ZEITGESCHICHTE Weiße Stellen
Sie wurden »maruta« genannt, japanisch für Holz, Rohling, Material. Es waren aber Menschen.
Mehr als 3000 Gefangene, die meisten von ihnen Chinesen und Koreaner, aber auch Briten und Amerikaner, Russen und Australier, wurden von japanischen Wissenschaftlern zwischen 1938 und 1945 in Nordchina durch medizinische Versuche gequält und ermordet. Die Opfer waren Arbeiter und Intellektuelle aus dem antijapanischen Widerstand, KP-Mitglieder und Offiziere der Tschiang-Kai-schek-Truppen, sowjetische Berater, Bauern, gefangene Soldaten und abgeschossene US-Piloten.
Die grauenhaften Experimente, mit denen die kaiserliche Armee Möglichkeiten zur biologischen Kriegführung erprobte, gehörten lange zu den am sorgfältigsten verschwiegenen Kriegsverbrechen der japanischen Besatzungszeit.
Auf chinesischer Seite fehlte es Historikern am Zugang zu Augenzeugen und Unterlagen, unter Japans Zeitgeschichtlern blieb das Thema viele Jahre tabu.
»Bis heute gibt es keinen ernsthaften Versuch, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs als solche zu akzeptieren und aufzuarbeiten«, schrieb der japanische Soziologe und Germanist Noboru Miyazaki über die Anstrengungen seiner Landsleute, die Gespenster der Vergangenheit zu verdrängen.
Daher sei es einer der »schlimmsten Augenblicke in der Geschichte der japanischen Moral« gewesen, als Seiichi Morimura 1981 in seinem Buch »Sättigung des Teufels« Japans Öffentlichkeit erstmals mit den Grausamkeiten jener »Truppe 731« konfrontierte, die »Biologie und Medizin in eine Wissenschaft des Massenmordes verwandelt« hatte (so Autor Morimura). Die Japaner mußten erkennen, kommentierte Miyazaki in seiner Rezension, »daß sie mit dem Teufel im Bunde gewesen waren«.
Die unfreiwillige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird jetzt durch einen dokumentarischen Spielfilm erneut herausgefordert: Der Hongkonger Regisseur Mou Dunfei hat in sechsmonatiger Drehzeit die Geschichte der japanischen »Teufelstruppe« nachvollzogen.
Der 100-Minuten-Streifen, inszeniert mit 1700 Schauspielern und Komparsen, ist nicht nur ein Schocker für Japan, er legt auch die historischen Wurzeln des chinesischen Mißtrauens gegenüber der wirtschaftlichen Großmacht Japan frei - ein Mißtrauen, das immer wieder durch Äußerungen nationalistischer japanischer Politiker genährt wird, die den Eroberungskrieg im Pazifik als ruhmreiche Episode der nationalen Vergangenheit verklären möchten.
Erst vor kurzem wieder provozierte ein Minister in Tokio die Opfer von einst mit der Behauptung, Japan sei nur zur »Erhaltung der eigenen Sicherheit« in den Krieg eingetreten. »Die weiße Rasse hatte Asien in eine Kolonie verwandelt«, so die erstaunliche These von Seisuke Okuno, im Kabinett von Premier Noburo Takeshita Chef der nationalen Landagentur, und: »Japan war auf keinen Fall eine angreifende Nation« (SPIEGEL 21/1988).
Der Minister, Mitglied einer rechten Fraktion innerhalb der regierenden Liberalen Demokratischen Partei, mußte zurücktreten, blieb aber bei seiner Meinung.
Kein Wunder, daß Regisseur Mou Dunfei nun fürchtet, sein Film (Arbeitstitel: »731") könnte als propagandistische _(Der Schauspieler verkörpert ) _(Generalleutnant Shiro Ishii. )
Gegenattacke Chinas mißverstanden werden. Das Projekt illustriert schon in seiner eigenen Entstehungsgeschichte, wie kompliziert hinter der plakativ zur Schau getragenen »sino-japanischen Freundschaft« das Verhältnis der beiden asiatischen Nachbarn ist.
Als Dunfei 1983 die Pekinger Bürokratie um Drehgenehmigung bat, reagierten die roten Kulturfunktionäre zunächst kühl. Die Zusammenarbeit mit Tokio gedieh damals prächtig; ein Vertrag, garniert mit zinslosen japanischen Staatsdarlehen, gelobte Freundschaft bis ins nächste Jahrtausend - solch ein heikles Thema, sagte man dem Regisseur, der gerade in der Volksrepublik mit seiner ersten Kung-Fu-Koproduktion großen Erfolg gehabt hatte, »könnte die japanisch-chinesischen Beziehungen beeinträchtigen«.
Mou Dunfei ließ sich nicht abweisen. Der 49jährige Cineast, der als Sohn eines Militärs in Taiwan aufwuchs und sich schon 1969 bei seinem Regiedebüt - einem Dokumentarfilm über die Vergangenheit der Nationalisten - den Ärger der Kuomintang-Regierung zugezogen hatte, recherchierte in japanischen und US-Archiven, sammelte Unterlagen und legte Ende 1984 in Peking seinen Drehbuchentwurf vor.
Diesmal fand er Gehör. »Mit allen Kräften fördern«, vermerkte ein Mitglied des Politbüros auf dem Expose. Gleichwohl dauerte es noch fast drei Jahre, bis die Arbeit beginnen konnte.
Das politische Klima hatte sich gewandelt. Trotz wiederholter Klagen aus Peking war Chinas Defizit im Außenhandel mit Japan hoch geblieben; und im Streit um ein Studentenheim in Kioto hatte ein japanisches Gericht zugunsten Taiwans entschieden - ein empfindlicher Gesichtsverlust für Pekings Diplomaten.
Mou Dunfei bedauert heute das Hickhack um die Dreherlaubnis: »Mir geht es ja nicht darum, Zwietracht zwischen China und Japan zu säen oder Rache zu nehmen. Wir haben eine Vergangenheit, und hier müssen die weißen Stellen ausgefüllt werden. Es geht um historische Tatsachen.«
Diese Fakten hat Mou Dunfei mit unerbittlicher Detailtreue rekonstruiert. Er filmte an Originalschauplätzen - so in der Nähe von Harbin, wo sich das Institut für den Bakterienkrieg 1933 unter der Tarnbezeichnung »Kamo-Einheit« zuerst eingenistet hatte. Das war ein Jahr nachdem Japans Militärs in Nordchina ein Marionettenregime eingesetzt und Chinas letzten Kaiser, Pu Yi, zum Regenten des neuen Mandschu-Reichs befördert hatten.
Fünf Jahre später, als aus den japanischen Übergriffen gegen China offener Krieg geworden war, richtete die Armee südlich von Harbin ein militärisches Sperrgebiet ein. Das 36 Quadratkilometer große Gelände umfaßte Unterkünfte für knapp 3000 Mannschaften und Offiziere, Gefängnisse und Labors, besaß eine Generatorenstation, einen Flugplatz und einen eigenen Gleisanschluß, dazu Sportplatz, Schule und Shinto-Schrein. Der Terror verbarg sich hinter Normalität: Einmal wöchentlich gab es Filmvorführungen, am Wochenende Tanz.
Zentrum des von Gräben und elektrisch geladenen Zäunen umgebenen Lagers war ein quadratischer Bau: Hier waren die Zellen, die Labors und Operationssäle untergebracht, züchteten die Wissenschaftler in Uniform Erreger von Pest, Cholera, Typhus, Ruhr, Tuberkulose und Milzbrand (Monatsproduktion an Bakterienkulturen: acht Tonnen).
200 bis 300 Gefangene, darunter auch Frauen und einige Kinder, waren ständig in den beiden Zellenbauten Nummer 7 und Nummer 8 untergebracht. Die Betreuung war gut. Die Gefangenen erhielten Obst und Kuchen, Russen bekamen ihr gewohntes Schwarzbrot und Chinesen Nudeln. Das hatte Methode: Kranke »Versuchsobjekte« hätten die »Forschungsergebnisse« verfälscht.
Morgens wurden die Gefangenen in Handschellen in die Labors geführt. Die Wissenschaftler injizierten Bakterien und beobachteten, wie schnell und wie schwer die Krankheit einsetzte.
Zur Erprobung von biologischen Waffen wurden die Gefangenen auf einem besonderen Gelände an Pfosten gefesselt. Flugzeuge warfen Spezialbomben ab. In 200 Meter Höhe zerbarst deren Keramikmantel, und Hunderttausende von Flöhen, die vorher mit dem Blut pestkranker Ratten gefüttert worden waren, bissen sich an den Opfern fest.
»Wir waren damals fest davon überzeugt, daß der von uns geführte Krieg
unser armes Japan wohlhabend machen und zur Befriedung Asiens führen würde«, gab nach Kriegsende ein Truppenmitglied zu Protokoll. »Deswegen haben wir die Maruta auch nicht als Menschen betrachtet, sondern nur als Sachen, die nicht mal den Wert von Vieh hatten.«
Deshalb schickten diese Wissenschaftler die Gefangenen bei minus 20 Grad unbekleidet ins Freie und übergossen sie mit Wasser, bis sie in einen Eispanzer gehüllt waren. Oder sie beobachteten durch die Scheiben einer Unterdrucckammer, wie die Leiber der Gefangenen aufquollen und zerplatzten.
Sie schlugen mit einem Holzhammer auf erfrorene Gliedmaßen ein, entfernten am noch lebenden Opfer Organe, studierten die Wirkung von Vergiftungen und Infektionen und töteten aufsässige oder »verbrauchte Versuchsobjekte« mit Chloroforminjektionen.
Die mörderischen Experimente wurden auf Photos festgehalten, teils handkoloriert. Man fertigte Notizen und Karteikarten, Krankengeschichten und Dokumentarfilme an.
»Alle Angehörigen der Einheit hatten im Herzen diesen blinden Patriotismus«, rechtfertigte sich ein Offizier nach dem Krieg.
Das galt auch für die jungen Praktikanten, die in dem Geheiminstitut ausgebildet wurden. Die 12- bis 15jährigen kamen meist aus armen ländlichen Gegenden Japans und ersetzten ab 1942 Gehilfen und Laboranten der 731-Truppe, die an die pazifischen Kriegsschauplätze abgezogen wurden.
Die Halbwüchsigen bekamen eine einjährige Schulausbildung einschließlich Militärkunde und Unterricht in Bakteriologie, assistierten bei Versuchen an Gefangenen und arbeiteten bei der Produktion von Kampfstoffen mit. Japans Militärs sahen in den Bakterienbomben Wunderwaffen, mit denen am Tag »X« ein sowjetischer Vormarsch in Nordchina gestoppt werden könnte.
Die Seuchengeschosse, gefüllt mit Flöhen oder hochkonzentrierter Mikrobenlösung, kamen probehalber auch außerhalb des Lagers zum Einsatz: Generaloberstabsarzt Nishi sagte aus, er habe einen Dokumentarfilm gesehen, in dem der Abwurf einer Bakterienbombe verfolgt worden war. Der Schwarzweißstreifen zeigte nach dem Zwischentitel »Ergebnisse« Schlagzeilen aus chinesischen Tageszeitungen: »In der Nähe von Ningbo kam es plötzlich zum Ausbruch einer Pestepidemie.«
Gegen Kriegsende verfügte die Truppe über genug Gift und Erreger, um »die Bevölkerung der ganzen Erde« zu vernichten. Aber zum militärischen Großeinsatz der Bomben kam es nicht mehr.
Zwischen dem Abwurf der zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erklärte die Sowjet-Union am 8. August 1945 Japan den Krieg, einen Tag später heulten in Harbin die Luftschutzsirenen. Die Stadt in unmittelbarer Nähe der Truppe 731 erlebte den ersten Angriff sowjetischer Bomber.
Angesichts des Vormarschs der Sowjets ging es Japans Militärs nur noch darum, »alle Spuren eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte« (Miyazaki) zu vernichten.
Sie brachten die Gefangenen um, verbrannten die Leichen und verscharrten die Überreste in Gruben. Menschliche Präparate, in Formalin erhaltene Beweise der Versuche, wurden mit Lastwagen zum Songhua-Fluß gefahren und dort in die Fluten gekippt, die Wohnhäuser, Werkstätten und Laboratorien der 731-Truppe angezündet und das Gefängnis mit Dynamit in die Luft gesprengt.
Die Wissenschaftler wurden in 15 Sonderzügen evakuiert, zusammen mit ihren Dokumenten und Photos. Als die Einheit eine Woche später von der Südspitze der koreanischen Halbinsel nach Japan übersetzte, schärfte man ihr ein: »Die Erfahrungen der Truppe 731 sind zu verschweigen. Truppenmitglieder dürfen kein öffentliches Amt bekleiden und keinen Kontakt untereinander pflegen.«
Und Lagerkommandant Shiro Ishii, ein ehrgeiziger Chirurg im Rang eines Generalleutnants, befahl: »Japan ist geschlagen, ihr geht jetzt in die Heimat zurück. Wohin ihr auch kommen werdet, ihr müßt unbedingt das Geheimnis der Einheit 731 bewahren.«
Der Film von Mou Dunfei endet mit den Bildern des brennenden Gefängnisses und der Flucht der Japaner. Im Nachspann wird vermerkt, daß keiner der Folterknechte vor dem Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen in Tokio angeklagt wurde.
Selbst der Chef der Einheit, Generalleutnant Ishii, kam ungeschoren davon, weil er seine Forschungsergebnisse den USA zur Verfügung stellte. Unter Obhut der US-Streitkräfte konnte er seine wissenschaftlichen Dokumente ordnen; der
Sowjet-Union, die im Dezember 1949 in Chabarowsk einige der Mitglieder der Einheit 731 verurteilte und auch Ishii vor Gericht bringen wollte, teilte man mit, für eine Anklage seien »nicht genügend Beweismittel vorhanden«.
Die Mediziner und Bakteriologen machten im Nachkriegs-Japan Karriere. Allmählich trauten sich die alten Kämpfer wieder an die Öffentlichkeit. Die halbwüchsigen Pioniere von einst verschickten Rundbriefe unter den »Freunden von Fang« (Fang Ping war der alte Ortsname für den Standort der Einheit 731). Am 5. September 1981 fanden sich 19 ehemalige Truppenmitglieder bei den heißen Quellen von Matsumoto (Präfektur Nagano) zum Kameradschaftstreffen ein. Vor dem Eingang des Hotels Minohara, so erinnerten sich später Angestellte, grüßte ein Spruchband: »Mandschu-Armee Einheit 731 - erstes Treffen der Kriegskameraden«.
Regisseur Mou Dunfei, der das Verdrängte mit manchmal schwer erträglichen Bildern sichtbar macht, erhofft sich von seinem Film den Anstoß zu einer neuen Diskussion - nicht nur in China, Hongkong oder Taiwan, sondern vor allem in Japan: »Damit wir verstehen, daß die Freundschaft von heute auf eine dunkle Vergangenheit folgte.«
Doch in Japan, wo der Film zur Zeit synchronisiert wird, empfinden nationalistische Ultras und ehemalige Militärs die Debatte um die Brutalitäten der kaiserlichen Besatzungsmacht als ehrabschneidende Attacke. Sollte der Film »731« in Japan gezeigt werden, so wurde Mou Dunfei von Freunden in Tokio gewarnt, müsse er sich auf Morddrohungen gefaßt machen.
[Grafiktext]
Grenze des weitesten japanischen Vordringens 1942 MANDSCHUKUO seit 1905 japanisches Einflußgebiet 1932 japanisches Protektorat Sowjet-Union CHINA Harbin Peking JAPAN Tokio PAZIFISCHER OZEAN FRANZINDO-CHINA PHILIPPINEN NEU-GUINEA NIEDERLÄNDISCH-INDIEN AUSTRALIEN
[GrafiktextEnde]
Der Schauspieler verkörpert Generalleutnant Shiro Ishii.