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ENGLAND / KIRCHE Wenigstens schämen

aus DER SPIEGEL 46/1966

Der anglikanische Erzdiakon von London hob die Stimme und legte die rechte Hand aufs Herz. »Wer von Ihnen«, so fragte der Ehrwürdige Martin Sullivan suggestiv, »hat noch nie in seinem Herzen eine fremde Frau begehrt?«

Der prominente Anglikaner appellierte nicht an weltliche Twens, sondern an Bischöfe und Erzbischöfe. Er sprach zum »Britischen Rat der Kirchen«, in dem sämtliche christlichen Konfessionen Englands - Katholiken ausgenommen - vertreten sind. Sullivan warb um Zustimmung für eine Denkschrift, die auf 76 Druckseiten eine moralische Revolution propagiert. Titel der - inzwischen zum Bestseller gewordenen - brisanten Broschüre: »Geschlecht und Moral«.

Der Kirchenrat selbst hatte die Arbeit bei dem Methodistenpfarrer Kenneth Gerald Greet, 47, Vater von drei Kindern und Autor von zwei Büchern über moralische Sex-Probleme, in Auftrag gegeben. Greet und zwölf Helfer, Pädagogen, Psychologen, Mediziner und Publizisten, sollten die alten christlichen Keuschheits-Normen neu überdenken und - so hofften die Kirchenoberen - erneut als vollgültig bestätigen.

Doch Greet und seine zwölf Sittenprüfer gerieten in den Sog der sexual moralischen Emanzipation. Sie schreitet, vom libertinen Skandinavien abgesehen, nirgends so stürmisch voran wie ausgerechnet auf den Britischen Inseln, wo noch vor 100 Jahren viktorianische Prüderie gebot, alle Beine - auch die von Pianos - züchtig zu verhüllen.

»Wir haben den Eisernen Vorhang der viktorianischen Flanellunterricke durchbrochen«, frohlockte die englische Sozialreformerin Elizabeth Draper. Die eklatantesten Durchbrüche geschahen in den letzten Monaten.

Ober- und Unterhaus wollen die Abtreibung entkriminalisieren. Die eingebrachten Gesetze erlauben die Schwangerschaftsunterbrechung ... wenn die werdende Mutter unter 16 ist oder wenn ein weiteres Kind sie »überfordern« würde.

Das altehrwürdige House of Lords verabschiedete bereits ein Gesetz, das Homosexualität unter willigen Erwachsenen nicht mehr mit Strafe bedroht. Auch im Unterhaus hat die Homo-Lex gute Chancen.

Im halbstaatlichen Fernsehen BBC konnte der Theater-Kritiker Kenneth Tynan unangefochten Britanniens obszönes Wort für Liebestun (fuck) gebrauchen. Jüngst erschien in einer Dokumentations-Sendung des englischen Fernsehens ein Paar im Bett, das sich wahrheitsgemäß über Intimstes unterhielt. Fragte Partner Jack: »Wann hast du's zum erstenmal getan?« Antwortete Mau- reen: »Mit 17.« - »Hat es Spaß gemacht?« - »Nicht sonderlich.«

Nach dem TV-Bettgeflüster veröffentlichte die Londoner »Times«, feines Pflichtblatt des Establishments, ein leidenschaftliches Plädoyer für »geplante Elternschaft«. Die »Consumer Association« - eine gemeinnützige Verbraucher-Organisation - informierte in einer Sonderausgabe ihrer Monatsschrift »Which?« über die gängigen Verhütungsmittel. Über 600 Geburtenkontroll-Kliniken werden vom Staat der Queen Elizabeth gefördert.

Nachdem der Sexus so viele Fesseln auf den prüden Inseln gesprengt hatte, sahen sich Methodisten-Pfarrer Greet und - seine zwölf Sex-Apostel außerstande, ein braves Keuschheits-Brevier zu verfassen. Vielmehr wollten sie dem sich emanzipierenden England zeigen, daß auch »die Kirche nicht aus geschlechtslosen Heiligen besteht, die nur über die Leidenschaften anderer richten«.

Zwar beharrt auch die Greet-Kommission darauf: Der Liebesakt ("der enge physische Kontakt zweier Geschöpfe an der unwahrscheinlichsten Stelle ihrer Anatomie") soll tunlichst in der Ehe vollzogen werden. Aber sie weigert sich ausdrücklich, vor- und außereheliche Intim-Kontakte schlicht zu verdammen.

Als Pastor Greet vorletzte Woche seine Denkschrift dem »Britischen Rat der Kirchen« erläuterte, verharrte die Gemeinde der Oberhirten in betretenem Schweigen. Sie lehnte es zwar ab, die Schrift zurückzuziehen, aber: »Ein schlechter Dienst am Familienleben«, erzürnte sich der anglikanische Erzbischof von York.

Der Reverend Shillinglaw aus Schottland verwies auf die verheerenden Folgen, die der Schock-Report in seiner Gemeinde auslösen könnte. Zwar, so räumte der Schotte ein, trieben es die Bauernburschen seines Sprengels auch jetzt schon mit den Mädchen, aber: »Sie schämen sich danach wenigstens.«

Englischer Sex-Theologe Greet

»Wann hast du es ...

... zum erstenmal geten?« Sex-Dialog im englischen Fernsehen

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