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NORDIRLAND / UNRUHEN Weiße Neger

aus DER SPIEGEL 18/1969

Ein Twen im blauen Minikleid, 1,51 Meter klein, mit schönem Mund und schlechten Zähnen, erstattete den Frontbericht -- und die ehrenwerten Abgeordneten des britischen Unterhauses lauschten, erst amüsiert, doch dann schockiert, der »Stimme von den Barrikaden« ("The Guardian").

Denn Bernadette Deviln, 22, aus Nordirland, seit Anfang letzter Woche die jüngste Abgeordnete in der Geschichte des Unterhauses, hielt -- allen Traditionen zum Trotz -- eine agressive Jungfernrede.

»Ich habe gesehen«, so berichtete die durch eine Nachwahl ins Unterhaus gekommene Jung-Parlamentarierin ihren neuen Kollegen, »wie tausend Mann Polizei in militärischer Formation anrückten. Und wenn Polizisten sich militärisch formieren, um die Einwohner zu demoralisieren, dann habe ich keine Sympathie mehr für sie.

Zwei Tage zuvor noch hatte die Katholikin Devlin katholischen Bürgerrechtlern im nordirischen Londonderry geholfen, sich der Schlagstöcke und Wasserwerfer vorwiegend protestantischer Polizisten der »Royal Ulster Constabulary« (RUC) zu erwehren: »Ich habe die Zivilisten ... organisiert, damit sie im Zorn keinen wertvollen Stein verschwendeten.«

Nun forderte die »keltische Johanna« ("Le Monde") Gerechtigkeit für die »einfachen Bauern« und die »ausgebeutete Minderheit im Hinterhof Englands«, nun prophezeite sie einen »Bürgerkrieg« zwischen den 500 000 Katholiken und mehr als einer Million Protestanten Nordirlands.

Tatsächlich schien sich in der vergangenen Woche in den sechs nordirischen Grafschaften mehr anzubahnen als eine Wiederholung des Konfessionskonflikts vom vorigen Herbst: > In Belfast setzten unbekannte Täter mit Molotow-Cocktails neun Postämter in Brand und sprengten drei in die Hauptstadt führende Trinkwasserleitungen; der Wasserverbrauch mußte rationiert werden.

* In der Grafschaft Armagh knickte nach einer Explosion ein Hochspannungsmast um.

* In Londonderry lieferten sich Bürgerrechtler und RUC-Männer Straßenschlachten, bei denen 290 Menschen verletzt wurden; RUC-Sergeant Maurice Allen feuerte über die Köpfe einer wütenden Protestanten-Menge hinweg, nachdem sein Jeep von einer Bastler-Bombe getroffen worden war und seine Uniform Feuer gefangen hatte; Protestanten verfolgten katholische Frauen mit hämischen Rufen: »Ee-aya-adio -- Ihr bekommt die Pille nicht.«

Die offene Schlacht zwischen Nordiren und Nordiren war entbrannt, als den Katholiken von Londonderry eine Bürgerrechtsdemonstration untersagt wurde und Nordirlands Parlament, der Stormont, eine Gesetzesänderung zum Verbot öffentlicher Sitzstreiks beriet.

Nordirlands Katholiken fühlten sich vor allem durch den Wahlsieg der Tischlertochter und Psychologiestudentin Bernadette Devlin ermuntert. Als in ihrem Heimatwahlkreis Mid Ulster der Unterhausabgeordnete George Forrest starb und Nachwahlen fällig wurden, ließ sich die gemäßigte Jungsozialistin ("Ich habe Marx leider nie gelesen") als Kandidatin der unabhängigen Einheitspartei aufstellen. In der katholischen Hochburg Mid Ulster triumphierte die Katholikin Devlin über ihre Rivalin von der vorwiegend protestantischen Unionspartei -- die Forrest-Witwe Anna. Unter Führung der Deviln ("Ich entdeckte mein rhetorisches Können bei der Bürgerrechtsbewegung") protestierten die Katholiken nun von neuem gegen die soziale und politische Unterjochung durch die »Prods«, wie sie die Protestanten nennen.

Dieses Joch tragen die Ulster-Katholiken schon seit Generationen.

Um die »Smaragd-Insel« vor dem Einfluß der katholischen Großmächte Spanien und Frankreich zu schützen, hatte England im 17. Jahrhundert Tausende schottischer Protestanten im katholischen Irland angesiedelt.

»Prods« und Katholiken metzelten einander nieder, bis König Wilhelm von Oranien 1690 in der Schlacht am Boyne das katholische Heer des vertriebenen Stuart-Königs Jakob II. besiegte.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wollten irische Republikaner die Protestanten mit in die Unabhängigkeit von England ziehen. Doch die königstreuen Nordiren -- wegen ihrer Verehrung Wilhelms »Orangemen« genannt -- wehrten sich gegen die Hufer nach der Unabhängigkeit. Unter Premier Lloyd George stimmte England schließlich dem Zusammenschluß von 26 Grafschaften Irlands zum Freistaat Eire zu, während die sechs nördlichen Ulster-Grafschaften -- so groß wie Schleswig-Holstein -- als halbautonomes Land bei London blieben.

Freilich: Die in Ulster lebenden Katholiken wurden bei dieser Aktion nicht befragt -- und fühlen sich seither, so ein Verehrer Bernadette Devlins, von den Protestanten wie »weiße Neger« behandelt.

Tatsächlich steigt die Arbeitslosigkeit in katholischen Gegenden bis zu 16, in protestantischen selten über fünf Prozent.

Willkürlich verschoben die »Prods« auch Wahlkreisgrenzen zu ihrem Vorteil und erobern auf diese Art sogar in vorwiegend katholischen Gemeinden die Rathäuser.

Wie vor Jahrhunderten wird auch heute noch nach dem Ständewahlrecht gewählt -- und das gibt einem reichen »Prod« bis zu 30, einem weniger begüterten, meist katholischen Nordiren aber höchstens zwei Wahlstimmen.

Im vorigen Oktober gingen katholische Bürgerrechtler mit ihrem Protest gegen die Protestanten auf die Straßen von Londonderry und lieferten sich Straßenschlachten mit RUC-Polizisten und fanatisierten Anhängern des protestantisch-bigotten Ian Paisley, dessen Glaubenssatz lautet: »Sie können eher den Niagarafall mit einem Teelöffel stoppen als unsere (antikatholische) Bewegung bremsen.«

Zwar setzte sich ein prominenter Nordire für die katholische Minderheit ein: der Premier Terence O'Neill.

Doch als O'Neill Neuwahlen ausschrieb, um mit größerer Parlamentsmehrheit größere Rechte für die Katholiken durchsetzen zu können, wäre er fast selbst gescheitert: In seinem eigenen Wahlkreis erhielt er nur 1414 Stimmen mehr als Rivale Paisley. Die Position des Premiers war schwächer als zuvor.

Vorletzten Sonntag schließlich, als überall in Ulster der offene Konflikt wieder ausgebrochen war, mußte O'Neill sogar die Regierung in London bitten, 2500 in Nordirland stationierte Soldaten für die Abwehr eines Bürgerkriegs freizustellen.

Harold Wilsons Regierung stimmte zu und schickte zusätzlich noch 500 Soldaten vom Regiment »Prince of Wales« nach Ulster. Wilsons neue Kollegin Bernadette Devlin aber warnte: »Ich möchte nicht die Mutter oder Schwester eines dieser unglücklichen Soldaten sein, die jetzt dort stehen. Die Leute in Ulster mögen es gar nicht, wenn Engländer ihnen sagen, was sie zu tun haben.«

Denn, so die Unterhaus-Debütantin: »Es wurde noch kein Engländer geboren, der die Iren versteht.«

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