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»Wenn der Löwe anfängt, Fisch zu fressen«

Hunger in Afrika (III): SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann über die Massai in Kenia und Tansania *
Von Erich Wiedemann
aus DER SPIEGEL 32/1984

Als Enkai die Welt erschaffen hatte, rief er im Kerio-Tal, dem Land der Wiege am Ostafrikanischen Graben, seine drei Söhne zu sich und sagte zu ihnen: »Dies ist eure Welt, in der ihr leben sollt, ein jeder auf seine Weise.«

Dem ersten, so geht die Sage, gab Enkai einen Speer für die Jagd, dem zweiten eine Hacke, damit er das Feld damit bestelle. Seinem Lieblingssohn Natero Kop aber, den er zum Stammvater der Massai bestimmt hatte, gab er einen Hirtenstab, und er sprach zu ihm: »Mit diesem Stab gebe ich dir die Gewalt über alle Rinder im Lande Amboseli, denn Rinder sind der größte Segen, den die Götter an die Sterblichen zu vergeben haben.«

Doch Natero Kops Nachfahren müssen den Allmächtigen falsch verstanden haben. Daß neben den Massai keine anderen Stämme Rinder haben sollen, daß sie deshalb den Luo, Kamba und Kikuju straflos das Vieh stehlen dürfen und daß sie ihre Kühe so vergötzen sollten wie die Italiener ihre Bambini, das hat Enkai natürlich nicht gesagt.

Aus Enkais Segen ist ein Fluch geworden. An ihrem Viehbestand gemessen, sind die Massai ein reiches Volk. Zwanzig Rinder pro Kopf der Bevölkerung ist afrikanischer Rekord. Doch ihr Reichtum ist die Quelle ihres Elends: sechs Millionen Stück Nutzvieh von jämmerlich geringem Nutzwert, die langsam den letzten Rest von Fruchtbarkeit aus der Massai-Ebene heraustrampeln.

In guten Jahren kommen sie leidlich über die Runden. Aber seit 1979 hat Afrika nur magere Jahre gehabt - fünf Jahre hintereinander kurze Regenzeiten und lange Trockenzeiten.

Die Massai haben seit der letzten großen Dürrekatastrophe nichts dazugelernt. Anfang der siebziger Jahre war die Steppe beiderseits der Grenze zwischen Kenia und Tansania zeitweilig von Zigtausenden Kuhkadavern übersät, die Massai mußten von Staat und Kirchen durchgefüttert werden, weil sie ihre Rinder lieber verhungern ließen, als sie zu schlachten.

Denn ein Massai schlachtet keine Kuh, bloß weil er hungrig ist. Tolut olemeeta enenye, spricht der weise Maasinta. Das heißt: Verflucht ist der, dem nichts gehört. Im deutschen Umkehrschluß: Haste was, biste was.

Vom Rand des Großen Grabenbruchs an der Straße nach Uganda sind die Konturen des Elends deutlich zu erkennen. Bei Windstille, wenn der Staub sich gesetzt hat, kann man bis zum Magadi-See an der tansanischen Grenze blicken. Früher war um diese Jahreszeit da unten alles grün. In diesem Jahr ist die Regenzeit ausgeblieben. Und danach kamen Kujorok, Morusasin und Oloiborrare, die trockensten Monate im Jahreskalender der Massai.

Die Massai vom Siria-, Loita- und Laitajiok-Stamm sind mit ihren Herden in die Gegend um den Mara-Nationalpark hinübergezogen, wo es noch genug Wasser gibt. Die großen Nationalparks sind Sperrgebiete für Nutzvieh. Denn Kühe bringen im Gegensatz zu Löwen und Giraffen keine Devisen. Aber die Wildhüter in Kenia und Tansania sind großzügig.

»Schau, da hinten, einen Daumensprung neben der großen Akazie, das ist der Oldoinyo Onyoke, der Berg meiner Väter, da grasten früher die Rinder unserer Familie«, sagt Raphael, während sich der Landrover in Schlangenlinien den Steilhang hinter Limuru hinabschraubt. Der Berg liegt im Dunst. So weit man sehen kann, graslose Trockensteppe mit Dornenbüschen, zwischen denen kleine Windhosen aus rotem Mergelstaub umhertorkeln. Nein, da ist nicht mehr viel zu begrasen.

Am Ortsausgang von Narok biegt Raphael in ein ausgetrocknetes Flußbett ab. Raphaels Clan steht dreißig, vierzig Kilometer westlich von hier. Anderthalb Stunden lang quält sich der Geländewagen über den lockeren Schotter. Dann taucht hinter einer Flußbiegung eine große gelbe Pfütze auf, um die sich ein paar Kühe drängen. Auf der Böschung stehen zwei Massai-Hirten, zwei baumlange, buntbemalte Kerle, die sich auf ihre Speere stützen.

»Das sind sie«, ruft Raphael und haut zur Begrüßung mit der Faust auf die Hupe. Man kann schon aus hundert Meter Entfernung die riesigen Brandzeichen des Clans unter den Höckern der Zebu-Rinder erkennen: eine Art Rhombus, in dem sich eine Natter schlängelt.

Die Herde hat Idealgröße: vier mal vier mal vier Tiere. Die Vier ist die Glückszahl der Massai. Deshalb soll die Kopfzahl der Herde durch vier teilbar sein. Neugeborene Kälber werden abseits der Herde gehalten und erst eingegliedert, wenn eine Kuh stirbt. Wenn ein Rind fehlt, leihen sie sich eines beim Nachbarn oder klauen sie sich eines im nächsten Kikuju-Dorf dazu, damit die Viererreihe wieder stimmt.

In schlechten Zeiten, wenn die Kühe schneller sterben, als man sie ersetzen kann, gerät das System schon mal durcheinander. Das ist nicht weiter tragisch. Hauptsache, die Kopfzahl der Herde ist nicht durch sieben teilbar. Denn Sieben ist eine tödliche Zahl. Deshalb hat ein Massai-Kral nie sieben Hütten, und deshalb haben die Ilmoran auf der Jagd sieben Pfeile im Köcher.

Massai-Hirten sehen, ohne zu zählen, ob eine Herde 256 oder 257 Tiere groß ist. Aber Raphael ist die Fähigkeit, die Kopfzahl einer großen Herde mit einem Blick zu erfassen, in der Zivilisation abhanden gekommen. Für die Kollegen im Büro in Nairobi ist er ein urbanisierter Wilder.

Er arbeitet für Geld bei einem Mzungu, wie sie die Weißen nennen. Er hat ein festes Haus mit Wellblechdach, ein Motorrad, einen Fernseher und einen christlichen Vornamen und ernährt sich wie ein Olimegi von Maisbrei, Gemüse und Kartoffeln.

Im Clan gilt er als verlorener Sohn, weil er seßhaft geworden ist und Hosen trägt. Seine Stammesherkunft kann man nur noch an der schlaksigen Statur und an den ausgefransten Schlitzohren erkennen, die bis auf die Schultern herunterhängen.

Zur Feier des Tages wird eine Kuh aufgemacht. Oloburu, Raphaels ältester Bruder, der gerade seinen siebenjährigen Wehrdienst als Ilmoran absolviert hat, schießt einem Jungrind aus einem halben Meter Entfernung einen Holzpfeil in die Halsvene, sammelt das herausfließende Blut in einer Kürbiskalebasse und schließt die Wunde wieder mit einem Pfropfen aus Kuhdung und Lehm. Man kann auch einer bereits angestochenen Kuh die Wunde am Hals wieder aufkratzen. Aber für wirklich lieben Besuch wird natürlich eine frische Kuh angestochen.

Das Blut wird mit dampfender, frisch gemolkener Milch vermischt und warm serviert. Zur Veredelung schlägt man manchmal auch flüssiges Rinderfett darunter. Kenner schätzen einen Schuß Urin als Geschmacksveredelung. Das gibt einen säuerlichen Hautgout. Aber Fremde mögen das nicht.

Zumindest in kulinarischer Hinsicht ist Raphael seiner Familie doch schon deutlich entfremdet. Er trinkt am liebsten Blut pur ohne Milch und Urin.

Blut wird auch zu Beschneidungsfesten gereicht. Dazu singen die jungen Burschen die alten derben Lieder der Väter, deren Refrains früher zuweilen als Thekensprüche die Clubs der britischen Siedler und Kolonialoffiziere zierten. Zum Beispiel dies: »Der Junge furzte, während wir schliefen, und der schreckliche Geruch brachte alle Fliegen um. Unter dem lauten Knall zerbrachen die Hörner der Ziegen und die dürren Bäume« - Burschenherrlichkeit auf afrikanisch.

Nach dem Begrüßungstrunk greift sich Raphael seinen Plastikkoffer und verteilt die Geschenke, die er von daheim mitgebracht hat, unter den männlichen Verwandten: einen Taschenspiegel und einen zerfledderten »Playboy« für Oloburu, für die anderen je eine Flasche Tusker-Bier und ein Päckchen Sportsman-Filter, für den Vater eine große Dose Kimbu-Kochfett.

Die Mutter und die zwei Schwestern gehen leer aus. Sie kauern stumm in einer Ecke des Krals und warten darauf, daß sie gerufen werden. Frauen gelten als unrein und sind daher nur beschränkt gesellschaftsfähig. Man braucht sie zum Wasserholen, Kinderkriegen und Feuermachen. Aber wenn Männer über den Ernst des Lebens sprechen, haben sie sich bedeckt zu halten.

»Was gibt's Neues, Bruder?« fragt Raphael.

»Nichts Gutes«, sagt Oloburu, »das Vieh hungert, Enkai Nanjuki regiert.« Enkai, der Allmächtige, zerfällt nach dem Glauben der Massai in zwei Untergötter, in Enkai Narok, den guten Gott, der es donnern und regnen läßt, und Enkai Nanjuki, den zürnenden Gott des Blitzes, der Dürre und der schrecklichen Staubstürme. Zur Zeit hat Enkai Nanjuki Saison.

Oloburu und Raphael klettern auf einen großen Monolithen, von dem die Herde besser zu überblicken ist. So weit man sehen kann, mit rotem Staub bedeckte klapperdürre Rinder. »Viele werden sterben«, sagt Oloburu mit einer Miene, mit der man Herrenwitze erzählt. Die Vorahnung nahenden Unheils regt ihn nicht auf. Der Tod ist für die Massai eine viel zu normale Sache, als daß er nennenswerte Gemütsbewegung entfachen könnte.

Die Massai glauben an Auferstehung wie die Christen. Der eschatologische Unterschied liegt eher im Technischen.

Das Fleisch hat ausgedient, sobald die Seele daraus gewichen ist. Was zurückbleibt, ist Müll, den man hinter die Hütte wirft und von Geiern und wilden Hunden beseitigen läßt.

Die Auferstehung wird durch die Zeugung eines direkten männlichen Nachkommen

eingeleitet. Die Seele ist erlöst, wenn der Neugeborene zum erstenmal Wasser läßt.

Der Tod ist das natürliche Regulativ im Ökosystem der Steppe. Früher wurden die Herden von Seuchen und Dürrekatastrophen immer wieder dezimiert, bevor sie zur Landplage werden konnten. Die Herden wuchsen im Fünf- bis Zehn-Jahres-Rhythmus, bis sie ihre eigene Existenzgrundlage weggefressen hatten. Dann ging die Hälfte von ihnen ein, und der Kreislauf begann von vorn. Die Natur hat sich bei diesem Auf und Ab jahrhundertelang leidlich im Gleichgewicht gehalten.

Die Veterinärmedizin hat die Überlebensschwelle über das ökologisch vertretbare Maß gehoben. Die Massai haben viel mehr Vieh, als dem Land guttut, auf dem sie leben. Weil der weiße Daktari ihnen die Seuchen vom Hals hält, vermehren sich die Zebus dreimal so schnell wie früher. Folge: Die Herden werden größer, die Weiden werden kleiner - bis die nächste Dürre den Bestand den veränderten Umweltbedingungen angleicht. Nur, daß heute im Unterschied zu früher nach jedem Durchlauf weniger Weidefläche zurückbleibt.

Durch die Brunnen, die die Europäer den Massai überall in die Steppe gebaut haben, ist die Verkarstung erst richtig in Schwung gekommen. Die Nomaden treiben ihr Vieh dahin, wo Wasser ist. Gewöhnliche Wasserlöcher sind leer, wenn sich eine Herde daraus vollgesoffen hat. Die Tiefbrunnen der Weißen aber führen das ganze Jahr über Wasser. Das bedeutet: zwölf Monate im Jahr Höchstbelastung für das Gras im Umkreis von zehn, zwanzig Kilometer. Und wo ein paar Jahre lang ein paar hunderttausend Rindviecher getränkt worden sind, wächst auf lange kein Gras mehr.

Neuerdings bohren die Brunnenbauer nicht mehr so tief. Flachbrunnen führen in aller Regel nur ein halbes Jahr lang Wasser, so daß sich das Gelände in den restlichen sechs Monaten wieder erholen kann.

Die Entwicklung des Viehbestandes folgt dem gleichen mörderischen Gesetz wie die Bevölkerungsexplosion. Je größer die Überlebenschance des einzelnen, um so unabwendbarer die kollektive Katastrophe. Das ist der innere Widerspruch der Entwicklungshilfe, für den noch keine Lösung in Sicht ist.

Es ist eine eher akademische Frage, was die Bodenerosion in Ostafrika stärker fördert, die ruinöse Brandrodung und Kahlschlagwirtschaft der Ackerbauern, die jedes Jahr ein paar tausend Hektar Wald in Holzkohle und Brennholz verwandeln, oder die ruinöse Weidewirtschaft der Nomaden.

Nur soviel ist sicher: Wenn sie gemeinsam so weiterwirtschaften wie bisher, dann haben sich die Wüste und die Halbwüste, die schon jetzt zwei Drittel der Fläche von Kenia bedecken, in spätestens dreißig Jahren auch das letzte Drittel geholt.

Bis dahin wird sich die Bevölkerung verdreifacht haben, wenn der Geburtenüberschuß nicht gebremst wird. Und für Tansania stehen die Prognosen nur wegen der geringeren Bevölkerungsdichte etwas günstiger.

Das Menetekel hat für die Afrikaner seine Schrecken verloren. Es hat immer gute und schlechte Zeiten gegeben in Afrika, aber noch nie waren die schlechten Zeiten so gut zu ertragen wie heute. Der Hilfsapparat der Europäer und Amerikaner springt stets rechtzeitig an, bevor Hungernde verhungern.

Die Abfolge von guten und schlechten Jahren wird in Afrika als normaler Biorhythmus verstanden. Der Mund, der Milch und Blut trinkt, muß auch Fäkalien schlucken können, sagt ein Sprichwort des Kisongo-Stammes.

Soweit sich die Klimaentwicklung zurückverfolgen läßt, kommen nach fetten stets magere Jahre - und umgekehrt. Erst die Europäer haben den Afrikanern beigebracht, rhythmische Abweichungen vom gewohnten Fünf- bis Zehn-Jahres-Takt als Katastrophen zu empfinden.

Die stolze Würde, mit der die Massai ihre Armut tragen, bindet eine breite

Lobby. Die edlen Wilden hatten bei den Europäern immer schon einen großen Sympathievorsprung vor dem gewöhnlichen Wald- und Wiesenneger. »Die Massai«, so schrieb anno 1901 ihrer Majestät Gouverneur Sir Charles Eliot ans Kolonialministerium in London, »sind wunderschöne Bestien, die höchste künstlerische Ansprüche erfüllen.« Sie seien zweifellos »der wichtigste und der gefährlichste Stamm, mit dem wir es zu tun haben«.

Damals waren sie die Herren über das ganze Grasland beiderseits des Kilimandscharo von Marsabit bis Manyara. Sie herrschten über ein Land, das größer war als Großbritannien.

Das pittoreske Bild hat gelitten. »Uhuru«, die afrikanische Unabhängigkeit, hat, wie der Massai-Dichter Tepilit Ole Saitoti schreibt, »dem Löwen die Klauen gestutzt«. Das stolze Kriegervolk hängt am Tropf. Die Massai müssen sich in Notzeiten ausgerechnet von den Olimegi ernähren lassen, dem Krämer- und Bauerngesocks, von dem sie früher keine Scheibe Brot angenommen hätten.

Trotzdem sind sie noch immer Sympathieträger erster Ordnung. »Sie leben mit Dreck, Dung und Fliegen, aber ihre Herzen sind sauber«, schrieb vor Jahren ein unverkennbar deutschstämmiger Folklore-Freund namens Schönfeld an die in Nairobi erscheinende »Daily Nation«.

Um diese Herzenshygiene nicht zu gefährden, sei es besser, vorerst »nur ein paar Massai-Kinder in die Schule zu schicken«. Doch im Massai-Land ist Schulpflicht ohnehin nichts als eine leere Floskel. Von den Schülern des Massai-Polytechnikums in Narok ist nur ein Bruchteil Massai.

Pater Eugen Hillman vom Heilig-Geist-Orden, der in Ilkerin in der Loita-Ebene seit vielen Jahren die Gebräuche der Nomaden studiert, hält die Weidegewohnheiten der Massai für »eine sinnvolle Nutzung der Umwelt, bei der verschiedene Weidegebiete sich immer wieder erholen können«. Nomadisieren, meint Pater Hillman, sei »grundsätzlich eine gute Bewirtschaftung« der Savanne.

Grundsätzlich ja - in einem dünnbesiedelten Land mit soviel Vieh, wie der Boden ernähren kann. Aber sie halten doppelt bis dreimal soviel. Vor hundert Jahren hätte Pater Hillman recht gehabt. Damals brachte sich die Natur immer wieder selbst ins Lot, wenn der Besitzfetischismus der Massai sie aus der Balance zu bringen drohte. Aber dieser Automatismus funktioniert heute nicht mehr.

Alle Versuche, die Massai in »Selbsthilfeprojekten« zu domestizieren, sind gescheitert. Die Fleischfabrik in Kaschiado produziert mangels Schlachtvieh seit Jahren Verluste statt Rindfleisch. Die Musterfarm in der Loita-Ebene, die sie an moderne Ertragswirtschaft gewöhnen sollte, haben grapschige Kikuju-Barone vereinnahmt.

Die Massai haben sie auch gar nicht verteidigt. Die Hand, die Schwert und Lanze führt, soll nicht auch noch die Hacke führen, heißt es in der Überlieferung der Väter. Furchen ins Erdreich ziehen und Körner hineinstreuen, das ist eine Beschäftigung für Olimegi. Ein Massai beugt sein Haupt nicht vor der Scholle.

Immerhin ist es der Regierung gelungen, ihnen im bescheidenen Rahmen Schaf- und Ziegenzucht schmackhaft zu machen. Schafe sind ökonomischer und umweltfreundlicher als Zebu-Rinder, weil sie das Gras nicht mit der Wurzel abfressen. Außerdem sind sie emotional weniger befrachtet und können deshalb ohne Prestigeverlust geschlachtet werden.

Nur, auf die Rindviehbestände hatte das Projekt keinen Einfluß. Im Gegenteil. Seit sie Schafe als Schlachtvieh haben, schlachten die Massai noch weniger Rinder als früher.

Zu Präsident Jomo Kenyattas Zeiten wurden sie härter angepackt. Zur Strafe für ihre Bockbeinigkeit ließ der »Mzee«, wie die Kenianer ihn nannten, bisweilen ganze Dörfer in Brand stecken, das Vieh auseinandertreiben und die Einwohner auf Lastwagen in die Steppe fahren. Einmal stellte das Stadtgericht von Nairobi eine Massai-Großfamilie wegen verbotener Landnahme vor Gericht.

Es war ein bizarres Stück Rechtsfindung: Auf dem Fußboden vor dem Richtertisch 75 abgemagerte, dungverklebte Massai in ockerfarbenen Shukas, hinter dem Tisch die Judikative in Gestalt eines schwarzen Richters mit weißer Perücke, dem man am Gesicht ansah, daß er dem Geruch seiner Väter stark entwöhnt war. Neben dem Richter Staatsanwalt, Beisitzer und ein Dolmetscher, der die Verhandlung vom Englischen ins Maa, die Sprache der Massai, übersetzte.

Sie bekamen alle eine Geldstrafe. Doch der Abschreckungseffekt war gleich Null, schon wegen der fehlenden Einsicht der Beklagten in die Autorität des Gerichts. Er habe gehört, der Mann habe ja nicht mal eine Kuh, sagte einer von ihnen später einem Reporter, der ihn nach seiner Meinung über den Richter und sein Urteil befragte. Und ein erwachsener Mann ohne eigene Kuh ist für einen Massai gewöhnlich kein Umgang.

Auch Jomo Kenyattas Nachfolger, Daniel arap Moi, hat sie nicht disziplinieren können. Daß sie zu Mannbarkeitsfesten trotz des allgemeinen Jagdverbots hin und wieder einen Löwen zur Strecke bringen, ist nicht das Schlimmste. Auch mit ihren archaischen Eigentumsbegriffen kann der Rest der Nation notfalls

leben. Aber daß sie sich penetrant weigern, Hosen zu tragen, und dadurch, wie es die »Daily Nation« ausdrückte, »dem Staat, dessen Bürger sie sind, bewußt den nackten Hintern entgegenstrecken«, das nimmt dieser Staat ihnen übel.

Arap Moi hätte schon längst mal mit einer Abteilung Soldaten nachgeholfen, um die Flegel der Nation zu integrieren - so wie Anfang des Jahres im Wadschir-Distrikt, wo nach einer Operation der »Kenya Rifles« gegen somalische Viehdiebe fast tausend tote Nomaden zurückblieben. Aber anders als die weit weniger malerischen Somali stehen die Massai unter dem Schutz der weißen Mzungus. Schöne Menschen haben eine bessere Lobby als Mauerblümchen.

Bei allem, was sie von den kapitalistischen Nachbarn trennt, ist sich die sozialistische Regierung in Daressalam in ihrer Haltung zum Massai-Problem mit der Regierung in Nairobi weitgehend einig.

Unter dem disziplinarischen Druck des tansanischen Kollektivismus und des ökonomischen Kahlschlags, den er verursacht hat, haben immer mehr Familien ihre Krale jenseits der Grenze in Südkenia aufgeschlagen.

Das Gras ist nicht saftiger als in Tansania. Im Gegenteil. Nur, integrationsunwillige Randgruppen leben am Rande einer kapitalistischen afrikanischen Gesellschaft unbeschwerter als am Rande einer sozialistischen. Kenia ist ein Touristenland. Und Touristen bringen auch in der Trockenzeit noch gutes Geld, wenn die Kühe längst keine Milch mehr geben.

Der weiße Massai-Schutz-Dienst ist zwar in ständiger Sorge um die Würde der Ilmoran, die sich für Geld von Touristen photographieren lassen. Aber Stolz und Würde der Massai haben schon schlimmere Identitätskrisen überstanden als die Konfrontation mit den Photoapparaten der Jet-setter und Neckermänner.

Die tansanischen Massai sind urwüchsiger und krachledener als die Brüder im Norden. Sie kleiden sich in Fell und verwenden Kuhdung als Pomade, was in Kenia selten geworden ist. Doch ihr Hochmut im Umgang mit - weißen und schwarzen - Olimegi ist ungebrochen. Sie lehnen rundweg alles ab, was die Regierung für entwicklungspolitisch wünschenswert erklärt hat: Schulbildung, Seßhaftigkeit, Hosentragen, vaterländische Gesinnung.

Sie schlagen einander auf Mannbarkeitsfesten die Köpfe blutig, klauen ihren Nachbarn das Vieh, siedeln, ohne Rücksicht auf Katasterordnungen, wo es ihnen paßt, und ziehen mit ihren Herden, ohne Rücksicht auf Zollbestimmungen und Seuchenschutzverordnungen, den Regenwolken nach.

In der Eingangshalle des Präsidentenpalasts in Daressalam hing vor Jahren ein Photo, das Präsident Julius Nyerere zeigte, wie er einem hosenlosen Massai-Akademiker das Diplom überreichte. »Isipat enari, menari iregie«, stand darunter in Maa. Das heißt sinngemäß: Auch ohne gemeinsame Tradition kann man gemeinsame Wahrheiten haben.

Es sollte ein Bild der Hoffnung sein. Aber es hing dort nicht lange. Denn es war kein wahres Bild. Die Massai und der Staat Julius Nyereres haben keine gemeinsamen Wahrheiten. »Sie stellen sich dem Fortschritt in den Weg«, stand in der regierungsamtlichen »Daily News« in Daressalam, »das können wir nicht dulden.« Toleranz ist in Afrika in erster Linie eine Tugend der Reichen. Doch Tansania ist bettelarm.

Außerdem ist Tansania sozialistisch. In einem Vierteljahrhundert Uhuru aber hat sich gezeigt, daß Sozialismus und »Afrikanität«, wie sie der senegalesische Philosoph Leopold Senghor definiert hat, zueinander passen wie das Hippopotamus zur Kalahari. »Reif für den Sozialismus«, sagt Senghor, »sind die Afrikaner erst, wenn der Löwe anfängt, Fisch zu fressen.«

Oder wenn die Massai anfangen, gute Staatsbürger zu sein. Und das ist ebenso unvorstellbar.

[Grafiktext]

Siedlungsgebiet der Massai ZAIRE UGANDA KENIA Narok Nairobi Victoria-See RUANDA BURUNDI Aruscha Moschi Mombasa 300 Kilometer TANSANIA Daressalam MOSAMBIK AFRIKA KENIA TANSANIA

[GrafiktextEnde]

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