FRANKREICH / DE-GAULLE-NACHFOLGE Welch ein Chaos
In jenem Augenblick«, gestand ein Greis dem anderen, »dachte ich:
Eigentlich wäre das gar kein schlechtes Ende.«
Die beiden alten Herren - Charles de Gaulle, 71, Präsident der V. Republik, und Paul Reynaud, 83, einst Ministerpräsident der III. Republik unterhielten sich über das Attentat, dem Frankreichs Staatschef im September 1961 mit knapper Not entkommen war.
Bestürzt über die Worte seines Freundes, widersprach Reynaud: »Sie irren sich, mon général. Man würde Ihnen vorwerfen, daß Sie eine Verfassung erließen, die nur auf Sie zugeschnitten war, und dies mit dem Hintergedanken: 'Nach mir die Sintflut!"'
Seit am 22. August dieses Jahres bei einem zweiten Attentat eine von mehr als hundert MP-Kugeln das Haupt des Staatsoberhauptes nur um zwei Zentimeter verfehlte, wird in Frankreich mit steigender Heftigkeit die Schicksalsfrage der Nation erörtert: Was kommt nach de Gaulle?
Die Verfassung der V. Republik sieht für den Fall einer Amtsunfähigkeit ihres Präsidenten einen äußerst komplizierten Mechanismus vor. Beim Tode oder beim Rücktritt des Staatschefs übernimmt zunächst der Präsident des Senats, der zweiten Kammer des Parlaments, interimistisch die Geschäfte des Staatsoberhaupts. Ihm obliegt es, innerhalb von 20 bis 50 Tagen das riesige Wahlmännergremium, dem rund 70 000 französische Politiker davon allein 36 000 Bürgermeister und Gemeinderäte kleiner Städte) angehören, zur Wahl eines neuen Präsidenten in die einzelnen Departementshauptstädte einzuberufen.
Präsident des Senats ist zur Zeit der 65jährige farbige Kolonialfranzose Gaston Monnerville aus Cayenne, ein brillanter Jurist mit untadeliger politischer Laufbahn, dem aber die Autorität fehlt, um ein Interregnum ausfüllen zu können, denn »niemand weiß, welch ein Chaos einer Ermordung de Gaulles folgen würde« ("Daily Mail").
Nach dem August-Attentat hofften Politiker und Publizisten Frankreichs, der General werde dem in der Öffentlichkeit seit geraumer Zeit diskutierten Projekt zustimmen, endlich mit Hilfe einer Verfassungsänderung einen Vizepräsidenten zu benennen, der sich nach amerikanischem Modell an der Seite Charles de Gaulles in die Staatsgeschäfte einarbeiten und im Notfall sofort für den Staatschef einspringen könnte.
Deutschland-Heimkehrer de Gaulle wischte indes alle Spekulationen über einen Vizepräsidenten vom Tisch. Dem Manne, der sich als Inkarnation Frankreichs betrachtet, wollte nicht behagen, daß bereits zu seinen Leb- oder Amtszeiten eine zweite hervorragende Figur, nämlich sein designierter Nachfolger, auf der politischen Bühne Frankreichs agiert.
Ein Argument der hitzigen Nachfolge -Diskussion machte sich der General freilich sogleich zu eigen: Er forderte eine Verfassungsänderung. Doch während die französische Öffentlichkeit damit gerechnet hatte, daß eine Änderung der Verfassung die Bestimmung eines Vizepräsidenten; ermöglichen solle, verlangte de Gaulle, den Wahlmodus für den Präsidenten zu ändern,
70 000 Wahlmänner, so argumentierten de Gaulles Parteigänger, seien keine Basis für einen Mann, der nicht über die souveräne Autorität des großen Charles verfüge. Jeder neue Präsident müsse die Mehrheit des Volkes hinter sich haben; nur so könne ein Rückfall in die unseligen Zeiten der IV. Republik vermieden werden.
Mitte vergangener Woche schien bereits sicher, daß die französische Bevölkerung am 21. oder 28. Oktober darüber befinden soll, wie künftig ihr Präsident gewählt wird: vom Volk oder von einem Wahlmännergremium.
Noch in dieser Woche will Charles de Gaulle seinen Landsleuten an den Fernsehschirmen klarmachen, warum sie den nächsten Präsidenten in direkter Wahl bestimmen sollen.
Da de Gaulle - der niemals klar gesagt hat, daß er nicht sein eigener Nachfolger werden wolle - bislang bei jedem Referendum über 65 Prozent Ja-Stimmen einheimsen konnte, zweifelt kaum ein französischer Politiker daran, daß es dem General auch diesmal gelingt, seine Meinung durchzusetzen, ohne die Kronprinzen-Frage auch nur berührt zu haben.
Erboste sich Sozialistenführer Guy Mollet: »Was die Wahl eines Nachfolgers anbelangt, so glaubt doch niemand im Ernst, daß das gaullistische Regime länger leben wird als de Gaulle.«
Senatspräsident Monnerville
Regent in der Sintflut