WENN DIE POLIZEI KASSIERT ...
SPIEGEL: Herr Bundesrichter Dr. Sanders, fahren Sie Auto?
SANDERS: Ja, mit großem Vergnügen.
SPIEGEL: Haben Sie dabei die gleiche Erfahrung gemacht wie der Verkehrsrechtsexperte Professor Günter Stratenwerth? Er sagte unlängst: »Wer selbst am motorisierten Straßenverkehr teilnimmt, weiß, daß automobilistischer Schwachsinn eine Regel ist, die durch Ausnahmen nicht allzu häufig bestätigt wird.«
SANDERS: Ich wehre mich immer gegen allzu überspitzte Äußerungen. Man sollte sich damit begnügen zu sagen, daß menschliche Unzulänglichkeit am Steuer immer wieder in Erscheinung tritt. Den vollkommenen Autofahrer gibt es eben nicht.
SPIEGEL: Ob Schwachsinn oder menschliche Unzulänglichkeit - die Bundesregierung will jetzt Remedur schaffen. Die Polizei soll schärfer durchgreifen dürfen. Das Bundesjustizministerium hat den Entwurf eines Gesetzes fertiggestellt, das die bisherigen Verkehrsübertretungen in sogenannte Ordnungswidrigkeiten umwandelt. Das bedeutet: Die Mehrheit aller Verstöße gegen das Straßenverkehrsrecht soll in Zukunft nicht mehr von einem Richter durch Strafbefehl oder Strafverfügung geahndet werden, sondern von der Polizei mit drakonischen Bußgeldern.
SANDERS: Ich glaube, daß der Entwurf einen begrüßenswerten Fortschritt gegenüber der jetzigen Regelung enthält und daß es in keiner Weise berechtigt ist, von drakonischen Maßnahmen zu sprechen, sondern daß die Maßnahmen sich durchaus im Rahmen halten und der Sachlage angemessen sind. Der Zweck des Entwurfs ist nicht der, ein schärferes Durchgreifen zu ermöglichen.
SPIEGEL: Bei fahrlässigen Verkehrsverstößen soll die Polizei Bußgelder von fünf bis 500 Mark, bei vorsätzlichen bis zu 1000 Mark und ausnahmsweise - wenn jemand mit Kraftfahrzeugteilen handelt, die nicht den Vorschriften des Kraftfahrzeugbundesamtes entsprechen
- bis zu 10 000 Mark verhängen dürfen.
Auch ein Fahrverbot bis zu drei Monaten ist vorgesehen. Wir finden, das sind drakonische Maßnahmen.
SANDERS: Aus Ihrer Formulierung entnehme ich eine gewisse Skepsis dem Entwurf gegenüber. Darum begrüße ich es außerordentlich, daß wir Gelegenheit zu einem klärenden Gespräch haben. Sie erwähnten eben den einzigen Fall, in dem eine Ordnungsstrafe bis zu 10 000 Mark vorgesehen ist. Das ist eine Sonderbestimmung für eine besonders gefährliche Verhaltensweise. Aber wir wollen doch die Regelfälle untersuchen. Und da bleiben die Bußgelder mit einem Betrage von höchstens 1000 Mark im Rahmen dessen, was bei Ordnungswidrigkeiten angemessen ist. Dabei ist auch zu bedenken, daß die Masse der Verkehrsverstöße fahrlässige Verstöße sind.
SPIEGEL: Viele Bürger versetzt auch schon die Vorstellung in Schrecken, die Polizei werde ihnen 1000 Mark abknöpfen dürfen. Aber, Herr Dr. Sanders, warum sollen die Verkehrsübertretungen denn überhaupt in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt werden?
SANDERS: Man hat seit langem erkannt, daß ein großer Teil der Übertretungen nicht in das kriminelle Strafrecht hineingehört. Die Entkriminalisierung leichter Bagatelldelikte ist auf anderen Rechtsgebieten, etwa im Wirtschafts- und Arbeitsrecht, bereits verwirklicht.
SPIEGEL: Die Verkehrstäter sollen also aus der Nachbarschaft der Räuber, Betrüger und Diebe herausgerückt werden?
SANDERS: Ja. Man muß sich doch einmal darüber klarwerden, daß es zwar den Verkehrsrowdy gibt, daß aber doch wohl die Masse der Verkehrsverstöße von Personen begangen wird, die man nicht als Verkehrsrowdys bezeichnen kann.
SPIEGEL: Dieser Meinung hat der SPIEGEL in einer Titelgeschichte schon Anfang letzten Jahres Ausdruck gegeben**. Nur hat der Gesetzgeber ganz anders gedacht: Er hat das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs erlassen, das mit seinen schärferen Strafandrohungen die Gefahr heraufbeschwor, daß die Deutschen ein Volk von Vorbestraften werden.
SANDERS: Durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs sind zwar eine Reihe von besonders gefährlichen Übertretungen zu Vergehen aufgewertet worden. Es sind jedoch nur die Fälle betroffen, in denen der Täter grob verkehrswidrig und rücksichtslos handelt und das unfallträchtige Verhalten zu einer konkreten Gefährdung führt. Es ist darum ein Mißverständnis zu glauben, dieses - kriminalpolitisch absolut berechtigte - Gesetz sei dahin zu verstehen, es könne durch seine Anwendung ein »Volk von Vorbestraften« geschaffen werden.
SPIEGEL: Jedenfalls will der Gesetzgeber, wie der Entwurf des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeiten-Gesetz dokumentiert, hier wieder etwas behutsamer vorgehen. Die von Unfall-Prophylaktikern so genannten sieben Todsünden im Straßenverkehr, also die unfallträchtigen Verkehrsdelikte*, sollen in Zukunft nur Ordnungswidrigkeiten sein, wenn sie nicht eine konkrete Gefahr herbeigeführt haben und nicht grob verkehrswidrig und rücksichtslos begangen worden sind.
SANDERS: Man könnte sich überlegen, besonders unfallträchtiges Verhalten stets als Vergehen einzustufen ...
SPIEGEL: ... also als schweres kriminelles Delikt.
SANDERS: Ja. Aber nehmen Sie mal folgenden Fall: Jemand fährt aus einer Nebenstraße grob verkehrswidrig in eine Vorfahrtstraße, ohne dabei rücksichtslos zu handeln. Es kommt zu einem Zusammenstoß mit Totalschaden beider Wagen. Personen werden durch einen glücklichen Zufall nicht einmal verletzt ...
SPIEGEL: Das wäre heute eine Übertretung.
SANDERS: Mir scheint, daß in diesem Fall auch eine Ahndung der Tat als Ordnungswidrigkeit durchaus ausreicht.
SPIEGEL: Gilt das auch für Geschwindigkeitsüberschreitungen? Wer zu schnell fährt, bleibt ein Ehrenmann?
SANDERS: Ganz so würde ich es nicht formulieren. Aber die Grenze zwischen Ehrenmann und Verkehrsrowdy ist nicht immer leicht zu ziehen. Nehmen Sie doch mal an, am Wochenende begegnet Ihnen an einer leeren Baustelle neben der Straße - die Straße selbst ist gar nicht in Mitleidenschaft gezogen - ein Schild »20 km«. Das hat man vergessen wegzunehmen oder aus Bequemlichkeit auch bewußt nicht weggenommen. Zunächst überlegen Sie sich: Muß ich heruntergehen? Dann sagen Sie sich: Das ist doch Unsinn und fahren brav Ihre 40, 50 Stundenkilometer weiter.
SPIEGEL: Wir sind in diesem Punkt Ihrer Meinung. Nun messen angesehene Strafrechtler, etwa Professor Paul Bockelmann, der Kriminalstrafe eine besondere pädagogische Wirkung bei. Bockeimann meint, man könne die Erziehung der Kraftfahrer, unfallträchtige Verkehrsverstöße zu vermeiden, nicht damit beginnen, daß man solche Verstöße zunächst einmal für kriminell straflos erkläre. Nach seiner Ansicht ist nur die Kriminalstrafe geeignet, den »parvenuehaften, pennälerhaften Stil« unseres Fahrens auszurotten.
SANDERS: Auch ein Bußgeld, bis zu 500 oder 1000 Mark immerhin, kann pädagogisch wirken. Und eine Strafe ist das übrigens auch, wenn auch keine Kriminalstrafe.
SPIEGEL: Das wirft die verfassungsrechtliche Frage auf, Herr Dr. Sanders, ob der Bundesgesetzgeber der Polizei, also der Exekutive, Befugnisse einräumen darf, die - obwohl nicht »Strafe«, sondern »Buße« genannt - doch Strafcharakter tragen? Wird dadurch nicht das grundgesetzlich verankerte Prinzip der Gewaltenteilung verletzt?
SANDERS: Ich glaube nicht, daß es da Schwierigkeiten geben wird. Die Verwaltungsbehörden ahnden ja auf einer ganzen Reihe von Gebieten jetzt schon Ordnungswidrigkeiten.
SPIEGEL: Artikel 92 des Grundgesetzes lautet aber: »Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut«, und das bedeutet nach Ansicht renommierter Verfassungsrechtler: »ausschließlich« den Richtern anvertraut.
SANDERS: Entscheidend ist nur, daß letzten Endes der Richter urteilt. Es muß immer eine gerichtliche Überprüfung möglich sein, wie sie ja auch in dem Entwurf vorgesehen Ist. Derjenige, gegen den eine Buße verhängt worden ist, kann Einspruch erheben. Dann wird der Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde hinfällig, und das Gericht entscheidet.
SPIEGEL: Wer keinen Einspruch einlegt, ist selbst schuld daran, daß er von seinem Verfolger bestraft wird? Diese Argumentation verwechselt zwei Verfassungsprinzipien: die Rechtsweggarantie des Artikels 19 Absatz IV des Grundgesetzes mit dem Grundsatz, daß rechtsprechende Staatsgewalt nur vom Richter ausgeübt werden darf.
SANDERS: Ich finde, es reicht aus, wenn der Verwaltungsbehörde nicht die Kompetenz zur verbindlichen, rechtskräftigen Bestrafung zusteht, sondern wenn das Bußgeldverfahren unter der Rechtsweggarantie des Artikels 19 Absatz IV des Grundgesetzes steht. Ich habe ja bereits darauf hingewiesen, daß das Bußgeldverfahren nichts grundsätzlich Neues ist. Andere Fragen sind vielleicht von größerem Interesse.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
SANDERS: Der Unterschied zwischen kriminellem - und Verwaltungsunrecht.
SPIEGEL: Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts soll der Bürger durch das Verwaltungsunrecht davor geschützt werden, wegen einer Handlung, die nach allgemeinen gesellschaftlichen Auffassungen nicht als kriminell strafwürdig gilt, mit dem Makel einer strafgerichtlichen Verurteilung behaftet zu werden.
SANDERS: Das bloße Verwaltungsunrecht läßt sich vom kriminellen Unrecht nicht streng nach begrifflichen Merkmalen scheiden.
SPIEGEL: Dürfen wir ein paar Kategorien aufzeigen, mit denen eine begriffliche Unterscheidung versucht worden ist? Man hat zum Beispiel gesagt, beim kriminellen Strafrecht handele es sich um einen sozial-ethischen Verstoß; bei den Ordnungswidrigkeiten dagegen liege ein bloßer Normverstoß vor, es werde keine Moral verletzt. Die Konsequenz dieser Unterscheidung wäre: Unordnung im Staate ist moralisch wertneutral.
SANDERS: Ich glaube, mit dieser Differenzierung kommt man nicht weiter. Nehmen Sie mal einen kleinen Notbetrüger oder jemand, der aus Not einen kleinen Geldbetrag wegnimmt. Und stellen Sie dem gegenüber jemand, der auf der Straße sehr rücksichtslos fährt, ohne aber eine konkrete Gefährdung herbeizuführen, so daß ein Vergehenstatbestand nicht gegeben ist. Er begeht also nur eine Übertretung und in Zukunft eine Ordnungswidrigkeit. Da ist sicher das moralische Unwerturteil bei dem, der die Ordnungswidrigkeit begangen hat, angebrachter als bei dem Täter des kriminellen Delikts.
SPIEGEL: Eine weitere Kategorie: Man hat gesagt, im kriminellen Strafrecht würden immer Personen oder Vermögen - subjektive Rechte also - verletzt, im Ordnungswidrigkeitenrecht nur Normen. Das Ordnungswidrigkeitenrecht sei im wesentlichen auf Gefährdung zugeschnitten, das kriminelle Strafrecht auf Erfolg.
SANDERS: Auch das kriminelle Strafrecht kennt Gefährdungsdelikte und kennt Delikte, die nicht nur die Rechtsgüter des Einzelnen verletzen. Auch das gibt keine brauchbare Abgrenzung. Die Abgrenzung kann im Grunde nur von der Reaktion des Gesetzgebers her gefunden werden. Wenn er eine Handlung mit einer kriminellen Strafe belegt, dann bringt er eben dadurch ein sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck. Wenn er es bei einer Ordnungswidrigkeit beläßt, tut er das nicht.
SPIEGEL: Nun unterteilt das Strafgesetzbuch, pauschal gesprochen, alle Delikte so: Eine Tat, die mit Geldstrafe oder Haft bedroht wird, ist eine Übertretung, eine, die mit Gefängnis bedroht wird, ist ein Vergehen und eine, die mit Zuchthaus bedroht wird, ist ein Verbrechen. Und genau nach diesem Prinzip verfährt das Ordnungswidrigkeitengesetz auch. Es bestimmt: Eine Tat, die mit einer Buße bedroht wird, ist eine Ordnungswidrigkeit, so daß nur von der Sanktion her zu erkennen ist, wie die Tat eingestuft werden soll. Systematisch behandelt also der Gesetzgeber das Ordnungswidrigkeitenrecht nicht anders als das kriminelle Strafrecht. Kein Zweifel: Ordnungswidrigkeiten sind Straftaten; Bußen sind Strafen; und mit der Verhängung von Bußen wird Strafgewalt ausgeübt - von der Polizei.
SANDERS: Sie wollen darauf hinaus, daß die Ausübung der Strafgewalt - im weiteren Sinne also auch der Ordnungsstrafgewalt - in jedem Falle zur Rechtsprechung gehört?
SPIEGEL: Im Artikel 101 Absatz I des Grundgesetzes heißt es: »Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.«
SANDERS: Es wird ja niemand seinem Richter entzogen. Auch wenn ein Verwaltungsverfahren vorgeschaltet ist, kann sich jedermann immer an den Richter wenden, der für ihn nach den allgemeinen Verfahrensgesetzen zuständig ist.
SPIEGEL: Hat nach Artikel 101 nicht jeder Beschuldigte einen Anspruch darauf, schon in erster Instanz von einem Richter verurteilt zu werden?
SANDERS: Nein, das Grundgesetz behält nur bestimmte Maßnahmen dem Richter vor. So darf - das ist besonders wichtig - eine Freiheitsstrafe ausschließlich vom Richter verhängt werden. Soweit sich aber aus dem Grundgesetz keine Einschränkung ergibt, hat der Gesetzgeber zu bestimmen, wieweit die Ausübung der Strafgewalt dem Richter vorbehalten sein soll. Denken Sie hier doch, bitte, zum Beispiel einmal an Paragraph 22 des Straßenverkehrsgesetzes. Danach können bestimmte Polizeibeamte bei leichteren Straßenverkehrsübertretungen den auf frischer Tat betroffenen Täter verwarnen und eine Gebühr von einer bis zu fünf Mark erheben. Diese Gebühr hat Strafcharakter. Es handelt sich eben manchmal auch um die Frage der Praktikabilität.
SPIEGEL: Der Gesichtspunkt der Praktikabilität hat ja bei der Ausarbeitung des geplanten Gesetzes wohl auch insofern eine Rolle gespielt, als die Verkehrsrichter entlastet werden sollen. Die arbeiten mitunter wie Roboter. In Hamburg unterschreibt ein Verkehrsrichter etwa 5000 Strafbefehle im Jahr. Die Frage ist nur: Wird das Ordnungswidrigkeitengesetz wirklich die Richter entlasten? Besteht nicht die Gefahr, daß die Verkehrsgerichte künftig in der Flut der Einspruchsverfahren ertrinken werden, wie manche Richter bereits befürchten?
SANDERS: Ich habe ja noch die Erfahrung mit der alten polizeilichen Strafverfügung. Sie spielte früher auch bei den Verkehrsübertretungen eine große Rolle. Und sie hatte sich bewährt. Ich glaube, daß, genau wie damals, die Masse der Verkehrssünder sich mit dem Bußgeldbescheid der Polizeidienststelle beruhigen wird, wie sie es mit dem gerichtlichen Strafbefehl heute doch wohl auch tut.
SPIEGEL: Nun sind viele Bürger gegenüber der Polizei noch skeptischer als gegenüber der Justiz. Wird dieses psychologische Moment nicht eine wesentliche Rolle spielen, wenn die Polizisten kassieren und erhebliche Bußen verhängen?
SANDERS: Zunächst einmal wird kein Polizist erhebliche Bußen verhängen. Der Bußgeldbescheid wird von der Polizeidienststelle kommen, die nicht mit einem einfachen Polizisten besetzt ist. Man kann natürlich darüber streiten, ob der Bußgeldbescheid von einem Beamten des höheren Dienstes unterschrieben sein muß oder ob es genügt, daß ein Beamter des gehobenen Dienstes entscheidet. Ich meine, daß bei der guten Ausbildung der Beamten des gehobenen Dienstes ...
SPIEGEL: Welche Beamten gehören zum gehobenen, welche zum höheren Dienst?
SANDERS: Der höhere Dienst beginnt mit dem Regierungsrat, der gehobene mit dem Inspektor, dann kommen der Oberinspektor und der Amtmann. Jedenfalls muß die Gewähr dafür gegeben sein, daß der, der den Bußgeldbescheid erläßt, ein sachkundiger und erfahrener Beamter ist. Und dazu ist mindestens ein Beamter des gehobenen Dienstes nötig.
SPIEGEL: Der soll auch über eine so einschneidende Maßnahme wie das Fahrverbot entscheiden? Außerdem müßte er mit strafrechtlichen Kategorien wie Versuch, Irrtum oder Zurechnungsfähigkeit arbeiten - mit Begriffen, die schon für manchen Juristen schwer zu handhaben sind.
SANDERS: Die Masse der Ordnungswidrigkeiten auf dem Gebiet des Verkehrsstrafrechts wird nicht besonders kompliziert sein, und im übrigen ist es ja immer möglich, die Entscheidung eines Juristen einzuholen.
SPIEGEL: Von den komplizierten Fällen abgesehen: Zumindest erörtert wurde, daß der Polizist Beträge bis zu 20 Mark gleich auf der Straße soll kassieren dürfen, während er heute allenfalls fünf Mark für eine gebührenpflichtige Verwarnung in Empfang nehmen darf. Wird der Dorfpolizist in Hintertupfingen diesen größeren Strafrahmen dazu benutzen, den Bauern Gschaftlhuber für private Feindschaft amtlich büßen zu lassen?
SANDERS: Man tut dem Polizeibeamten unrecht, wenn man ihm zuviel sachfremde Erwägungen unterstellt. Natürlich spricht manches dafür, den Polizisten auf der Straße nur kleine Beträge kassieren zu lassen. 20 Mark, das wäre wohl die äußerste Grenze. Aber man sollte nicht verkennen, daß die Erhöhung auf 20 Mark die Möglichkeit gibt, mehr leichtere Fälle als bisher durch Zahlung eines Verwarnungsgeldes zu erledigen. Und darüber wird sich der Verkehrssünder nur freuen.
SPIEGEL: Es gibt Verkehrsjuristen, die angesichts solcher Konfliktmöglichkeiten dafür plädieren, daß unabhängig vom Schuldvorwurf für bestimmte Taten ein Strafschema festgesetzt werde: Irgendein Verkehrsverstoß kostet eben soundsoviel - eine Taxe gewissermaßen.
SANDERS: Bei den leichteren Fällen sollte man tatsächlich zu Taxen übergehen.
SPIEGEL: Trotzdem verlagert der Entwurf die strafrechtlichen Schuldbegriffe Vorsatz und Fahrlässigkeit einfach ins Ordnungswidrigkeitenrecht.
SANDERS: Sosehr es im Verkehrsrecht auf den ersten Blick etwas für sich hat, von der Schuld abzusehen und nur auf das, was objektiv geschieht, abzustellen, so sehr, glaube ich, widerspricht das dem ganzen Geist unseres Rechtsdenkens. Am Schuldprinzip sollte auf jeden Fall festgehalten werden.
SPIEGEL: Der Entwurf sieht auch vor, daß die im Ordnungswidrigkeitenverfahren geahndeten Verstöße, jedenfalls zum großen Teil, in die Verkehrssünderkartei eingetragen, polizeiliche Maßnahmen also registermäßig verewigt werden sollen.
SANDERS: Die - sehr vorsichtige - Regelung des Entwurfs ist nur zu begrüßen. Gegenwärtig ist es ganz unterschiedlich, was aus den einzelnen Gerichtsbezirken eingetragen wird und was nicht. Jetzt sagt der Entwurf, daß Ordnungswidrigkeiten dann eingetragen werden sollen, wenn gegen den Betroffenen ein Fahrverbot angeordnet worden ist oder es sich um Ordnungswidrigkeiten handelt, deren Bekämpfung im Interesse der Unfallverhütung besonders geboten ist, namentlich weil sie erfahrungsgemäß zu schweren Unfällen führen.
SPIEGEL: Und ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, entscheidet ein Amtmann?
SANDERS: Ich glaube, daß die Polizei die ihr durch den Entwurf des Gesetzes gegebene Macht nicht mißbrauchen wird.
SPIEGEL: Herr Dr. Sanders, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
** SPIEGEL 10/1965.
* Vorfahrtverletzung, falsches Überholen,
falsches Fahren an Fußgängerüberwegen, Wenden auf der Autobahn; keine Kennzeichnung liegengebliebener Fahrzeuge, Geschwindigkeitsüberschreitungen und verlassen der rechten Fahrspur an unübersichtlichen Stellen.
Sanders (r.) beim SPIEGEL-Gespräch in seiner Ettlinger Wohnung*
Bild
Wo alle deutschen Straßen enden!
Die Welt
Beute-Chronik
Bild
»Das ist der 100 000., Herr Staatsanwalt!«
* Mit SPIEGEL-Redakteur Axel Jeschke.