»Wenn der erste auf Demonstranten schießt...«
Verbale Übertreibungen«, versicherte Franz Josef Strauß den Delegierten des jüngsten CSU-Parteitages in Nürnberg, seien ihm heutzutage »völlig fremd«. Schließlich sei er »im achten Jahrzehnt meines Lebens angekommen«.
Dann legte der einstige Geschichtslehrer los. Nachdem in zwei Weltkriegen »Hekatomben von Blut und Tränen« geflossen seien, drohe den Deutschen in diesem Jahrhundert »zum dritten Mal« eine »Katastrophe«. Den Feind ortet der einstige Verteidigungsminister im eigenen Lande: »Wandernde Bürgerkriegsarmeen«, die »von Jahr zu Jahr größer werden« versuchten mit »Bürgerkriegstaktik« in Deutschland »bürgerkriegsähnliche Unruhen zu schaffen«.
Bürgerkrieg - das düstere Stichwort fällt, ziemlich genau fünfzig Jahre nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, wann immer sich derzeit Regierungpolitiker in Bayern oder in Bonn mit den jüngsten Anti-Atom-Demonstrationen befassen.
In Brokdorf und in Wackersdorf sei, so Strauß, »eine neue Dimension des Aufruhrs« zutage getreten: eine bislang ungeahnte Militanz von »anarchistischen Gewaltverbrechern«, die Polizisten mit Steinen, Stahlkugeln und Molotow-Cocktails bombardierten. Die Sozialdemokraten wiederum unterstellen den Unionsparteien, diese Auseinandersetzungen aus wahltaktischen Gründen noch anzuheizen: CDU und CSU, analysierte Herta Däubler-Gmelin jüngst im SPD-Parteivorstand, setzten, »um ihr Wahlziel erreichen zu können, auf einen inneren Bürgerkrieg«.
Bürgerkrieg - dieser Eindruck hat sich in den letzten Monaten auch Zehntausenden von Demonstranten aufgedrängt.
»Wie im Bürgerkrieg«, überschrieb die Öko-Organisation »Robin Wood« einen Wackersdorf-Bericht in der jüngsten Ausgabe ihres Mitgliedermagazins. Polizeitruppen mit Gasmasken oder Plastikvisieren: Reizstoff-Kanonaden aus monströsen Wasserwerfern; Hubschrauberangriffe im Tiefflug - »fassungslos«, protestierten 160 Hamburger Lehrer/innen in einem Zeitungsinserat, hätten sie in Brokdorf »beobachtet, wie die Polizei gegen flüchtende Demonstranten den Bürgerkrieg geprobt hat«.
Der militärischen Optik entspricht, auf beiden Seiten der umkämpften Bauzäune, militantes Vokabular. Seit hessische Umweltschützer 1981 ihrer Landesregierung einen »ökologischen Bürgerkrieg« (Startbahn-Gegner Alexander Schubart) gegen die Frankfurter Flughafen-Erweiterung angedroht haben, ist die Sprache eines Teiles der Öko-Bewegung immer martialischer geworden.
Im Kampf gegen die »mörderische Atomenergie« ist manchem Strategen von der »Stahlkugelfraktion«, wie die Militanten in der linken »Tageszeitung« ("taz") genannt werden, nahezu jedes Mittel recht. Ziel müsse sein, fordert der Demo-Redner und Bremer Kernphysiker Jens Scheer, »die Umgebung der Atomkraftwerke zum »Feindesland für Betreiber« zu machen.
In Landserjargon verfallen auch die Anführer der Unionsparteien, die in den Atomgegnern eine Art Fünfte Kolonne der Roten Armee sehen. Kanzler Helmut Kohl, der letzte Woche demonstrativ Grenzschutz-Einheiten inspizierte, behauptet allen Ernstes, die Grünen forderten die Stillegung aller Kernkraftwerke nur, um die Bonner »Republik sturmreif zu machen«.
Auf diese Weise nämlich, ergänzt Franz Josef Strauß, wollten die Atomgegner das Land über kurz oder lang »in ein Chaos stürzen«. Dessen einziger Nutznießer aber sei die Sowjet-Union - die »dann in Europa die Macht übernehmen könnte«.
Kein Wunder: Zumindest aus Sicht der in Bonn so genannten Stahlhelmfraktion der Union, die in der Außenpolitik Front macht gegen die entspannungsbemühten »Genscheristen«, ist der Unterschied zwischen Polizei und Militär auf ein Minimum geschrumpft.
»Heute«, verkündete Strauß bereits in der »Welt am Sonntag«, »erfüllen Polizisten den gleichen Auftrag, den früher Soldaten erfüllt haben: Sie verteidigen unser Land.«
Und genauso wie seit Jahrzehnten auf Bedrohung von außen glauben diese Unionspolitiker auf den Feind im Inneren reagieren zu können - den Rechten gehe es, kommentiert der Hamburger SPD-Abgeordnete Freimut Duve, um »Aufrüstung, wie gegen die Russen«.
Am selben Tag, als Finanzminister Stoltenberg den Ressorts Einsparungen von einer Milliarde Mark abverlangte, bewilligte das Kabinett Kohl mal eben tausend neue Stellen für die Polizeisoldaten vom Grenzschutz, dazu drei Großhubschrauber zum Stückpreis von 20 Millionen Mark und 18 neue Wasserwerfer a 780000 Mark. Denn »wo bisher 20 Wasserwerfer standen«, glaubt Innenminister Zimmermanns Polizeiabteilungschef Manfred Schreiber, »braucht man vielleicht in Zukunft 40«.
Die unionsregierten Länder rüsten besonders kräftig nach. Für mehr als 20 Millionen Mark, beschloß das Münchner Kabinett, sollen im Freistaat Bayern Hunderte von Polizisten, Richtern, Staatsanwälten und Gefängniswärtern, speziell für den Raum Wackersdorf, eingestellt sowie Hubschrauber und »Spezialfahrzeuge« angeschafft werden, ferner Reizgas- und Gummigeschosse.
Bayerns Polizei, urteilte im Landtag der SPD-Abgeordnete Max von Heckel, werde derzeit »zu einer Bürgerkriegsarmee mit einer offensiven Einsatzkonzeption« umgerüstet. Weil sich die in allen anderen Bundesländern abgelehnte atomare Wiederaufbereitungsanlage (WAA) auch im Freistaat »nur schwer durchsetzen« lasse, kommentierte die »Süddeutsche Zeitung«, sei Bayern jetzt »ganz vorn« bei der »militärischen Ausrüstung« seiner Polizei.
Solche Aufrüstung, warnt der Sozialdemokrat Duve, könne nur fatale Folgen haben: »Je stärker polizeitechnisch reagiert wird, um so mehr Menschen empfinden die Front zwischen den Polizisten und den Bürgern als Kriegsfront.«
Daß irgendwo an dieser Front, vielleicht in Brokdorf oder in Wackersdorf, auch Schüsse fallen werden, ist für die Bürgerkriegsstrategen von der Stahlhelmfraktion wie von der Stahlkugelfraktion nur mehr eine Frage der Zeit. In verblüffender Einhelligkeit gehen beide Seiten davon aus, »daß in naher Zukunft scharf geschossen« werde, so der kommunistische »Arbeiterkampf«.
Bayerns christsozialer Innenminister Karl Hillermeier, den Demonstranten als »Killermeier« verunglimpfen, hat bereits Pfingsten erklärt, seine Beamten hätten in Wackersdorf aus Notwehr zur Schußwaffe greifen dürfen; ähnlich äußerten sich Einsatzleiter in Schleswig-Holstein. Und kaum eine Woche vergeht, in der nicht neue Politikerworte zur innenpolitischen Lage die Grenzen zwischen Krawall und Krieg verwischen, die Hemmschwellen weiter sinken lassen.
Da erklärt Finanzminister Gerhard Stoltenberg, die Grünen ähnelten der baskischen Bürgerkriegsorganisation Eta mit ihrem legalen und ihrem militärischen Teil. Da behaupten Unionspolitiker, mit dem terroristischen Bombenattentat auf den Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts in Straßlach sei die »Saat von Brokdorf und Wackersdorf« aufgegangen, so der Bonner Innenministeriale Schreiber. Und da klingt dann die Forderung
des freidemokratischen Staatsministers Jürgen Möllemann ganz logisch, auch die in Mogadischu bewährte Anti-Terror-Truppe GSG 9 öfter mal an die heimische Demo-Front zu werfen.
Alles nur Gerede von professionellen Angstmachern, die sich verängstigten Wählern als Garanten von Recht und Ordnung empfehlen? Zweckpessimismus rechter Politiker, denen schon immer jeder Vorwand willkommen war, um die Polizei aufzurüsten und Bürgerrechte abzubauen?
Oder weisen die düsteren Politiker-Worte auf eine in der Tat veränderte Lage hin? Ist gar die Verfassung in Gefahr, weil Demonstranten immer häufiger das staatliche Gewaltmonopol durchbrechen und Regierungen nötigen, demokratisch zustande gekommene Entscheidungen zu stornieren?
Oder trifft vielmehr die These zu, daß unbelehrbare Regierende die Polizei mißbrauchen, um eine lebensgefährliche Energiepolitik durchzuknüppeln, die mittlerweile von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird?
Unumstritten ist, daß die Polizei sich noch nie so vielen gewalttätigen Demonstranten gegenüber gesehen hat wie im Jahr 1 nach Tschernobyl. Die Zahl der Militanten ist, so Innenminister Zimmermann, während der letzten Monate von 500 auf 3000 emporgeschnellt. Und nie zuvor haben Demonstranten, wie Polizeichefs von Bund und Ländern Ende Juni bei einem Erfahrungsaustausch in Münster resümierten, eine so »extreme Gewaltbereitschaft« gezeigt.
Wahr ist aber auch: Die Polizei selber hat in den letzten Wochen teilweise mit »nie dagewesener Härte«, wie die Hamburger »Zeit« urteilt, auf friedliche wie auf gewalttätige Atomgegner reagiert - mit Demonstrationsverboten und Straßensperren, mit Gasangriffen und Massenfestnahmen.
Auf beiden Seiten der umkämpften Bauzäune stehen sich teils hochgradig emotionalisierte Menschen mit Waffen gegenüber, die tödlich wirken können. Zur Standardausrüstung der Militanten zählt die modernste Version jener Schleuder, mit der David einst Goliat niederstreckte (siehe Kasten Seite 28). Die Polizei operiert vorzugsweise mit Wasserkanonen, deren harter Hochdruckstrahl Knochen brechen und deren Reizstoff-Beimischung Asthmatiker und Allergiker unter Umständen das Leben kosten kann (siehe Kasten Seite 30).
Schon jetzt müssen Veranstalter von Großdemonstrationen bisweilen vierstellige Verletztenzahlen melden; Tausenden von Menschen, heißt es, habe die Polizei allein zu Pfingsten in Wackersdorf die Augen verätzt oder Rippen zerschlagen.
Nur einem »reinen Zufall«, meint Ministerpräsident Strauß, sei es zu verdanken, »daß ein bayrischer Polizeibeamter und einer in Brokdorf nicht tot sind« - Strauß-Diagnose: »Hirnschale durchschlagen, Beckenbruch, Kieferbruch, Nasenbruch, Schädelbruch.«
Die Stahlkugeln und Stahlmuttern, Hufnägel und Eisenkrampen, die solche Wunden schlagen, sind nicht nur gefährlicher, sondern haben auch eine andere politische Qualität als Erdklumpen und Pflastersteine, die Apo-Demonstranten in den sechziger Jahren nach polizeilichen _(Am Dienstag letzter Woche in Gifhorn. )
Knüppelorgien in ohnmächtiger Wut aus dem Boden buddelten.
Die Zwillen-Einsätze werden mit Umsicht geplant; sie sollen verletzen, und zwar möglichst schwer - obgleich, absurder geht''s kaum, die eingesetzten Beamten den Bau neuer Kernkraftwerke durchweg ebenso ablehnen wie mittlerweile 81 Prozent der Bundesbürger (siehe Schaubild Seite 34).
Die Präzisionsschleudern zählen, ebenso wie benzingefüllte Brandflaschen und messerscharfe Wurfeisen, zum Arsenal der sogenannten Autonomen, dem mittlerweile auf mehrere Tausendschaften angeschwollenen militanten Kern der westdeutschen Protestszene.
Mal preschen die dunklen Gestalten, vermummt mit schwarzen Tüchern und Motorradmasken, wie Stoßtrupps einer Untergrundarmee aus dem Unterholz in Wackersdorf hervor. Mal brechen sie,
wie in Brokdorf, aus dem Heer der Demonstranten aus, um die Reihen der Polizei mit allem anzugreifen, was gerade zur Hand ist: Baumstücke, Backsteine, Brandbomben.
Wer sich hinter den Gesichtsmasken verbirgt, wissen Polizeiführer und Verfassungsschützer ziemlich genau zu sagen. Zu den Autonomen zählen anpolitisierte Gymnasiasten ebenso wie Linksversprengte, die als »Streetfighter« dem verhaßten »Schweinesystem« einheizen wollen, angegraute 68er wie frustrierte Friedensfreunde, jugendliche Alkoholiker und arbeitslose Drop-outs.
Dazu gesellen sich von Fall zu Fall Rocker und Punks, die einfach »die Bullizei vorführen« wollen. Alles in allem können die Autonomen laut Verfassungsschutz zur Zeit rund 9000 Mann mobilisieren, Tendenz steigend.
Hessische Staatsschützer definieren die brisante Mixtur als Ansammlung von »chancenlosen Arbeitslosen oder in anderer Weise Entwurzelten mit anhaltender Perspektivlosigkeit«. Zwar gebe es, weiß ein bayrischer Polizeiführer, »welche mit bürgerlichem Anstrich - Feierabend- und Wochenend-Autonome«. Doch die meisten, meint ein hessischer Experte, »haben nichts und wissen, daß sie nie etwas haben werden«.
Da stärkt es das Selbstwertgefühl, wenigstens zu jener Avantgarde zu gehören, die, im Interesse künftiger Generationen, zu verhindern sucht, daß in den Atomkraftwerken entfacht wird, was selbst Sozialdemokraten wie dem NRW-Fraktionschef Friedhelm Farthmann mittlerweile als »Höllenfeuer« erscheint. Die »Gewaltbereitschaft« vieler idealistisch gestimmter Atomgegner sei »mit der Enttäuschung über die Institutionen« gewachsen, melden Verfassungsschützer. Bei manchem Autonomen komme, meint der Münchner Polizeipsychologe und Wackersdorf-Beobachter Hans-Jörg Trumm, allerdings noch ein unpolitisches Motiv hinzu: Lust an »ritualisierten Kampfspielen mit Befriedigungswert«.
Einig sind sich die Militanten, trotz ihrer vielfältigen Fraktionierung, in einem: der Ablehnung von »Friedenswichsern« und »Theoriescheißern«, der Verachtung für »Graswurzelheinis«, die sich bei Sitzblockaden wegtragen lassen und für »Grünliberalbürgerlichbetroffenheitslatschdemos« wie es in einem Autonomen-Flugblatt heißt.
Nach Tschernobyl ist die Gewaltbereitschaft geradezu explodiert. Nun kursieren in der Szene Flugblätter mit der Forderung, daß die Auseinandersetzung »an Härte beträchtlich zunehmen« müsse. Bei einem Autonomen-Treffen letzten Monat in Frankfurt wurde, so ein Teilnehmer zum SPIEGEL, ein »heißer Herbst« an den Bauzäunen, aber auch allerorten in der Provinz vorbereitet. Geplantes Motto: »Es gibt kein ruhiges Hinterland.«
Obwohl sich die sogenannten Chaoten (Losung: »Wir sind alle Generäle") viel darauf zugute halten, ohne militärische Hierarchie auszukommen, registrieren Polizei und Verfassungsschutz, daß die Anarchos ihr Vorgehen neuerdings straff organisieren.
Beim Anmarsch auf Wackersdorf und Brokdorf wurden, wie bei der Bundeswehr, Kradmelder eingesetzt. Sie sollten als Vorhut Polizeisperren auskundschaften und den nachrückenden Truppen melden, wo am wenigsten kontrolliert wurde.
Zum Ausrüstungsstandard zählen mittlerweile Funkgeräte, mit denen Angriffswellen und Zielabsprachen koordiniert werden.
Vor Brokdorf hörte die Polizei ein illegales »Radio Zebra« ab, in Wackersdorf meldete sich die Autonomen-Zentrale mit »Becker«. Für den Rückzug in den Wald einigten sich kleine Grüppchen zuvor auf Kode-Wörter wie »Aldi«, »Einstein« oder »Mars«. Die riefen sich die Vermummten zu, um beieinander zu bleiben, weil sie einander unter ihren »Haßmasken«- (Szenen-Jargon) oft nicht erkennen.
Manche Autonomen-Aktion wirkt mittlerweile wie einexerziert. In Brokdorf marschierten die kräftigsten Kämpfer vornweg, in der zweiten Linie stießen Leute mit langen Stangen nach, die wiederum von Schützen mit Präzisionsschleudern flankiert wurden.
Statt Turnschuhen tragen viele Autonome nun genagelte Bundeswehrstiefel, dazu Schienbeinschützer sowie Arm- und Schulterpolster und Motorradhandschuhe. In den Reizgas-Schwaden von Wackersdorf machte die Polizei erstmals
Militante mit ABC-Maske aus. Und wie die Polizei haben auch die Atomgegner aufgerüstet. Wurfbeutel sind, statt wie früher mit Sand und Farbe, nun bisweilen mit ätzendem Auto-Unterbodenschutz gefüllt. Molotow-Cocktails werden mit einer Seifenlauge versetzt die auf der Haut laut Polizei »wie Napalm wirkt« . Um Polizeikessel zu knacken, legen Autonome neuerdings Benzinspuren, die, mit Leuchtmunition in Brand geschossen, eine Schneise in den Beamten-Ring brennen und den Durchbruch ermöglichen sollen.
Die Polizei reagiert auf die Vermummten zunehmend verwirrt. Früher waren die Einsatzleitungen, wann immer die Autonomen als »Schwarzer Block« bei einer Demo auftauchten, mit den klar abgrenzbaren Kolonnen der Militanten vergleichsweise leicht fertiggeworden - die Autonomen stellten eine isolierte Minderheit am Rande der durchweg friedlichen Aufmärsche.
Das hat sich seit Tschernobyl gründlich geändert. »Demonstranten, die selbst nicht gewalttätig sind«, beschreibt Hamburgs Polizeisenator Rolf Lange die neue Lage, »solidarisieren sich in verstärktem Maße mit den Gewalttätern, schirmen sie ab und spenden ihnen Applaus.«
Daß, wie es in Polizeiberichten heißt, aus dem »Umfeld der Militanten« weithin ein »militantes Umfeld« geworden ist, hat vielerlei Ursachen. Ganz vorn rangiert der Umstand, daß nach dem GAU in der Ukraine der Anti-Kernkraft-Slogan »Atomenergie ist Mordenergie« auf einmal Millionen Bürgern einleuchtet.
Tschernobyl habe bewiesen, sagt ein oberfränkischer Arzt und WAA-Gegner, daß »jeder Chaot« die atomaren Gefahren »weitaus realistischer eingeschätzt habe als die bayrische Staatsregierung. Selbst Gewalt gegen Menschen scheint da plötzlich vielen angemessen, zumindest aber verständlich - eines der verblüffendsten massenpsychologischen Phänomene der bundesdeutschen Geschichte.
Fassungslos beobachten Polizeibeamte, wie sich im Kampf gegen die Kernkraft eine »Koalition von Grauhaarigen und Langhaarigen« bildet, wie sie zuvor allenfalls mal gelegentlich zustande gekommen war, etwa an der Frankfurter Startbahn West.
Rund um Wackersdorf solidarisieren sich seit Wochen schon Einheimische, empört über die WAA-Politik der bayrischen Staatsregierung und über die starke Polizeipräsenz vor Ort, mit zugereisten Militanten. In der Oberpfalz hätten sich, staunt die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die Chaoten die »Bewunderung, ja Sympathie von »Tausenden von braven, biederen Bürgern erkämpft.
Die Wackersdorfer unterstützen die Militanten mit Handreichungen aus den hinteren Reihen: Bauern leihen den Autonomen ihre Taschenmesser, Mistgabeln oder Spitzhacken zum Steineausbuddeln. Und Frauen wie Kinder füllen leere Cola-Dosen mit Sand oder sammeln im Wald Wurfmaterial, das sie plastiktütenweise an die Vermummten weiterreichen - vorn, am Bauzaun liegen seit Monaten keine Steine mehr.
Joachim Schweinoch, Leiter der Polizeiabteilung im bayrischen Innenministerium, hat »mit eigenen Augen alte Mütterchen gesehen, die mit Steinen geschmissen haben«. Typisch auch, was Münchner Verfassungsschützer notierten: _____« Teilweise konnten ältere Personen beim Zersägen des » _____« Zaunes beobachtet werden und ein älteres Ehepaar nahm als » _____« Trophäe ein Stück Zaun auf den Schultern nach Hause. Die » _____« gesamten Bürger, bzw. der größte Teil davon, unterstützen » _____« die Auto nomen sowohl bei ihren Aktionen als auch bei der » _____« Unterbringung und Verpflegung. »
Gewalt, kein Zweifel, geht in der Oberpfalz vom Volke aus. Die Autonomen wissen diese Schützenhilfe zu schätzen. »Die Härte der Pfingstauseinandersetzung in Wackersdorf, berichtet ein Kölner Anarcho, »wäre mit Schwarzjacken allein niemals möglich gewesen.«
Zwar riefen Anfang diesen Monats erneut prominente Atomgegner wie Heinrich Albertz, Robert Jungk und Petra Kelly die Demonstrierenden zur Gewaltlosigkeit auf, weil die Steinewerfer »gewollt oder ungewollt die Geschäfte unserer politischen Gegner besorgen«. Doch kaum irgendwo wiederholt sich noch, was 1983 den Charakter der großen
Friedensdemonstrationen und der Menschenketten gegen die Nachrüstung prägte: daß Friedfertige im Chor »Aufhören, aufhören« rufen, wenn Vermummte zu Steinen greifen.
Und selten nur finden sich noch Gutwillige, die sich, Gandhi im Sinn, die Hände reichen und eine Kette bilden zwischen den Wasserkanonieren und den Stahlkugelschützen: Wer sich zwischen die Fronten stellt, wird von beiden Seiten als Gegner betrachtet - und nicht selten auch so behandelt. »Für nichtmilitante Aktionen«, konstatiert das Pazifisten-Blättchen »Graswurzelrevolution« in seiner Juni-Ausgabe, sei auf Anti-AKW-Demonstrationen »kein Spielraum mehr«. Konsequenz: »Entweder Kampf am Bauzaun oder Wegbleiben.«
Mögen viele auch fernbleiben - jeder als brutal empfundene Polizeieinsatz treibt den Autonomen neue Sympathisanten zu. Nach den Juni-Schlachten in Norddeutschland, berichtet der Hamburger Pastor Christian Arndt, hätten zunächst friedfertige Demonstranten jäh eine »klammheimliche Freude an den Autonomen-Aktionen« entdeckt.
Nun erklärt selbst ein Verein namens »Christinnen und Christen aus Nordelbien, er wolle sich »nicht von solchen Menschen und Gruppen distanzieren, die andere Formen des Widerstands als wir selber anwenden«. Auch die Landesversammlung von 25 bayrischen Anti-WAA-Bürgerinitiativen sah keinerlei Grund mehr, die Autonomen-Gewalt zu verurteilen. Im Gegenteil: Um gegen eine Spaltung in »brave Oberpfälzer« und »Chaoten« zu protestieren, riefen die Bürgerinitiativler letzten Monat die Einheimischen auf, am Bauplatz »alle vermummt« zu erscheinen.
Auch die Grünen lassen - trotz ihres Mottos »ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei« - eine gewisse Sympathie für die neue Militanz erkennen. Zwar verlangt Lukas Beckmann, Sprecher der Bundes-Grünen, mit Blick auf bevorstehende Wahlen »eine klare und öffentliche Distanzierung« von den Autonomen. Doch große Teile der alternativen Basis sehen das anders. Die Grün-Alternative Liste Hamburg (GAL) zum Beispiel billigte noch Anfang Juni in einem Aufruf zur Brokdorf-Demonstration ausdrücklich »alle Formen des Widerstandes«.
Die Stimmungslage in der »Kulisse« (Polizei-Terminus) führt dazu, daß die Einsatzkräfte gegenüber Steinewerfern und Zwillenschützen oft nahezu machtlos sind. »Blitzschnell« berichtet ein Polizeioffizier aus Wackersdorf, »tauchen die aus der Menge auf, feuern - und verschwinden im Meer der Demonstranten, wie »Fische im Wasser«.
Die Gewalttäter zu identifizieren, zu fassen und zu überführen, das scheint vielen Polizeistrategen ein Ding der Unmöglichkeit. »Einzelne Greiftrupps in die Menge zu schicken«, sagt ein Hundertschaftsführer, »wäre reiner Selbstmord.« Da müßte die Polizei schon, schätzt Innenminister Zimmermanns Berater Schreiber, »zwei- bis dreimal mehr Beamte einsetzen, als es Demonstranten gibt«. In Brokdorf standen 40000 Demonstranten 5000 Polizisten gegenüber.
Oft sind die Krawallanten den Beamten auch noch körperlich überlegen. Viele Bereitschaftspolizisten, zumeist knapp über 20 Jahre alt, tun sich schwer, einen gut ausgerüsteten Brutalo festzunehmen. »Unsere Beamten«, sagt der Polizeirat Dieter Hempel von der schleswig-holsteinischen Bereitschaftspolizei, »sind dazu nicht schnell genug - und auch nicht besonders geschult.«
Wird doch mal ein Gewalttäter geschnappt, haben die Strafverfolger häufig Probleme, ihn zum Beispiel als Steinewerfer zu überführen. Denn nicht selten reißen »hundert Personen«, so Zimmermanns Demonstrationsfachmann Schreiber, gleichzeitig »auf ein Kommando die Hände hoch«, wenn ein einziger einen Stein auf die Polizisten schleudert. Schreiber: »Wie will der Beamte, mit oder ohne Photo, die zur Stein-Hand gehörige Person identifizieren?«
Zu den Ohnmachtsgefühlen vor Ort gesellt sich bei vielen Beamten wachsende Verärgerung über die ewigen Demo-Einsätze. »Da kommen manche kaum mehr aus den Stiefeln raus«, sagt der bayrische Polizeigewerkschafter Gerhard Vogler, »da verdient einer netto 1600 bis 1700 Mark und hat kein freies Wochenende mehr.« Statt bei Frau oder Freundin müßten viele »in großen Sälen
übernachten, in denen Tag und Nacht das Licht brennt«. Die Stimmung, meint der Polizeigewerkschafter Dieter Brücklmayer, sei »auf dem Tiefpunkt«.
Rund zehn Millionen Stunden Freizeit, schätzen Experten, haben die Uniformierten mittlerweile bei ihren Dienstherren gut - so viele Überstunden haben sich aufgestaut. Da wirkt der Versuch der Bundesregierung, den Beamten mit einer Demo-Zulage (1,50 Mark pro Stunde) den Frust abzukaufen, wie Öl im Feuer. »Knüppelgeld« nennt die Polizeigewerkschaft die milde Gabe, und der Bremer GdP-Mann Hans Schulz fürchtet schon den Spott der Bürger: »Die sagen doch jetzt, wir werden fürs Zuschlagen belohnt.«
Hinzu kommt Ärger über organisatorische Pannen. Mal bleibt 24 Stunden lang der Verpflegungsnachschub aus, mal stimmen die Einsatzpläne nicht. »So wurden zum Beispiel«, kritisiert der Personalrat der Frankfurter Polizei, »fünf Kollegen der Inspektion West hintereinander an drei Tagen und Nächten eingesetzt.« Einsatzfahrzeuge seien zeitweise »nicht mit Schilden und Schlagstöcken ausgerüstet » gewesen: »Angeblich konnten die Schlüssel für den Schilde-Schrank nicht gefunden werden.«
Wenn die Beamten dann auch noch bespuckt oder von Sprechchören beschimpft werden, als »SEK, SS, SA«, als »Faschisten« und als »Mörder, Mörder, Mörder«, stauen sich Aggressionen an. »Die Beamten«, sagt der Berliner Psychologe und SPD-Polizeiexperte Helmut Hildebrand, »glauben sich oft nicht mehr dem Störer gegenüber, sondern dem Feind.« Solchen Einschätzungen entsprechen Äußerungen von Beamten, die sich, wie der bayrische Oberwachtmeister Jörg Eberwein, in die Lage versetzt sehen, »gegen potentielle Mörder und Terroristen in Wackersdorf Krieg zu führen«.
Feindseligkeit bekamen zum Beispiel jene Demonstranten zu spüren, die Anfang Juni in Hamburg eingekesselt waren. Polizeibeamte, vom zwölfstündigen Stehen selber entnervt, riefen einer Kirchenvorsteherin zu: »Man sollte euch über der DDR aus einem Hubschrauber werfen.« Ein anderer Uniformierter riet, sie »durchs Minenfeld zu jagen«.
Im Kessel eingeschlossene Demonstranten, die stundenlang nichts gegessen hatten und »Hunger, Hunger« schrien, mußten mitansehen, wie ein Polizist sein Brot herausholte und demonstrativ futterte: »Einmal abbeißen fünf Mark.« Ein Sanitäter berichtet, daß ihm bei der Durchsuchung mit Absicht die Hoden gequetscht worden seien. Kommentar der Beamten: »Bist doch Sani, kannst dir doch selber helfen.«
Später, auf den Polizeiwachen, mußten sich Frauen, zuvor schon gründlichst leibesvisitiert, bis auf den Slip entkleiden. Auf Bänke durften sich die Festgenommenen nicht setzen, weil dies, so die groteske Begründung der Bewacher, eine »Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung« darstelle.« Und wer darum bat, die Toilette aufsuchen zu dürfen, bekam zu hören: »Scheiß und piß doch in die Zelle, das kannst du aber nachher wieder auflecken.«
Die Aggressionen, die sich in solchen Zoten und Zynismen entluden, verwandeln sich unter dem Eindruck psychischer Bedrohung häufig in rüde Gewalt, auch bei jungen Beamten. »Viele haben«, sagt Berlins Polizeipräsident Klaus Hübner, »beim ersten Einsatz Todesangst und knüppeln sie sich weg.«
Aufgeheizt wird die Stimmung noch, wenn Beamte beobachten, wie Kollegen von Gewalttätern traktiert werden. Der Bremer Polizeiarzt Karl Heinz Männche etwa mußte einen Grenzschutzbeamten versorgen, der auf einem Autobahn-Parkplatz von einem Trupp wütender Vermummter überfallen und mit Tränengas mißhandelt worden war: »Vierundzwanzig Stunden lag der bei uns auf der Station, der hat so gezittert, daß das Bett gewackelt hat.«
Wenn Polizisten dann auch noch selber das Gefühl haben, es gehe »um Leben und Tod« - »was bleibt ihnen dann«, fragt der Bremer Polizeioffizier Günther Herrmann, »anderes übrig, als zurückzuschlagen?«
Herrmann hat im vergangenen Monat einen der meistumstrittenen Demo-Einsätze der letzten Zeit geleitet. In Kleve bei Brokdorf mußten 50 Beamte seines Bremer Sondereinsatzkommandos (SEK) rund 150 Schutzpolizisten raushauen, die sich mit knapp 200 mutmaßlichen Chaoten einen blutigen Kampf lieferten. »Da hatten wir«, berichtet ein SEK-Mann, »keine Chance, auch nur geordnet Aufstellung zu beziehen.«
»Das war wie bei einem altertümlichen Schlachtgemälde«, ergänzt ein Kollege: »Die Chaoten hatten sich gestaffelt aufgeballt - die erste Reihe prügelte, die zweite Reihe schoß mit Zwillen, und eine dritte Gruppe saß auf Mauern und
Transformatorerhäuschen und schmiß kokosnußgroße Brocken auf uns herunter.
Schließlich mußte die Polizei in Kleve sieben Hundertschaften einsetzen. Augenzeugen schildern, wie Beamte sich da benahmen: »Die Pkw-Insassen wurden aus den Autos gezerrt und sofort zusammengeschlagen. Anschließend fing die Polizei an, die Wagen zu demolieren: Reifen wurden zerstochen, Heckscheiben eingeschlagen, Spiegel abgeknickt, Steuer verbogen, Thermosflaschen zertrampelt, Nudelsalat zerstreut. Am Ende standen 68 Wagen manövrierunfähig auf der Straße.«
Hamburger Demo-Sanitäter berichten, Polizeiopfer hätten noch Tage danach unter Schlafstörungen gelitten: einige zitterten, wann immer sie ein Martinshorn hörten. Insgesamt seien die körperlichen Auswirkungen der »hilflosen, entwürdigenden Situationen«, in denen diese Menschen der Staatsgewalt ausgeliefert waren, vergleichbar »mit den Langzeitfolgen von Vergewaltigung, Verfolgung, Haft und Folter«.
Mit Überreaktionen wie in Kleve, durch blindes Draufhauen, hat die Polizei auch anderswo dazu beigetragen, jene Gewalt zu säen, die sie verhindern soll - wie schon einmal, 1968.
Damals sprengten vom massiven Studenten-Protest überraschte Polizeieinheiten blindlings mit Pferden in Demonstrantengruppen. Und in Berlin erfand der Polizeipräsident Erich Duensing die berüchtigte »Leberwursttaktik": einen Demonstrationszug an beiden Enden absperren, dann mit Knüppelgarden hineinstechen.
Zwar hatte die Polizei in den darauffolgenden Jahren eine Menge dazugelernt. Bei den Friedensdemonstrationen im Raketen-Herbst 1983 etwa fragten sich Demonstranten, verblüfft über die vielerorts unerwartet sanft auftretenden Beamten, erstaunt: »Was ist nur mit den Bullen los? Doch durch militante Demo-Trupps, fürchteten Fachleute wie der Münsteraner Polizeirechtler und Leitende Polizeidirektor Kurt Gintzel schon damals, könnte eines Tages die »hoffnungsvolle Entwicklung zum bürgernahen Polizisten unterbrochen und zurückgedreht werden.
In Wackersdorf und in Brokdorf war es letzten Monat so weit. Undifferenziert, wie einst Anno Leberwurst, ging die Polizei gegen friedliche wie gegen gewalttätige Demonstranten vor.
In Brokdorf wurde ohne Vorwarnung, so berichten übereinstimmend zahllose Betroffene, CS-Gas ("Kotzgas") in die Menge gefeuert. Hamburger und Frankfurter Richter, die als Demonstranten dabei waren, erstatteten Strafanzeige gegen die Einsatzleiter. Ein Hamburger Richter: »Ich sah die geschwollenen, aufgedunsenen Gesichter der Leute, völlig benommen und hilflos von dem Gas.«
Ähnlich ging die Polizei mit Demonstranten am Bauzaun in Wackersdorf um, wo Reizgas vom Hubschrauber aus in eine bunt gemischte Menge geworfen wurde - eines von vielen Beispielen für »Sippenhaft mit CS-Gas«, wie die »Frankfurter Rundschau« schrieb.
Erreicht wird durch solche Einsätze regelmäßig eine weitere Eskalation: »Wenn der Wind das Gas in die friedfertige Menge weht, beobachtete der Wasserwerfer-Mann Jörg Voß in Brokdorf, »greifen schon mal vor Wut friedliche Leute zum Stein und schmeißen« - wie so oft, wenn, wie es der Ex-Verfassungsrichter Martin Hirsch ausdrückt, »blödsinnige Gewalt durch blödsinnige Gegengewalt« beantwortet wird.
Gleichwohl analysieren viele Polizeipolitiker und Polizeistrategen noch immer nicht die Wurzeln des Übels, die Ursachen der Gewalt. Lieber machen sie sich auf die Suche nach neuen Instrumenten, mit denen sie an den Symptomen herumkurieren können: nach neuen Polizeiwaffen.
Mit ihrem Gummiknüppel, laut »Taschenbuch der Polizeitechnik« das »einfachste und wohl älteste Hilfsmittel der körperlichen Gewalt«, ist die Polizei schon seit langem nicht mehr zufrieden: Wer ihn anwendet, begibt sich selber in Gefahr. Außerdem, argumentieren Praktiker, führten Knüppeleinsätze nun mal zu Beulen und Platzwunden und vermittelten in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild von den Beamten.
Der Polizeiknüppel ist allerdings auch längst nicht mehr der alte. Bei Demo-Einsätzen ist inzwischen der »Lange«
(75 Zentimeter) aus leicht splitterndem Eschenholz erprobt worden. Das neueste Modell ist ein gleichlanger »Abdrängstock aus »Hartgummi mit Kunststoffseele«.
Seit Jahren versuchen Polizeitechniker, den Schlagstock mit diversen technischen Raffinessen auszustatten. In der Erprobung waren schon Stöcke mit eingebauter Reizgasspritze und »breitem« oder »konzentriertem Sprühstrahl«. Einem Polizeigutachten zufolge bestehen »keine Bedenken aus medizinischer Sicht« gegen einen »Elektrostock«, der bei Körperkontakt »eine Nervenreizung auf der Haut bewirkt«.
Zum Einsatz kamen die beiden Neuentwicklungen bislang nicht. Denn beim Reizgasstock zeigte sich, daß die abgefeuerten Schwaden die Beamten selbst einnebelten, wenn der Wind ungünstig stand. Und gegen den Elektrostock, s o die Erfahrungen von Technikern der Polizeiakademie Hiltrup, gebe es »vielfache Abwehrmöglichkeiten«, etwa durch Gummihandschuhe oder Lederbekleidung.
Im übrigen, argumentieren Polizeiexperten, spreche gegen Schlagwerkzeuge generell der Umstand, daß sie ungeeignet seien, jene Distanz zu überbrücken, die militante Demonstranten mit Steinen und Zwillen spielend überwinden. Lutz-Werner Kahn, niedersächsischer Landesvorsitzender der Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund (PDB), kann da »nur verzweifeln: »Ein Meter Arm und 60 Zentimeter Stock, das reicht nicht aus.«
Um Menschenansammlungen anders als mit dem Knüppel bekämpfen zu können, wurde in Berlin ein Gleitmittel (Marke »Instant Banana Peel") ausprobiert. In Verbindung mit Wasser »als schlüpfrige Masse« aufgebracht, soll es »zur Blockierung von Straßen und Geländen unter Einsatz geringster Polizeikräfte beitragen«. Doch die »Bananenschale« mußte aus dem Arsenal gestrichen werden, weil das Frankfurter Batelle-Institut »irreversible Schäden durch Stürze« nicht ausschloß und, vor allem, »die Polizeibeweglichkeit« beeinträchtigt sah.
Erfolgversprechend endeten dagegen diverse Forschungsvorhaben, mit denen ermittelt werden sollte, wie Demonstranten durch Angriffe auf ihre Sinnesorgane lahmgelegt werden können. Erprobt und entwickelt wurde ein Arsenal von Zukunftswaffen, das kaum minder gespenstisch anmutet als die Atomenergie, zu deren Schutz es gedacht ist.
Münchner Polizeiführer ließen, wie aus einer Studie der Hiltruper Forschungsstelle hervorgeht, Versuche mit Schallgeneratoren »zur Beeinflussung von Störern« anstellen. Durch die Bündelung mehrerer Lautsprecher bei gleichzeitiger Verstärkung wurde »ein so starker Schall erzeugt, daß er für die Umstehenden unerträglich war und sie den Platz räumen mußten«.
Die Polizeiwaffen-Forscher in Hiltrup erwogen auch schon den Einsatz von Infraschall, der »das Wohlbefinden des Menschen durch Gleichgewichtsstörungen, Kopfschmerzen und Kreislaufstörungen« beeinflussen kann. Die weitere Entwicklung des Schmerzschalls, urteilt das Batelle-Institut, sei »aussichtsreich«.
Auch mit »Lichtwerfergeräten« liebäugeln Polizeistrategen - auch wenn sie, laut Hiltruper Studie, »bei sensiblen Personen epileptische Anfälle hervorrufen« können. Batelle-Urteil: »Vielleicht aussichtsreich.«
Noch herrscht bei den Polizeibehörden der Länder Skepsis über die Verwendbarkeit bestimmter sinnesbetäubender Angriffsmittel vor. »Wir treffen doch nicht immer nur auf topgesunde Rocker«, warnt der hessische Innen-Ministeriale Wolf von Hoerschelmann, »da sind doch auch ältere Leute dabei, deren Kreislauf nicht in Ordnung ist.« Der Ministerialdirigent: »Die Polizei darf doch nicht zum Anästhesisten werden.«
Das aber ist sie bereits überall dort, wo sie konzentriert Chemiegifte einsetzt, sei es Tränengas ("CN") oder das noch gefährlichere »CS«.
CN (Chloracetophenon), dessen Einsatz als »Weißkreuz«-Gift im Land-, See- und Luftkrieg schon im Genfer Gaskriegsprotokoll vom 17. Juni 1925
international geächtet wurde, wird heute gleichwohl bei Polizeieinsätzen versprüht. Die Gesundheitsrisiken für die Opfer sind mannigfach: Je nach Dosis und Konstitution der Betroffenen erzeugt CN langwierige Lidkrämpfe, Hornhautdefekte, Hautallergien und Lungenödeme. In Extremfällen führte der Tränengaseinsatz auch schon zu Todesfällen.
CS (Chlorbenzylidenmalodinitril), berüchtigt als »Kotzgas«, wirkt noch schneller, stärker und heftiger als CN. Neben, Brechreiz, Husten, tränenden Augen, Nasenfluß sowie Haut- und Zungenbrennen führt das Reizgas beim Einatmen zur Verkrampfung der Lungenmuskulatur. Die Folge ist starke Atemnot, verbunden mit einem beklemmenden Angstgefühl wie bei einem akuten Asthma-Anfall. Bewirkt wird damit - und das ist der Hauptzweck von CS - die schockartige Handlungsunfähigkeit der Opfer.
Die Amerikaner bliesen das tückische Gemisch in Überdosen in unterirdische Gänge des Vietcong, die Briten setzten die »Chemische Keule« bei Dschungelkämpfen in Britisch-Guayana und bei Straßenschlachten in Belfast und London ein. In Westdeutschland haben nur unionsregierte Länder, voran Bayern und Schleswig-Holstein, den Kampfstoff in ihr Waffenarsenal aufgenommen; bei den Demonstrationen in Wackersdorf und Brokdorf wurde CS massenweise auf Demolanten wie auf Demonstranten abgeschossen.
Die SPD-regierten Länder haben bislang vor allem wegen der verheerenden Langzeitwirkung auf das »Bayerngas« (Polizei-Mund) verzichtet: Intensive CS-Schädigung, haben Wissenschaftler herausgefunden, könne Spätfolgen von chronischen Hautentzündungen bis hin zum Hautkrebs sowie Erblinden nach sich ziehen.
Ärzte haben festgestellt, daß bei Bronchitis- oder Asthmakranken schon geringe Expositionen »zu akuten Todesfällen« führen können. Erstes Opfer war womöglich der asthmakranke Ingenieur Alois Sonnleitner, 38, aus Gräfelfing bei München, der als Teilnehmer der Wackersdorf-Demonstration am Ostermontag einen Asthmaanfall erlitt und kurz darauf starb. Nur 500 Meter entfernt, wurde später ermittelt, waren Demonstranten von der Polizei mit CS bekämpft worden.
Wie übel der Reizstoff wirkt, der den Fontänen der Wasserwerfer beigemischt, in Granaten verschleudert und von Hubschraubern abgeworfen wird, zeigte letzten Monat auch eine Anhörung im bayrischen Landtag.
Nach Ansicht des Münchner Toxikologen Max Daunderer, der zu Ostern und
Pfingsten am Bauzaun war und 40 Demonstranten versorgte, führte der CS-Einsatz zu einer »Massenvergiftung durch Kampfgas«. Einer seiner Patienten konnte, wie Daunderer schilderte, nach einer »nicht mal vollen Ladung neun Tage später auf einmal seine Beine kaum bewegen.
»Die Beine«, berichtete der Mediziner, »waren plötzlich feuerrot, Blasen hatten sich gebildet, der rechte Fuß war dick geschwollen.« Daunderer diagnostizierte ein »toxisches allergisches Geschehen«. Und er geht davon aus, »daß der Mann in 15 bis 20 Jahren an den Beinen Hautkrebs hat«.
Dennoch setzen die Polizeiführungen von unionsregierten Ländern weiterhin auf den Gas-Einsatz. Durch Verwendung neuer, gefährlicherer Granaten-Typen soll der Effekt künftig sogar noch vervielfacht werden.
Bislang war es Demonstranten hin und wieder gelungen Reizgaskörper, die Polizisten über den Bauzaun geschleudert hatten, zurückzuwerfen. Denn der Styropormantel der üblichen Modelle wie des TW 70/2 wirkte sich »nachteilig aus«, wie Waffentechniker der Polizei feststellten: Der Gegner konnte sie nach der Zündung gefahrlos aufsammeln und retournieren.
Mittlerweile, jedoch haben sich die Polizeiausrüster technische Tricks einfallen lassen, die Demonstranten auch schon zu spüren bekommen haben: hüpfende, kreiselnde und nachzündende Tränengasgranaten, die sich erhitzen und kaum zu fassen sind.
In Brokdorf und in Wackersdorf wurden Demonstranten von Wurfgeschossen überrascht, die, wie ein Teilnehmer beobachtete, »nach der Landung zwischen den Menschen umhertorkelten«. Das waren sogenannte »Frogs«, wie die neuerdings zum Arsenal der Bereitschaftspolizei gehören. Mit der Pistole »MZP 1« abgeschossen, vollführen sie laut behördlicher Beschreibung »während des Schwelvorganges leicht springende, kreisförmige Bewegungen«.
In Brokdorf verschreckten die Hüpfgranaten vor allem friedliche Demonstranten, die, panisch und pitschnaß über nasse Wiesen und tiefe Gräben flüchteten. In Wackersdorf wurde einem jungen Mann die Hand zerfetzt, als er eine der neuartigen Gasgranaten zurückwerfen wollte.
Vor dem WAA-Bauzaun fanden Demonstranten, wie die bayrische Atomgegner-Zeitung »Radi Aktiv« meldete, auch ein merkwürdiges Geschoß mit der Aufschrift »Warning: May cause severe injury«. Der »Tanzende Derwisch«, so die deutsche Namensgebung für die US-Armeewaffe, ist ein mit CS-Gas gefüllter Metallkörper, der beim Aufprall in drei Einzelteile zerfällt. Fünf an den Böden angebrachte Düsen lassen die Subkörper unberechenbar umherkreiseln.
Zwar behauptete Innenminister Hillermeier, er wisse nichts von einer solchen Army-Ausleihe, auch nichts vom Abschuß einer Blendschockgranate, den Zeugen ebenfalls gesehen haben wollen. Doch abwegig ist der Verdacht keineswegs, daß die Polizei im unübersichtlichen Krawall-Getümmel schnell mal zu Kampfmitteln greift, die offiziell noch nicht freigegeben sind.
Die Frankfurter Polizeiführung beispielsweise mußte nach anfänglichem Dementi einräumen, daß Beamte eines Sondereinsatzkommandos im November 1981 an der Startbahn West mehrere »Blendschocker« gezündet hatten. Die Granaten ähnelten jenen »Light and Sound Grenades«, die eine britische Spezialtruppe 1977 in Mogadischu geworfen hatte, als Männer der GSG 9 die entführte Lufthansa-Maschine »Landshut« stürmten.
Vollends an Bürgerkriegswaffen erinnert eine weitere Gruppe von Einsatzmitteln: die sogenannten Wirkwurfkörper.
Die mannstoppende Munition muß aus Geräten abgeschossen werden, deren Rohr - 80 Zentimeter lang, 70 Millimeter Durchmesser, 3000 Gramm schwer - einer Panzerfaust ähnelt. Entwickelt wird diese, wie es heißt, »polizeitypische Waffe« derzeit für 2,2 Millionen Mark im Auftrag von Bund und Ländern vom Rüstungskonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB). Probleme bereiten allerdings noch Fluggeschwindigkeit und Zielgenauigkeit der Wirkkörper.
Als zu entwickelnde Munition, die Demonstranten stoppen und Polizisten schützen soll, hat die Innenministerkonferenz den bayrischen Waffenhauern drei Varianten aufgegeben.
Der erste Typ, die sogenannten Wuchtwirkkörper ("WK 1"), soll laut Forschungsauftrag »mit einer Masse von 200 Gramm bei »konstanter Geschwindigkeit
und damit gleichbleibender Wirkung sechzig Meter weit fliegen und unterwegs die Zielperson »wie beim Boxhieb« umwerfen »ohne Verletzungsrisiko«.
Versuche mit einem Eigenantrieb »ähnlich wie bei Cruise Missiles« (ein hessischer Polizeiführer) haben jedoch gezeigt, daß auf halbem Weg getroffene Personen durch das Antriebsaggregat Verbrennungen erleiden können. Wenn das Geschoß das angepeilte Ziel trifft, warnt der Bonner Diplom-Physiker Karl Sellier i n einem Gutachten, seien »Schädelbrüche, Bewußtlosigkeit oder Lungenblutungen« zu erwarten.
Gummigeschosse, beschreibt die Polizeigewerkschaft GdP das Problem, »müssen genau auf das Ziel projektiert sein. Kommen sie einen Meter zu früh an, landen sie, floppen ab, und alle Welt lacht. Kommen sie zu stark an, dann sind sie so gefährlich wie ein Projektil, das mit einem Bleimantel umgeben ist«.
Als zweite Version ist ein »Gummischrotwirkkörper« ("WK 2") vorgesehen, der zahlreiche Hartgummikugeln nach einer bestimmbaren Entfernung bis zu 60 Metern in »einem Streubereich von 6 m Breite und 2 m Höhe« versprengt. Die Gummikügelchen, so Selliers Bedenken, können »vor allem das Auge erheblich« schädigen.
Auch die dritte Spielart, der »Reizstoffwirkkörper« ("WK 3"), ist keinesfalls ausgereift: Ein in Schaumstoff gehülltes Aluminium-Rohr soll bis zu 160 Meter weit fliegen, in der Luft platzen und rund 16 mit Tränen- oder Kotzgas gefüllte »Subkörper« über der demonstrierenden Menge abwerfen.
Die negativen Testergenisse haben die generelle Skepsis vieler Experten gegenüber solcherart Einsatzmitteln noch verstärkt. Der Berliner Polizeipräsident Klaus Hübner (SPD) hält Distanzwaffen ganz allgemein für den »verheerendsten Irrweg« bei Demo-Einsätzen: »Wir wollen nicht Distanz schaffen, sondern überbrücken.« Wenn sich die Staatsgewalt den Bürger auf Distanz halte, sei das »der erste Schritt zum Bürgerkrieg.«
Auch nach Ansicht des Berliner Polizeipsychologen Helmut Hildebrandt laufen Distanzmittel dem Polizeiauftrag direkt zuwider: »Der Beamte muß grundsätzlich an den Delinquenten ran. Schließlich soll er ihn der Strafverfolgung zuführen.« Außerdem fördere die Distanzwaffe ein unreflektiertes Verhältnis zur Gewalt: »Da ist es wie beim Soldatsein. Der Soldat schießt aus weiten Entfernungen und zerstört den Feind mit der Artillerie.«
Ähnlich urteilt der Hamburger Senat, der sich an dem MBB-Projekt gar nicht erst beteiligt hat. Für Baden Württembergs Landespolizeipräsidenten Alfred Stümper ist es undenkbar, daß die Polizei gegen Demonstranten »mit einer Art Panzerfaust antritt«. Die Bonner SPD hält die Distanzwaffe gar für »verfassungswidrig«, so Adolf Emmerlich, der Rechtsexperte der Bundestagsfraktion.
Bayerns Innenminister Hillermeier sieht das alles anders. Das Kabinett Strauß, bekräftigte er letzten Monat, werde - Bayern vorn - neue Distanzwaffen »im Alleingang einführen«. Die »Süddeutsche Zeitung« fragte daraufhin, »ob sich der Innenminister, wenn diese Distanzwaffen auch nichts nützen, demnächst von den südafrikanischen Kollegen in den Einsatz von Vogelschrot gegen Demonstranten einweisen lassen wird«.
Ganz alleingelassen muß sich Hillermeier bei seinem Alleingang nicht fühlen. Auch der rechtslastige Deutsche Beamtenbund ruft nach Aufrüstung mit den umstrittenen Fernprellkörpern. In der Schweiz und in Japan, behauptet Beamtenbund-Funktionär Kahn, »hat man mit Wuchtgeschossen gute Erfahrungen gemacht«.
Sachkenner halten diese Einschätzung für geradezu abenteuerlich. Denn die Hartgummi- oder Plastikkörper, mit Handfeuerwaffen als Schrot oder in Kompaktform abgeschossen, haben im Ausland verheerende Wirkungen gezeigt. Während der Zürcher Jugendkrawalle, bei denen Anfang der achtziger Jahre mehr als 3000 Gummi-Schrot-Bündel abgeschossen wurden, verloren sieben Menschen auf einem Auge die Sehkraft. Im nordirischen Bürgerkrieg hat es bisher 16 Tote durch vergleichbare Distanzwaffen gegeben, darunter sieben Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren.
Auf die Gefährlichkeit der von der Regierung Strauß favorisierten Gummigeschosse hat auch die Hiltruper Forschungs- und Entwicklungsstelle für Polizeitechnik in einer internen Studie schon aufmerksam gemacht: Die Wirkung sei »schwer kalkulierbar«, besonders »verletzlich sind die Augen«. Auch die Bundesärztekammer sprach sich aus diesem Grund letzte Woche gegen die Verwendung von Gummigeschossen aus.
Hinzu kommt ein weiteres Manko: Die anfänglich hohe Aufprallgeschwindigkeit verringert sich schnell, so daß die Kugeln, wie ein Polizeitechniker aus dem hessischen Innenministerium vergleicht, »schon nach 35 Metern wie Maikäfer mit der Mütze« aufgefangen werden können. Daher müssen die Schützen ziemlich nahe an die Demonstranten ran - und das reichlich ungeschützt.
Das Abschußgerät nämlich muß, so die Hiltruper Studie, »mit beiden Händen gehalten werden«. Die Beamten können deshalb »keinen Schutzschild mit sich führen«, obwohl sie »in der vordersten Linie operieren« müssen. Da kann es schon mal geschehen, wie Hans Frick, politischer Chef der Zürcher Stadtpolizei, 1981 einräumen mußte, »daß ein Beamter, der sich in der Hitze der Auseinandersetzung bedroht fühlt, aus kurzer Distanz abdrückt« - mit womöglich tödlichen Folgen.
Obwohl das Europa-Parlament 1982 und 1984 wegen solcher Konsequenzen
Gummigeschosse verurteilt hat, will Bayern nicht einmal den Abschluß der Entwicklungsarbeiten bei MBB abwarten, sondern unverzüglich, vorerst für knapp 100000 Mark, Gummischrotpatronen und Abschußgeräte jenes tückischen Typs beschaffen, der schon in Zürich eingesetzt worden ist.
Mit dieser Entscheidung, urteilt der SPD-Europaabgeordnete Gerhard Schmidt, verlasse die Strauß-Regierung »den Kreis zivilisierter Europäer«, sie nehme »bewußt schwere körperliche Schäden, auch von Unbeteiligten und Kindern«, in Kauf. Innenminister Hillermeier begründete die Entscheidung mit dem Hinweis, die Verteidigung des WAA-Projekts erfordere eine »offensivere Einsatzkonzeption« als bisher.
Dem neuen Konzept sollen auch fast 20000 CN- und CS-Granaten dienen, mit denen Bayerns Polizei laut amtlicher »Bedarfszusammenstellung« für 1,4 Millionen Mark nachgerüstet werden soll. »Damit«, wundert sich der Münchner SPD-Haushaltsexperte von Heckel, »kann man die halbe Oberpfalz ausräuchern.«
In der hochgradig aufgeladenen Atmosphäre um Wackersdorf könnte, beim geplanten offensiven Vorgehen, womöglich bald schon der erste scharfe Schuß auf einen deutschen Atomgegner fallen. »Die rechtlichen Voraussetzungen für den Schußwaffeneinsatz jedenfalls seien dort«, so das Münchner Innenministerium, schon »mehrfach gegeben gewesen«. Doch auch in Norddeutschland fürchten mehr und mehr Beamte, daß irgendwann während der schon angekündigten Anti-Atom-Proteste der nächsten Monate ein gereizter oder bedrängter Kollege von seiner Dienstwaffe Gebrauch macht.
Der Fernmeldezugführer Werner Passauer beispielsweise, letzten Monat aus Nordrhein-Westfalen nach Brokdorf geschickt, hatte bis dahin »gar nicht daran gedacht, daß ich überhaupt eine Pistole dabei habe«. Nach der jüngsten Zuspitzung des Konfliktes um die Kernkraft aber ist er nachdenklich geworden: »Wenn die Entwicklung so weitergeht. kann man in solche Situationen kommen, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt.«
Und ein Polizist vom SEK Bremen bekennt, im Stahlkugelhagel habe er jüngst selber schon mal überlegt, »ob die Situation jetzt da ist«.
Der Mann ahnte jedoch, was er mit scharfen Schüssen angerichtet hatte: »Wenn der erste auf einen Demonstranten schießt, dann haben wir einen anderen Staat.«
Im nächsten Heft
Manöverkritik im Innenministerium- Krawalle von der Polizei provoziert? - Geheimdienst-Papier rügt Einsatzleiter - Neue Strategie der Autonomen: »Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat«
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MEHRHEIT FÜR DEN AUSSTIEG Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl griff das Meinungsforschungsinstitut Emnid eine Frage wieder auf, die es Anfang der achtziger Jahre gestellt hatte: »Über die Atomenergie sagen die einen, wir müssen in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren Atomkraftwerke bauen, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Die ande ren sagen, die Gefahren sind zu groß, deshalb sollen keine weiteren Atomkraftwerke errichtet werden. Welcher Ansicht stimmen Sie zu? für den Bau weiterer 56 52 52 29 16 18 18 Atomkraftwerke gegen den Bau weiterer 42 46 46 69 83 82 81 Atomkraftwerke April Oktober März Erste Mai Zweite Mai- Erste Juni- Zweite Juni 1980 1981 1982 Umfrage 1986 Umfrage 1986 Umfrage 1986 Umfrage 1986
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Am Dienstag letzter Woche in Gifhorn.