BONN / BILDUNGSMINISTERIUM Welt von gestern
An Abwechslung fehlt es nicht in der westdeutschen Bildungslandschaft: Zwergschulen in Bayern, Gesamtschulen in Berlin, Lehrerbildung in Hamburg an der Universität, in Rheinland-Pfalz an Pädagogischen Hochschulen. Und allenthalben Hochschul- und Fachhochschulgesetze, die sich von Land zu Land unterscheiden.
Denn Kulturpolitik treiben in der Bundesrepublik vor allem elf Länderparlamente, acht Kultusminister, vier Schul- und Hochschulsenatoren. Das ist »die Crux für den neuen Bonner Bildungsminister, Professor Hans Leussink, der nur einer von vielen deutschen Bildungaministern ist.
Als Bundesminister ohne Bundes-Bildungskompetenz, konfrontiert mit konkurrierenden Reformmodellen verschiedener Länder und Parteien, dürfte es Leussink schwerfallen, entscheidenden Einfluß zu nehmen auf die Neugestaltung des Schul- und Hochschulsystems, das seine Absolventen heute noch -- so urteilt Leussinks Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher -- »für eine Welt von gestern« heranbildet.
Es liegt ·gar nicht im Ermessen der Bundesregierung, was Kanzler Brandt in seiner Regierungserklärung versprochen hat: daß »Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung« künftig »an der spitze der Reformen« zu stehen hätten. Laut Grundgesetz hat die Regierung in Bonn nur das Recht, »Rahmenvorschriften über die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens« zu erlassen und -- gemeinsam mit Ländern -- Bildungsplanung zu betreiben.
Was »Rahmenvorschriften über allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens« aber im Detail bedeuten könnten, hat bislang noch kein Minister formuliert. Die vage Kompetenz wurde dein Bund erst im Mal dieses Jahres, im Zuge der Finanzverfassungsreform, zugestanden. Leussinks Vorgänger Stoltenberg (CDU) wollte zuerst juristisch das Terrain sondieren, bevor er dem Parlament ein Hochschulrahmengesetz vorlegte.
Das Gesetzeswerk, das Stoltenbergs Nachfolger nun für die Regierung entwerfen muß, kann zwar vieles enthalten, aber es wird -- so fürchtet der Generalsekretär der Kultusminister-Konferenz (KMK), Kurt Frey, -- »letztlich doch nur aus Gemeinplätzen bestehen. Denn eine Rahmenkompetenz des Bundes, so urteilen die Grundgesetz-Kommentatoren Gerhard Leibholz und Hans-Justus Rinck, muß »grundsätzlich bestehende Landeskompetenzen zur Gesetzgebung« achten, und »was den Ländern zu regeln bleibt, muß von substantiellem Gewicht sein«.
Je mehr Substanz die Bundesländer aber In ihre Hochschulgesetze einbringen, desto weniger Einfluß bleibt dem Bund. So ist noch ungewiß, ob und in welchem Maße Leussink die Länder zur Reform verpflichten kann; ob ihm gelingt, was Brandt versprach: nämlich »Vorschläge für die Überwindung überalterter hierarchischer Formen« an Universitäten »wie Forschungseinrichtungen vorzulegen und durchzusetzen und die neu entstehenden Fachhochschulen in ein Gesamthochschulsystein einzugliedern.
Die besten Chancen für bundeseinheitliche Regelungen bestehen vorerst in zwei Teilbereichen: im Hochschulbau, wo sich der Bund durch das Hochschulbauförderungsgesetz starken Einfluß sichern konnte, und bei der Reform der Lehrkörperstruktur, denn für das Beamtenrecht hat der Bund seit langem eine erprobte und fester umrissene Rahmenkompetenz als für das Hochschulwesen.
Beamtenrechtlich also könnte der Bund rund 10 000 Hochschulwissenschaftlern ohne Professoren-Rang mehr Rechte geben als bisher und die Distanz zu den Ordinarien verringern. Aber welchen Einfluß die Juniorwissenschaftler -- ebenso wie die Studenten -- ·auf Grundsatzentscheidungen Ober Forschung und Lehre nehmen können, dürfte ein Hochschulrahmengesetz kaum präjudizieren; es könnte nur so unpräzise Aussagen enthalten wie Leussinks Bekenntnis vor dem Bundestag: »An der richtigen Stelle« hätten hochqualifizierte Mitarbeiter »ebenfalls etwas zu dem Gesamtgeschehen zu sagen«.
Ob Leussinks Vorstellungen auf der Höhe der Zeit sind -- oder nicht, wie der Vorsitzende der Bundes-Assistenten-Konferenz, Tilman Westphalen, meint -, dürfte sich zeigen, wenn der Minister Leitlinien und Modelle für die Hochschul- und Bildungspolitik präsentiert. Kanzler Brandt versprach in der Regierungserklärung für den Beginn der siebziger Jahre einen langfristigen Bildungsplan. Er soll »die vier Hauptbereiche unseres Bildungswesens -- Schule, Hochschule, Berufsausbildung und Erwachsenenbildung -- nach einer durchsichtigen und rationalen Konzeption koordinieren«.
Das Recht zur Bildungsplanung ohne Gesetzgebungskompetenz im Bildungswesen verweist die Bundesregierung wiederum in die Rolle des Förderers, der Reformen zwar »anregen, sie aber selber nicht vollziehen darf. Im Bereich der Hochschulen, mehr noch in der Schulpolitik, liegt es bei den Ländern, ob sie sich Planungen und Prognosen zu eigen machen.
Als Planungspromoter könnte der Bund, ohne die Kulturhoheit der Bundesländer anzutasten, statistische Bestandsaufnahmen finanzieren und die Arbeit der Planungs- und Forschungsinstitute koordinieren, die ·heute verstreut in den einzelnen Bundesländern mehr nebeneinander als miteinander forschen und planen. Vorrangig auch wäre der Aufbau einer Informationszentrale, die gleich dem von der VW-Stiftung finanzierten Hochschul-Informations-System (HIS) -- planungsrelevante Daten sammelt und zum Abruf bereithält. Bislang scheitert eine exakte Bildungsplanung in fast allen Bereichen noch an der Unzulänglichkeit statistischer Erhebungen und am mangelnden Informationsfluß zwischen den Ländern.
Der Nachholbedarf an Bildungsplanung und Bildungsforschung, den die Bundesrepublik aufzuweisen hat müßte langfristig den Forschungs- und Bildungsetat der Bundesregierung bestimmen, denn die notwendige Reform des Bildungswesens würde ohne wissenschaftliche Grundlegung und gründliche Vorausplanung die gegenwärtigen Unzulänglichkeiten nur verewigen. Kanzler Brandt und Fachminister Leussink freilich legen sich vorerst noch nicht auf Zuwachsraten oder Prioritäten fest. Sie verweisen auf das kommende Jahr, da dem nationalen Bildungsplan ein nationales Bildungsbudget folgen soll -- so Bund und Länder sich einigen können.
Fraglich aber bleibt, ob der Bund seine neuen Kompetenzen überhaupt »fortschrittlich und nicht retardierend« nutzen kann (wie Hildegard Hamm-Brücher wünscht), wenn er nicht zugleich die finanziellen Dimensionen sprengt, in denen Forschung. und Bildung bislang noch befangen sind. Leussink plädiert, ähnlich wie sein Vorgänger Stoltenberg, für eine Verdoppelung der Forschungs- und Bildungsausgaben innerhalb der nächsten zehn Jahre.
Anstelle der rund 22 Milliarden Mark, die heute von der öffentlichen Hand bereitgestellt werden, möchte er bis 1980 gemeinsam mit den Ländern 50 Milliarden Mark investieren. Solche Ausgabensteigerungen gelten anderen Kulturpolitikern als »unzureichend«. KMK-Präsident Evers zum Beispiel wünscht, gestützt auf Berechnungen des Bildungsrates, eine Verdreifachung der Bildungsausgaben allein bis 1975. Evers: »Mit weniger wird sich eine Reform schwerlich bewerkstelligen lassen.«