorgte schon die ungarische Opposition, indem sie fortwährend argumentierte, die Glaubwürdigkeit dieser Reformen sei von einer Neubewertung auch der Ereignisse von 1956 abhängig.

Im Januar dieses Jahres brach der Spitzenmann der Reformer, Politbüro-Mitglied Imre Pozsgay, erstmals öffentlich mit der Parteilinie und nahm das Wort »Volksaufstand« in den Mund.

Damit löste er anfangs heftige Kritik aus. Hatte doch Pozsgay die Diskussion über 1956 bewußt eingesetzt, um die alte Garde aus dem Sattel zu heben. Beide Seiten wissen, daß eine Neubewertung der Ereignisse von damals nichts weniger als die Legitimität der Partei in Frage stellt.

Doch Pozsgay, der inzwischen den Reformkurs bestimmt, fand bald Verbündete. Kurz vor dem landesweiten Treffen der Reformer in der Partei, das am 20. Mai in Szeged stattfand, veröffentlichte der Budapester Reformzirkel im Zentralorgan »Nepszabadsag« ein Dokument, in dem auch die Ereignisse von 1956 zur Sprache kommen. Dort heißt es:

Am 23. Oktober hatte sich eine gedemütigte Nation erhoben und ihre aus der Volkssouveränität resultierenden Rechte wahrgenommen . . . Wir verurteilen den blutigen Vergeltungsfeldzug, der nach dem 4. November 1956 einsetzte.

Zoltan Szabo, Mitglied des Budapester Reformzirkels, wurde in einem Gespräch mit der Regierungszeitung »Magyar Hirlap« noch deutlicher:

Wir fordern die Rehabilitierung der unschuldigen Opfer dieser Repressalien und eine Wiedergutmachung in angemessener Form. Für uns sind die zu beiden Seiten der Barrikade Gefallenen Opfer ein und derselben nationalen Tragödie.

In einem Interview des italienischen Fernsehens sprach sich auch Parlamentspräsident Matyas Szürös für eine volle Rehabilitierung von Nagy aus. Der Übergang zu Demokratie und Pluralismus, so Szürös, müsse mit der Eliminierung der weißen Flecken in der Vergangenheit einhergehen, die »Zeit der Halbwahrheiten« sei vorbei.

Ob die Partei auf die Dauer imstande - oder auch willens - sein wird, Pozsgay auf diesem radikalen Weg zu folgen, scheint fraglich. Doch Pozsgay läßt keinen Zweifel daran, daß er nicht bereit ist, Abstriche zu machen: »Ich hoffe, daß diese Partei veränderbar ist«, sagte er in einem Interview mit der amerikanischen Propagandastation »Radio Free Europe« - das allein schon eine Provokation für gestandene Kommunisten. Im übrigen sei er der Ansicht, »daß eine Parteispaltung an und für sich keine verhängnisvolle Sache ist«.

Einstweilen hat Pozsgay die Oberhand behalten. Auf einer Sitzung des ZK am vorigen Dienstag wurde beschlossen, noch vor der Beisetzung Nagys und seiner Genossen eine Stellungnahme zu veröffentlichen, die den Prozeß gegen die angeblichen Verräter neu bewerten soll. Es habe sich, so ZK-Sprecher Laszlo Major, um einen »Gesinnungsprozeß« gehandelt, die Hinrichtung von Nagy sei mithin »illegal« gewesen.

Pozsgay selber, das unterstreicht seine Position, brauchte an der Sitzung gar nicht teilzunehmen. Er meldete sich aus der Bundesrepublik. »Es würde das Gewissen eines großen Teils der Parteimitglieder erleichtern, wenn schon jetzt die rechtliche und politische Rehabilitierung erfolgte«, so Pozsgay vor Journalisten in Bonn. Pozsgay:

Alle Untersuchungen lassen darauf schließen, daß die Todesurteile gegen Imre Nagy und seine Gefährten nicht mit rechtlich haltbaren Beweisen untermauert waren und daher ein Justizmord geschehen ist.

Der feierlichen Rehabilitierung des antisowjetischen Aufstands von 1956 und seiner Opfer - die Beisetzung Nagys und seiner Freunde am 16. Juni ist dafür ein symbolischer Akt - steht seither nichts mehr im Wege.

In einem Staatsakt sollen die Särge von Nagy und seiner gleichfalls hingerichteten Mitarbeiter auf dem Budapester Heldenplatz aufgebahrt werden. Tausende von Trauergästen werden auch aus dem Ausland erwartet. Um das Gedenken nicht zu entweihen, wurde im nahe gelegenen Stadtpark sogar die dort aufgestellte Lenin-Statue unauffällig entfernt - angeblich, weil sie bis zum Herbst »restauriert« werden soll.

Vor zwei Monaten schon wurden die Leichen der fünf ermordeten Spitzengenossen - neben Nagy der damalige Verteidigungsminister Pal Maleter, die Nagy-Berater Miklos Gimes und Jozsef Szilagyi sowie Geza Losonczy - auf dem Budapester Zentralfriedhof exhumiert, wo sie jahrzehntelang anonym im Boden der von Unkraut und Buschwerk überwucherten Parzelle 301 lagen.

In seinem mutigen Schlußwort vor Gericht hatte Imre Nagy gesagt: »Ich bin überzeugt, daß die Geschichte meine Mörder verurteilen wird. Nur eines wäre mir zuwider, daß meine Rehabilitierung von denen ausgesprochen wird, die mich töten.«

Zumindest das ist ihm erspart geblieben.

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