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AUSLÄNDER »Wenig verwurzelt«

Hat die deutsche Politik bei der Integration der Zuwanderer versagt? Innenminister Schily räumt Versäumnisse ein und kündigt in einem Drei-Punkte-Plan zusätzliche Anstrengungen an.
Von Petra Bornhöft, Horand Knaup und Cordula Meyer
aus DER SPIEGEL 49/2004

Der Minister beugt sich in seinem braunen Ledersessel nach vorn, streift die Zigarre vorsichtig im schweren, silbernen Aschenbecher ab und schlägt eine dünne, graue Aktenmappe auf. Schließlich fährt er mit dem Zeigefinger über endlose Zahlenkolonnen.

»600 000 Italiener leben in Deutschland«, sagt Otto Schily und nickt zufrieden. Er hat ein Ferienhaus in der Toskana, trinkt gern italienischen Rotwein und fühlt sich manchmal selbst wie ein Italiener. Nein, mit denen gibt es keine Probleme. Der Finger wandert weiter.

»568 000 Jugoslawen«, sagt der Minister und denkt nach. Nein, auch was jene anbelangt, sieht er ebenso wenig Schwierigkeiten wie beispielsweise mit den Polen. Schilys Finger kreist in der Luft. »Worüber reden wir eigentlich?«, fragt er, ohne eine Antwort zu erwarten, und klopft dann mehrmals auf eine deutlich umkringelte Zahl.

Über etwa 1,9 Millionen Türken - die größte Gruppe unter den 7,3 Millionen Ausländern in Deutschland.

2001 hatten nur noch 44 Prozent von ihnen einen Job; die Zahl der Türken, die von Sozialhilfe leben, ist prozentual dreimal so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Die große Mehrheit dieser Minderheit fühlt sich zunehmend diskriminiert, heißt es in einer Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung. Und: Die Lebenseinstellung der zweiten Generation sei »von Pessimismus und Selbstzweifeln« geprägt.

So geht es immer auch um die Türken, wenn seit dem Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh erregt um Integration, um Islamisten, Schultests oder Hassprediger, Leitkultur oder unterdrückte Frauen, um nationale Identität, Parallelgesellschaften, Straftäter und Migration gestritten wird.

Beherzt hat die Union die Chance genutzt, mit dem neuen Thema ihrem Dauerstreit im eigenen Lager zu entkommen. CDU-Chefin Angela Merkel ("Multikulti ist grandios gescheitert") will den Komplex Ausländer und Integration auf ihrem Parteitag in Düsseldorf in der kommenden Woche sogar in den Mittelpunkt stellen. Tenor ihrer Rede: Man muss den Migranten mehr abverlangen. Wer sich nicht anpasst, hat mit Konsequenzen zu rechnen.

Auch der Kanzler verspricht sich von einer harten Kontroverse Vorteile. »Wir als Partei der Aufklärung sollten die Debatte mit den Konservativen aufnehmen«, forderte er vergangenen Montag sein SPD-Präsidium auf. »Die Union versucht mit ihrer Strategie, den christlichen Fundamentalismus zu etablieren.« Diese Rechnung werde »nicht aufgehen«.

Die lauten Töne verdecken, dass sich mittlerweile mehr und mehr selbstkritische Stimmen zu Wort melden. Bei Rot-Grün setzt sich die Erkenntnis durch, dass alle bisherigen Bemühungen womöglich nicht ausreichen. So musste ausgerechnet Gerhard Schröder am Mittwoch voriger Woche im Bundestag einräumen, »dass es wahrscheinlich ein Fehler gewesen ist, nicht sehr viel früher darauf hinzuweisen, dass die wichtigste Voraussetzung für die Integration in eine Gesellschaft die Sprache ist«.

Auch der Innenminister, der die »Multikulti-Seligkeit« öffentlich zur Illusion erklärte, gibt mittlerweile unumwunden Versäumnisse der rot-grünen Ausländerpolitik zu. Ein umfassendes Integrationskonzept gebe es nicht.

So fehlt es nicht nur an finanziellen Mitteln - es fehlt vor allem eine enge Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden. Daran wird auch das Zuwanderungsgesetz nichts ändern, das am 1. Januar nach dreijährigem, zähem Gefeilsche in Kraft tritt.

Auf Dauer in Deutschland lebende Zuwanderer haben damit erstmals einen Rechtsanspruch auf Sprach- und Integrationskurse. Wer sich drückt oder durch die Prüfung fällt, muss allerdings um seinen Aufenthaltsstatus fürchten. Bei erfolgreicher Teilnahme hingegen besteht ein Recht auf vorzeitige Einbürgerung.

Doch was sich auf dem Papier gut liest, ist in Wirklichkeit nach Einschätzung aller Experten nur ein Torso, denn die Integrationsbemühungen sind vor allem für die jährlich 138 000 Neuankömmlinge vorgesehen. Ihnen stehen zwar 630 Unterrichtsstunden zu, aber für Zuwanderer, die bereits

in Deutschland leben, gibt es nur in Ausnahmefällen eine Förderung.

»Ich hätte mir mehr gewünscht«, sagt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck von den Grünen. »Das Zuwanderungsgesetz ist bei weitem nicht so gut, wie wir es gern darstellen«, meint auch der innenpolitische Sprecher der SPD, Dieter Wiefelspütz. »Wir tun uns ganz schwer mit dem großen Thema.«

Auch Schily weiß, dass er nachlegen muss, weil das Zuwanderungsgesetz allein nicht ausreicht. In aller Stille hat der Innenminister nun einen Drei-Punkte-Plan ausarbeiten lassen.

* Ein breit angelegter Wettbewerb für dauerhaft wirkende Konzepte in den Kommunen ist bereits ausgeschrieben und soll die Eingliederung vor Ort beschleunigen. Organisiert wird er von der Bertels-

mann-Stiftung, inhaltlich begleitet vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Behörde soll dabei als eine Art Clearing- und Informationsstelle dienen. Der Jury des Wettbewerbs sitzt die deutsch-türkische SPD-Parlamentarierin Lale Akgün vor. Erste Ergebnisse sollen Mitte 2005 vorliegen.

* Schily will die »geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Islam« energisch vorantreiben. Fernziel des Ministers: Eine breite Akzeptanz der Muslime in Deutschland für eine Art »europäischen Islam«, der »auch die Werte der Aufklärung, also etwa die gleichen Rechte der Frau, in sich birgt«.

* Wenn Integrationsbemühungen erkennbar misslungen sind, sollen die bestehenden Ausweisungsmöglichkeiten vor allem für Straftäter viel konsequenter genutzt werden. Schily: »In der Pflicht sind die Bundesländer. Sie müssen von ihren Möglichkeiten, Hassprediger und ähnliche Figuren auszuweisen, entschiedener Gebrauch machen als bisher. Die Möglichkeiten jedenfalls sind mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes vorhanden.«

Ein höheres Integrationstempo ist allein schon aus ökonomischen Gründen dringend nötig. So verschenkt die deutsche Volkswirtschaft mit der Vernachlässigung ihrer Ausländer Jahr für Jahr gigantische Beträge. Auf 20 bis 40 Milliarden Euro schätzt der Sachverständigenrat die jährlichen Verluste.

Doch Experten zweifeln, dass die Deutschkurse, die das Zuwanderungsgesetz vorschreibt, tatsächlich reichen, um Abhilfe zu schaffen. »Es wird ein böses Erwachen geben«, vermutet etwa Barbara Aldag, die in der Volkshochschule Duisburg den Fachbereich Deutsch als Zweitsprache leitet, »die meisten werden das Zertifikat nicht schaffen.« In Schleswig-Holstein etwa besteht bisher nur eine kleine Minderheit nach 600 Stunden die Prüfung.

In Hamburg gab der Senat seit 2002 gut ein Drittel weniger für Zuwanderer aus. Begründung: deren sinkende Zahl. Dabei ist amtlich festgestellt, dass die Hälfte aller Kinder aus Migrantenfamilien die deutsche Sprache nicht richtig beherrscht. Betroffenen Eltern wird empfohlen, ihr Kind in die Vorschule zu schicken. Spezielle Sprachförderklassen gibt es nicht.

Außerdem wird in Hamburg die Vorschule demnächst nicht mehr kostenlos sein, sondern fast so teuer wie ein Kindergartenplatz, den sich viele Migranten nicht leisten können oder wollen. »Es wird Integration eingefordert, aber die Voraussetzungen dazu werden nicht geschaffen«, klagt die Migrationsexpertin der Grün-Alternativen Liste, Nebahat Güçlü, die selbst Geschäftsführerin in einer Begegnungsstätte für ausländische Frauen ist. »Wir haben immer viermal so viel Anmeldungen wie Plätze für unsere Deutschkurse gehabt.«

Auch das CDU-regierte Niedersachsen strich im vergangenen Jahr 1,2 Millionen Euro bei der Sprachförderung im Kindergarten und der Weiterbildung der Erzieherinnen. Zudem kassierte das Land die Hausaufgabenhilfe - die wiederum besonders oft von Migrantenkindern genutzt wird.

Immerhin hat das Land, wie Berlin, Sprachtests für fünfjährige Kinder eingeführt. Das ist längst nicht überall Standard.

In Hessen sollen jetzt bereits die Dreijährigen gefördert werden. Kindern mit Defiziten wird in neunmonatigen Förderkursen vor der Schule nachgeholfen. 8000 zumeist vierjährige Jungen und Mädchen wurden zusätzlich im vergangenen Jahr in Kindergärten gefördert.

Das Kernproblem wird allerdings auch durch solche Angebote nicht gelöst: Eine verzahnte Integrationspolitik, die vom Kindergarten über die Grundschule, den Ausbildungsbereich und die Sportvereine bis hin zu den Senioren alle Sektoren umfasst, gibt es nicht. »Es liegt nicht nur am Geld«, sagt Wolfgang Barth vom Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt, »der entscheidende Mangel der deutschen Integrationspolitik ist das Durcheinander der Angebote von Bund, Ländern und Gemeinden.«

Ein alter Fahrensmann hält die Schlacht ohnehin längst für verloren. Altkanzler Helmut Schmidt bezeichnete es - zum Entsetzen seiner Spitzengenossen - in der vergangenen Woche als »Fehler, dass wir zu Beginn der sechziger Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten«.

Die Bemerkungen des Polit-Pensionärs will Innenminister Schily auf keinen Fall so stehen lassen. »Schmidts Intervention war schädlich, das schürt auf beiden Seiten Vorurteile«, attackiert er den prominenten Parteifreund. »So wird eher die Desintegration befördert.« PETRA BORNHÖFT,

HORAND KNAUP, CORDULA MEYER

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