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Welle mit Zukunft

Ein Heftchen-Genre, das bislang meist nur als triviales Lesefutter galt, mausert sich zur hartgebundenen Literaturgattung: Science-fiction.
aus DER SPIEGEL 11/1972

An großen Namen ist kein Mangel: Kafka wird gern genannt, ebenso Voltaire und Swift und Cyrano de Bergerac und natürlich auch Plato und Bacon. Thomas Morus und Melville, Poe und Arno Schmidt ...

Kaum ein anderes, heute noch florierendes Trivial-Genre der Literatur kann sich so vieler bedeutender Ahnen, Anreger und Ableger rühmen wie die Science-fiction (SF). Und kaum eine Literaturspezies erlebt derzeit -- insbesondere in der Bundesrepublik -- einen solchen Veröffentlichungs-Boom.

Ob das nun daran liegen mag, daß »die Science-fiction-Literatur einen Sinn und aufklärerischen Wert besitzt, den keine andere Literatur gegenwärtig für sich reklamieren kann«, wie SF-Klassiker Isaac Asimov im SPIEGEL-Essay zum Thema hochgemut mutmaßt (Seite 138), oder ob sich hier nur ein deutscher Nachholbedarf, etwa gegenüber den angelsächsischen Ländern, zur Hochkonjunktur ballt -- Sciencefiction ist jedenfalls hierzulande nun nicht mehr nur der brachiale Weltraum-Tarzan Perry Rhodan (von dem seit 1961 über 850 Titel in einer Auflage von 83 Millionen Heftchen verkauft wurden). nicht mehr nur ein billiges Schund- und Groschenheft-Sortiment: Diese »relativ junge Literaturgattung so stand es gar schon im »Börsenblatt« zu lesen, »wird seriös«.

Denn diese Literatur, die herkömmlicherweise von einer Zukunft fabelt voller Marsmenschen, Monstren und Mutanten, hat in den letzten Jahren nicht nur ihre Verehrer, sondern auch ihre Verleger kräftig gemehrt.

Zuerst, in den fünfziger Jahren, gab es fast nur SF-Romane in Heftchenform; seit etwa 1960 dann übernahmen im Geschäft mit der Zukunft die Taschenbuchfabriken Heyne (bis heute 275 Titel mit je um 20 000 verkauften Exemplaren) und Goldmann (140; 15 000) die Führung. Goldmann erzielte 1971 einen SF-Umsatz von etwa 1,5 Millionen Mark; Heyne: zwei Millionen Mark. »Wir sind es«, sagt Heyne-Lektor Reinhold Stecher heute, »die das deutsche SF-Terrain erst präpariert haben.«

Jetzt, auf dem durch einige Millionen Taschenbücher und einige Hundert Millionen Heftchen, freilich wohl auch durch Fernseh-Erfolge wie »Orion« oder »Wega« beackerten Boden, sprießen nun auch SF-Reihen in teurerem Druck, größerem Format und bibliothekswürdiger Aufmachung.

Vor drei Jahren begann als erster der Hamburger Marion-von-Schröder-Verlag seine »Science fiction & fantastica«-Reihe, die sich durch ihr popschiickes Design (von Edelmann) und ihre Band-Preise (10 bis 18 Mark) von den eher unansehnlichen Taschenbüchern der Konkurrenz abhob. Durch »unsere richtig schönen, dicken, guten Paperbacks«. glauben die »Fantastica«-Verleger denn auch, »haben wir SF in Deutschland erst literaturfähig gemacht«.

Zwar sind unter den 27 Bänden etliche literarische Dropouts; durch Klassiker und SF-Prominente wie Bradbury, Ballard und den Polen Stanislaw Lem jedoch wahrt die Serie (Auflage pro Band: 10 000) ihren Anspruch.

Mit bereits anerkannten Autoren, so einigen »Nebula-Award«-Preisträgern, versucht auch der Münchner Lichtenberg-Verlag seiner »Science fiction für Kenner«-Reihe (bislang 15 Bände) ein literarisches Image zu geben. Die 11-Mark-Paperbacks werden überdies von der Versand-Buchgemeinschaft Rencontre vertrieben -- für 10,80 Mark. in »silbrig schimmerndes Skivertex« gebunden.

Eine Literatur, die so bereits zum Konsum von Buchklub-Kunden erwählt ward, ist wahrhaftig »salonfähig« (Rencontre), und die Verlage verhalten sich danach.

Der Almanach des angesehenen Insel-Verlags, der in diesem Jahr ganz der Science-fiction gewidmet ist, faßt die neueste Stimmung in Sachen »Literatur von der »Zukunft« so zusammen: »Gestern noch als Hirngespinst von haltlosen Schwärmern ... verlacht, feiert heute, was so bescheiden begann, einen weltweiten populären und akademischen Erfolg ... Selbst Verlage, die noch vor wenigen Jahren den Vorschlag. SF zu publizieren, als Zumutung von sich gewiesen hätten, bringen SF-Reihen heraus.«

Zu diesen gehört auch der Insel-Verlag selbst: Das Frankfurter Haus präsentiert die »Phantastische Wirklichkeit« der Science-fiction zwischen harten Buchdeckeln (für 14,50 Mark); die Reihe soll möglichst nur Edel-SF-Autoren bringen; den bisher verstreut publizierten Stanislaw Lem nahm Insel bereits unter Exklusivvertrag.

Auch eine neue Taschenbuchreihe will am SF-Aufschwung teilhaben: Bei 5. Fischer erschienen die ersten sechs »Fischer Orbit«-Bändchen. Und auch in anderen, ansonsten der Trivialen-Pflege unverdächtigen Verlagen erschienen Titel mit und über Sciencefiction-Themen: bei Kiepenheuer & Witsch ("Koitus 80"), bei Kindler, bei Econ, bei Nymphenburger, bei Hanser, bei Claassen, bei ...

Während die vorausgegangenen Trivial-Moden der Horror-, Abenteuer- und Gartenlauben-Renaissance, die vorgekramten Courths-Mahlers, Karl- May-Reprints und »Bibliotheka Dracula«-Funde nur ein historisch begrenztes Material reproduzieren konnten, ist die SF-Literatur ein lebendiges, produktives Genre. Die Welle hat immer noch Zukunft.

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