»Wenn du unten bist, tauchst du ab«
Sonne, Sonntagnachmittag, lazy afternoon im Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Vor dem »Wiener Cafe« sitzt die Kundschaft bei Eiskaffee oder Bier, mittendrin ein Punker mit halb abrasiertem, halb grün gefärbtem Schopf. Das zerrissene T-Shirt des jungen Mannes trägt die Aufschrift »Chaos«.
Drei Stunden später, ein paar Straßen weiter. Aus der Freiluftgaststätte »Pratergarten« überträgt der DDR-Rundfunk live eine Unterhaltungssendung. Biedere Bürger in Schlaghosen und mit Plastiksonnenbrille hocken neben kahlgeschorenen Hundehalsbandträgern beim Bier. Reglos beobachten sie, wie sich eine Kapelle und ihre Go-go-girls mühen, Freude aufkommen zu lassen. Auch ein Schwulen-Pärchen steht dabei und lauscht der Combo, die den Uralt-Hit »Copacabana« zum besten gibt.
Bürgerwelt und Szenenwelt: Kein anderer Fleck in der SED-Republik ist von diesem Gegensatz so geprägt wie das Viertel rechts und links der Schönhauser Allee. Dort stehen an den Hauswänden nicht mehr nur die Bekenntnisse der Fußball-Fans ("BFC Union") oder der Rock-Gemeinde ("AC/DC"). Dort wird es auch politisch.
An den Hintereingang des S-Bahnhofs Schönhauser Allee hat einer die West-Berliner Hausbesetzer-Devise gemalt: »Legal, illegal, scheißegal!« Die A sind eingekreist, natürlich, die Friedensrune der Pazifisten findet sich fast an jeder Straßenecke. Eine Wand der Gethsemane-Kirche ist mit der Verheißung verziert worden: »Jesus lebt - Jesus ist grün!«
Ab und an gehen staatliche Tüncher gegen die Spray-Sprüche zu Werke. Der Namenszug der verbotenen polnischen Gewerkschaft »Solidarnosc« auf einer Mauer am Helmholtzplatz verschwand schon nach einem Tag unter weißem Anstrich. Und die Kachelwände am U-Bahnhof Luxemburgplatz, die öfter mal Umwelt- und Peace-Parolen zieren, sind durch die häufige Anwendung von Reinigungschemikalien fleckig geworden.
Bürger und Szene versuchen sich abzugrenzen, so gut es geht.
Als sich am 13. Februar 1982 zum erstenmal in der DDR 5000 Jugendliche vor und in der Dresdener Kreuzkirche zu einem Friedensforum versammeln, finden sich gegenüber dem Gotteshaus ältere Gäste zum Variete im »Cafe Prag« ein. Während sie bei Torte, Schnaps und Bier Kunstturnern und Jongleuren zusehen, werden unten auf dem Altmarkt Antikriegslieder zur Gitarre gesungen.
Das Ost-Berliner Kabarett »Die Distel«, nach Ansicht einer Funktionärstochter »das Amüsierkabinett der Genossen«, zeigt am 9. Mai 1983 ein Sonderprogramm zum Jahrestag der Bücherverbrennung. Es geht familiär zu, in einer Art Talkshow werden Veteranen des sozialistischen Kampfes vorgestellt. Die Kabarettisten begrüßen die SED-Funktionäre im Publikum. Kaum einer unter den Zuschauern, der nicht das Parteiabzeichen trägt.
Wer in der Pause mal um den Block geht, dem wird die Feststimmung versaut. Meter weg vom Ort der sozialistischen Familienfeier schleppt ein Jugendlicher sein schweres Kofferradio die Straße rauf und runter. Der Lautstärkeknopf ist bis zum Anschlag
aufgedreht, der Song des West-Rockers Udo Lindenberg an SED-Chef Erich Honecker kommt gut zwischen den hohen Hauswänden der Clara-Zetkin-Straße: »Du ziehst Dir doch heimlich auch gerne mal die Lederjacke an, / und schließt Dich ein auf''m Klo und hörst West-Radio, / hallo, Erich, kannst'' mich hören ...«
Die Punker, die Aussteiger, die Alternativen in der DDR ziehen sich nicht, wie es ihre Vorgänger, die Hippies und Dissidentenzirkel taten, in eine privatprotestlerische Kleinkultur zurück. Sie machen sich öffentlich breit.
Die ersten Ost-Berliner Punker tauchten vor gut zwei Jahren auf. Damals, im Frühjahr 1981, schlichen sich zwei Dutzend Kahlgeschorene noch heimlich zu einer Fete der Evangelischen Studentengemeinde in der Invalidenstraße.
Wenn ein Wartburg der Volkspolizei langsam vorbeipatrouillierte, huschten sie hinter die nächste Litfaßsäule oder verzogen sich ins Gebüsch. Eine Band spielte auf dem Fest Punkmusik: Keiner der Veranstalter hatte sie so richtig gekannt, sonst wäre die Gruppe wohl nicht eingeladen worden.
Sommer 1983 in einem Hinterhof in der Schliemannstraße, Bezirk Prenzlauer Berg. Es ist Betrieb an diesem Samstagabend. In ein paar Stunden soll die Gruppe »Vorbildliche Planerfüllung« aus Gera aufspielen. Bis dahin musiziert eine unbekannte Fünf-Mann-Band. Als Bühne dient ein Sperrmüll- und Trümmerberg im dritten Hinterhof.
Von dem Text, den der Sänger mit der Schweißerbrille herausschreit, sind nur Fetzen zu verstehen: »Schnee fällt aus Benzinkanistern über dieses todlangweilige Land.« Die anderen vier fallen immer
wieder in den Refrain ein: »Das ist die Schuld der Väter! Das ist die Schuld der Väter!« Bis schließlich einer der Gäste über ein Verstärkerkabel stolpert und der Strom wegbleibt.
Auch der DDR-Rundfunk beginnt sich vorsichtig auf neue Töne einzustellen. Regelmäßig stellt der Jugendfunk Amateurgruppen vor, mit Texten wie: »Ich sitz'' vor der Glotze/schütte Schnaps in mich rein«, oder: »Zerrissen wie diese Zeit/geh'' ich auf dem schmalen Grat zwischen ''Bitterkeit'' und ''nie was riskieren''.«
Heute gehören Punker zum Straßenbild, nicht nur in Ost-Berliner Vierteln wie Prenzlauer Berg, sondern auch in Dresden, Halle und anderswo. Bands wie »Keks« aus Ost-Berlin und »Juckreiz« aus Thüringen liefern ihnen die Musik. Und wenn es auch bloß Wasserfarbe ist, die sie zum Haarefärben kaufen können - Spaß macht es doch: Jede HO-Kaufhalle und jedes Bekleidungsgeschäft ist ein punkiges Einkaufsparadies.
Denn eine Subkultur, die sich unmodern und antimodisch gibt, die den nostalgischen Tick für die Nierentisch-Epoche pflegt, braucht im anderen Deutschland nicht lange nach geeignetem Ambiente zu suchen: Für die Punks ist die Rückreise in die fünfziger Jahre kurz, weil deren Ästhetik in der DDR von heute noch immer allgegenwärtig ist.
Die Kleidung der Bürger, die Einrichtung der Wohnzimmer, die schrillen Farben der Trabant-Autos ("Trabis"), die sterilen Mitropa-Gaststätten, die Waschpulver-Kartons und Fertigsuppen-Schachteln könnten von westlichen New-Wave-Designern gestylt worden sein: real existierender Punk im sozialistischen Deutschland.
Gern greift deshalb die West-Berliner Szene seit Jahren auf die tiefgefrorenen Fifties vor der Haustür zurück: In der Bleibtreustraße bietet Laden an Laden die Plaste-Klamotten nach DDR-Machart an, der abgelegenste heißt »Intershop«. Rockgruppen im Westteil der Stadt nennen sich »Interzone«, »White Russia« oder »Leningrad Sandwich«. Und die Mauer ist längst zur Reklamewand für Rockkonzerte und Plattencover geworden.
Jenseits der Mauer hat der Spaß schnell ein Ende. Ost-Punks, die sich für das West-Berliner Szeneblatt »Tip« und das Hamburger Links-Blatt »Konkret« hatten ablichten lassen, landeten hinter Gittern. Sie haben keine Fürsprecher: So wie in den sechziger Jahren den Langhaarigen, so schlägt heute den Geschorenen der Mißmut des DDR-Normalbürgers entgegen.
In einer thüringischen Kleinstadt (30 000 Einwohner) lud ein Mitglied der kirchlichen »Jungen Gemeinde« die dort bestehende Gruppe von fünf Punks in die elterliche Ausflugsgaststätte ein. Als der Vater, ein selbständiger Wirt, zwei Irokesenköpfe erblickte, verlor er die Fassung - die beiden mußten durstig wieder abziehen.
Empörte Bürger werden auch mal handgreiflich. Bei der Volkspolizei findet ein Punker keine Hilfe: Vielleicht ist ja der Beamte, an den er sich wendet, derselbe, der ihn gestern wegen »asozialen Verhaltens« vom Marktplatz oder aus einer Kneipe vertrieben hat.
Vor allem die Transportpolizei tut sich hervor. In Halle, Potsdam, Leipzig und anderswo wurden grell gefärbte Jugendliche mit Punkausrüstung sistiert: Wer verreisen wollte, durfte den Bahnhof nicht betreten, wer ankam, wurde nicht hinausgelassen.
Schlechte Karten haben Punker erst recht in der Schule und auf der Lehrstelle: In die Zeugnisse schreiben Lehrer und Meister nicht nur Fachzensuren, sondern auch ausführliche Beurteilungen über die Persönlichkeit. Auch wenn sich einer entschließt, die grüne Haarfarbe rauszuwaschen und das Hundehalsband an den Nagel zu hängen, bleibt das Blatt in seiner Kaderakte ein ganzes staatsbürgerliches Leben lang.
Und doch lassen sie sich das bittersüße Gefühl nicht vermiesen, Bürgerschreck
zu sein, aufzufallen im Einheitsgrau, den Staat zu verhohnepiepeln. Auf der Suche nach zünftigem Outfit haben die DDR-Punker all die staatlichen Abzeichen für gutes Lernen, die Banner für besondere Kollektivleistungen, die kleinen rot-goldenen Embleme zum 30. Jahrestag der DDR-Gründung und die Medaillen zum Tag der deutsch-sowjetischen Freundschaft entdeckt. Zwischen den Buttons von West-Freunden mit Anarcho-Parolen, dem Bekenntnis zur Rockgruppe »Sex Pistols« oder der Aufforderung »Piss off« findet sich auf den Jacken vieler DDR-Punker das gesammelte Blech der sozialistischen Leistungsgesellschaft.
Wer so den Staat und seine »Freie Deutsche Jugend« (FDJ) verhöhnt, landet schnell auf dem Revier. Verhör auf der Polizeiwache in Magdeburg:
»Was unterstehen Sie sich, solche Abzeichen zu tragen?«
»Die hab'' ich mal bei der FDJ gekriegt.«
»So verkommen, wie Sie herumlaufen, ist das eine Provokation, eine Verunglimpfung des Staates und des Jugendverbandes.«
Solche »Gespräche« mit Respektspersonen sind dem DDR-Jugendlichen vertraut. Wer von der Norm abweicht, gerät in die Mühle.
»Gespräche« kommen etwa auf Jugendliche zu, die einen Platz an der Erweiterten Oberschule, dem Gymnasium der DDR, haben wollen und sich nicht gleich freiwillig für drei Jahre Dienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) verpflichten. Gespräche mit Jugendoffizieren, Gespräche mit Lehrern, Gespräche mit der FDJ-Leitung der Schule, Gespräche mit dem Direktor, Gespräche mit allen zusammen. Beide Seiten wissen, daß solche Termine nicht der Wahrheitsfindung dienen, die Gesprächspartner tauschen nur vorgestanzte Argumente aus.
Jugendliche Nonkonformisten sehen sich obendrein mit einem neuen Problem konfrontiert. Früher drohte der Staat damit, ihnen die Karriere im Sozialismus zu versauen. Nun müssen viele damit rechnen, daß ihnen der Staat die Zukunft gar nicht mehr sichern kann: In der DDR, bisher von Mangel an Arbeitskräften geplagt, stehen die ersten Arbeitslosen auf den Fluren der Arbeitsämter bei den Stadtbezirksverwaltungen.
Ein Ost-Berliner Elektriker, der seit einem halben Jahr auf Stellensuche ist: »Bei uns im Fernsehen bringen sie manchmal so Reportagen aus dem Westen: Arbeitsamt morgens um achte, schlotter, frier, Thermoskanne. Und zum Reporter sagen sie dann: Ja, ich komme jetzt schon seit einem Jahr hierher. Daran mußte ich denken, wie ich neulich morgens um achte beim Arbeitsamt von meinem Stadtbezirk in der Reihe stand.«
Die Arbeitsämter haben neuerdings sogar an zwei statt, wie voriges Jahr, an
einem Tag in der Woche auf. Die »Arbeitssuchenden«, so der offizielle Begriff, erhalten acht Mark pro Tag an Unterstützung.
Zwar sind nach sozialistischem Arbeitsrecht Massenentlassungen nicht möglich. Doch Werktätige, die etwa wegen Suff am Arbeitsplatz früher Disziplinarstrafen erhielten, werden heute auch schon mal gefeuert. Und wer selber in der Hoffnung kündigt, er werde jederzeit einen neuen, ja besseren Job bekommen, der kann nun sein blaues Wunder erleben.
Die Schilder mit der Aufschrift »Wir stellen ein ...« die früher an fast jedem DDR-Betrieb aushingen, sind selten geworden. Kein Wunder: Im Stahlwerk Henningsdorf etwa sind Schmelzöfen erkaltet, weil die Rohstoffe fehlen. Und im Ost-Berliner Kabelwerk Oberspree mangelt es an Kupfer, viele Werktätige fegen seit Monaten nur noch die Hallen. In Henningsdorf wurde ein Einstellungsstopp vorläufig wieder aufgehoben. »Es sollte auf jeden Fall vermieden werden«, so ein Arbeiter, »daß es ein Gerede über Arbeitslosigkeit gibt.«
Intern redet man offener: Man müsse sich, so der Sekretär der Parteigruppe in der Redaktion einer Fachzeitschrift, wohl oder übel »darauf einstellen, so eine Art Arbeitssuchendenheer zu haben«.
Die theoretische Parteipresse aber behandelt das alles als Problem bei der Umsetzung von Arbeitskräften im Zuge der sozialistischen Rationalisierung. So sehen es auch nach wie vor die Wirtschaftsleiter: Sie müssen ja die eigentlich arbeitslosen Werktätigen von Abteilung zu Abteilung oder von Betrieb zu Betrieb verschieben.
Dennoch summieren sich die Einzelfälle zur sozialen Größe; Zahlen kursieren: In Schwerin sollen es 2000 Arbeitslose sein, in Ost-Berlin gar 30 000. Solche Schätzungen mögen übertrieben sein. Doch der Druck auf die Arbeitsplätze schlägt durch auf die Ausbildungssituation der Jugendlichen.
Polizeiwache in Ost-Berlin: Im Vernehmungszimmer sitzen sich unter dem gerahmten Porträt von Erich Honecker ein Punker und ein Polizist gegenüber. Der Beamte väterlich zu dem Photographen-Lehrling: »Menschenskind, seien Sie doch froh, daß Sie überhaupt noch eine Ausbildung bekommen. Die nächste Generation hat es da viel schwerer als ihr, das können Sie mir glauben.«
Junge Leute sehen ihre Chancen auf eine Bildungskarriere schwinden. »Die sind nicht mehr so wie noch vor ein paar Jahren«, hat eine Frau aus der Ost-Berliner kirchlichen Jugendarbeit beobachtet, »Abitur und so steht nicht mehr an erster Stelle. Sie haben wohl das Gefühl, daß es das alles nicht wert ist. Daß lebenslängliche Anpassung sich gar nicht lohnt.«
Das spüren auch die, die sich schon um einen Studienplatz beworben haben;
einer erzählt: »Ich habe ein sehr gutes Abitur und wollte Medizin studieren. Nachdem ich mich auch noch auf drei Jahre für die Armee verpflichtet hatte, dachte ich, jetzt ist alles klar. Wäre es ja früher auch gewesen. Jetzt bekomme ich zu hören, ich sei ja gesellschaftlich nicht besonders aktiv. Mit anderen Worten: Ohne Parteimitgliedschaft läuft das nicht mehr.«
Als Ausweichstudiengänge wurden dem verhinderten Mediziner Marxismus-Leninismus, Betriebswirtschaft oder eine Ingenieurschule angeboten. Wer früher unbedingt studieren wollte, konnte immer noch zu den Pädagogen gehen, wenn sonst gar nichts mehr lief. Auch dieser Notnagel aber ist nun ausverkauft.
Eine alte Logik kippt: Je höher die Wurst gehängt wurde, desto eifriger schnappten die Jugendlichen früher danach. Heute winken viele nur noch ab.
Sie möchten nicht so werden wie die Älteren, die sie als lebendige Beispiele vor Augen haben - den Bruder, der nun Lehrer ist und sich immer verdrücken muß, wenn West-Besuch kommt; die Freundin aus der kirchlichen Friedensgruppe, die sich unter Tränen vom Pastor verabschiedet: Sie habe jetzt einen Studienplatz, den wolle sie so gern, und in der Gruppe würde sie auch gern weiterarbeiten, aber es gehe eben nur eins von beidem.
Auch an den Eltern, besonders wenn sie im Sozialismus Erfolg hatten, mögen sich viele nicht mehr orientieren. Unter Punkern und Pazifisten in der DDR finden sich zahlreiche Söhne und Töchter hoher Funktionäre.
»Es sind Mumien«, kritisiert ein Diplomatensohn aus Potsdam, der zur Zeit als Fensterputzer arbeitet, seine Eltern. Und ein 19jähriger Punker sieht seine Karriere-Eltern so: »Das Spießbürgerliche hat mich angekotzt. Ich bin gegen das Deutschsein. Der Deutsche ist für mich ein Kleinbürger und ein Spießer von Natur aus. Mich stört dieses ganze Getue, diese Maske, die da ist, die keiner abnimmt.«
Die 22jährige Tochter eines hochgestellten SED-Funktionärs will nur noch raus: nach Paris, nach Rom, der Ausreiseantrag ist gestellt. Weil sie von ihrer Malerei nicht leben kann, jobbt sie drei Tage in der Woche bei einem alten Zahnarzt. Der gestreßte Vater tut ihr leid: »Leute wie er, die tatsächlich praktische Verantwortung haben, also nicht bloß Ideologie ablassen, sind die ärmsten Schweine. Sie kennen die Probleme und können doch nichts ändern. Wenn du ganz unten bist, tauchst du ab, und wenn du Nummer eins oder zwei bist, schwebst du drüber.«
Die junge Frau sagt es ohne Anteilnahme. Die Kaste, in der ihre Eltern leben, die Oberklasse der DDR, ist nicht ihre Welt. Seit Jahren schon bietet ihr das Milieu der privaten Kunstausstellungen und Debattierzirkel ein neues Zuhause, das sie in ihrer Familie nie gefunden hat: »Glaubst du vielleicht, ich weiß mehr als du, was die untereinander reden, was bei denen abläuft? Ich sah meinem Vater immer bloß an, wie entnervt er war, wenn er irgendwann fünf Stunden nach Dienstschluß in seinem Dienst-Volvo nach Hause gefahren wurde. Erzählt wurde nie was, Kommunikation kaputt - auch andersherum.«
Deshalb versuchen die verlorenen Kinder der Machtelite ihre kleinen Fluchten, entdecken Kunst und Philosophie, Kirche und Religion. Sie schlagen sich durch mit Jobs bei Privatbetrieben, bei der Kirche, als Friedhofsgärtner, Müllfahrer oder Putzfrau.
Auch diese Jugendlichen verkriechen sich, wie ihre Eltern, in Nischen der sozialistischen Gesellschaft. Doch während die Jungen auf diese Weise ein anderes Leben vorführen wollen, brauchen die Älteren ihre Nischen - das Wochenendhaus, das Familienleben, den Freundeskreis - um von den Strapazen ihrer öffentlichen Rolle auszuspannen.
Ganz entspannt im Hier und Jetzt der Arbeiter-und-Bauern-Republik lebt sich es auch, wenn man genug trinkt. Da hat die DDR bald Weltniveau erreicht - ähnlich wie bei Ehescheidung, Selbstmorden oder Umweltverschmutzung. Damit es in den Nischen schön gemütlich bleibt, greifen immer mehr Bürger zur Flasche.
Die Lage schilderte ein Infostand beim Dresdner Kirchentag im Juni: »In einer Stadt von 30 000 Einwohnern gibt es 600 ärztlich erfaßte Alkoholkranke (DDR-Durchschnittszahlen). Umgerechnet auf Dresden bedeutet das demnach 10 000! Die Dunkelziffer ist noch größer.«
Bei einer Befragung männlicher Jugendlicher zwischen 14 und 18 Jahren durch die »Arbeitsgemeinschaft für die Abwehr der Suchtgefahr« gab nur ein
Viertel an, überhaupt keinen Alkohol zu trinken. Knapp die Hälfte tankt den Stoff an jedem Wochenende. Am liebsten trinkt man in der Familie oder im Freundeskreis. Aber in den nach Feierabend entvölkerten Straßen von Rostock, Erfurt oder Halle ist das Problem nicht zu übersehen: Belebt werden die Bürgersteige dann meist nur noch von Angetrunkenen.
Die SED hat inzwischen Anti-Suff-Kampagnen gestartet, um den volkswirtschaftlichen Schaden einzudämmen. Die Psychiatrien in den staatlichen Krankenhäusern sind überfüllt. In den Nervenkliniken der Bezirke trifft man sich zur früher im Sozialismus verpönten Gruppentherapie nach westlichem Muster.
»Das sind die Kosten für diese ewige Schizophrenie, das ständige Doppelleben«, sagt ein bekannter Filmemacher, um gleich anschließend seine Gäste zu fragen: »Einen nehm'' wir doch noch?«
Wie diese Nischenmentalität funktioniert, hat die frühere Redakteurin des Ost-Berliner Kulturblatts »Sonntag«, Irene Böhme, _(Irene Böhme, »Die da drüben«. Rotbuch ) _(Verlag, Berlin; 126 Seiten; neun Mark. )
beschrieben. Mit »vier abgegriffenen Münzen« vergleicht sie die »sozialistischen Spielregeln": *___der graue Markt, auf dem privat ein großer Teil der ____materiellen Versorgung geregelt wird; *___der klassengerechte »Stammbaum«, der beim sozialen ____Aufstieg mitentscheidet; *___die von Partei und Volk hochgeschätzte »Bildung«, ____Vorbedingung für den Karrierestart; *___die vorzeigbare »Gesinnung«. Diese Normen waren einmal ____ein Fortschritt, waren überschaubare Instrumente gegen ____die Willkür des Stalinismus. Den aber kennen die Kids ____von heute nicht mehr aus eigener Erfahrung. Sie reiben ____sich an dem, was danach gewachsen ist, sie verachten ____"die Maske, die keiner abnimmt« - Kommunikation kaputt.
Die Erfahrung, sich in der Öffentlichkeit ewig maskieren zu müssen, ist ihnen allen gemeinsam - dem pazifistischen Schüler und dem rotzigen Punker, dem frommen Jung-Gemeindler und dem alternativen Töpfer, dem Liedermacher und dem subkulturellen Literaten.
Die Schule ist eine Maschine, die Politik ist eine Maschine und die Karriere auch. Wer sie richtig zu bedienen weiß, wer Irene Böhmes »abgegriffene Münzen« in die richtigen Schlitze steckt, der bekommt, was er braucht. Und manchmal einen ordentlichen Zuschlag. Lebenstüchtig ist, wer die realsozialistische Grundregel beherrscht: Sag dem Staat, was er hören will, und greif dir, was du kriegen kannst.
Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt für die unterschiedlichen Formen des Protests, für das Rumoren in der DDR-Jugend, dann ist es das Unbehagen an diesem Doppelleben.
Die FDJ verbreitet, in der 1982 erschienenen Broschüre »Aus erster Hand. Junge Leute in der DDR«, einen solchen Generationskonflikt gebe es nicht. Die SED-Jugendorganisation hat damit sogar, wenn auch unbeabsichtigt, recht: Die Verschiebung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen gibt mehr Zündstoff her als für einen _(Im August 1983, beim Punk-Konzert im ) _(Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. )
nur kurzlebigen Streit zwischen jung und alt.
Zwar ziehen die meisten Familien die Notbremse, seitdem die Kinder massenhaft die Termine der Christenjugend frequentieren, rücken verängstigte Mütter und saure Väter den Pfarrern und Gemeindearbeitern auf die Bude. »Seit mein Sohn zu Ihrer Jungen Gemeinde geht, Herr Pfarrer, hat er dauernd Ärger mit seinem Staatsbürgerkundelehrer«, klagt ein Vater. Und eine Mutter kündigt an: »Wenn das nicht aufhört mit Ihren Politabenden, verbiete ich meiner Bettina, weiter da hinzugehen.«
Doch was da rumort, treibt auch manchen Alten um: Das Unbehagen der Jungen steckt an, der Bazillus macht auch vor Schrankwänden nicht halt.
Ein Wohnzimmer in Weimar. Die erste Kiste Radeberger Pils ist schon leer, allmählich fallen die Meinungshüllen. Die Gastgeberin hat Sorgen. Ihr Mann, ein geachtetes und gutbezahltes Glied der Gesellschaft, sei verrückt geworden: »Zur Reservistenübung will er nicht einrücken, stellt euch mal vor, was das heißt!«
Vor zwei Jahren war er noch hingegangen, maulend zwar wie alle, aber doch selbstverständlich wie alle. Nun sitzt er auf dem Sofa und betrachtet milde lächelnd seine hysterische Frau und die erschrockene Freundesrunde. Ja, er denke da an so ein paar amerikanische Filme, da sei das beschrieben, wie ihm zumute sei: »Irgendwann sagt ein Mann ''nein''. Stellt sich gegen alle anderen und geht seinen Weg.«
Sicher, er könnte auch weitermachen wie bisher. Der Einkauf im Exquisit-Shop ist immer drin, er liebt sein Hobby, fährt zweimal pro Jahr »anständig in Urlaub«. Die Frau ergänzt: »Und jetzt haben sie ihm auch noch geflüstert, daß er bei der Reserveübung im Sommer einen ganz bequemen Job haben kann!«
Und nun das, ein Verweigerer in der Familie. Die Gastgeberin blickt sich hilfesuchend um: »Sagt ihr doch was, ist das nicht Wahnsinn?«
Vor einer Stunde hatte sie noch ganz anders geredet, als ein junger Pfarrer in der Runde für Veränderung in kleinen Schritten plädierte. Ein Onkel, so erzählte der Geistliche, habe sich in seinem Betrieb als überzeugter Christ standhaft geweigert, der Partei beizutreten, auch dem Druck des Kaderleiters habe er widerstanden. Die Kollegen hätten das schließlich geschluckt. Wenn bloß einer mal Haltung zeige, so der Pfarrer, dann könne das viel bewegen.
Dem Hausherrn hatte die Geschichte gefallen, die Gastgeberin aber hatte dem Theologen vorgehalten: »Woher du bloß deine ewige Geduld nimmst«, nein, das bringe sie nicht fertig, so könne gar nichts vorangehen.
Als es dann um ihren eigenen Mann, den Reservedienst-Verweigerer, geht, ist es vorbei mit den starken Worten.
Das ist es, was DDR-Jugendliche abstößt von der älteren Generation: das Nebeneinander von griesgrämiger Dauernörgelei im privaten Kreis und tadellosem Wohlverhalten in der Öffentlichkeit. Die Alten haben den Jungen wenig gegeben, worauf sie stolz sein könnten. Die in Westneid und Opportunismus erstickte Selbstachtung wollen sie sich jetzt zurückholen.
Die meisten, die sich öffentlich als Bürgerschreck, Umweltschützer oder Pazifisten, als Diener oder als junge Christen bekennen, bezeichnen sich demonstrativ als DDR-Bürger. West-Voyeure mögen sie nicht besonders, und außer Landes zu gehen empfinden sie meist als Schande - egal ob freiwillig oder gezwungen. Die aus Ost-Berlin, Jena und andernorts Ausgebürgerten, die jetzt in West-Berlin leben, fühlen sich als Exilanten und trauern zwar nicht ihrem Staat, wohl aber ihrem Land nach.
Die Ost-Berliner Rockgruppe »Pankow« antwortete auf die Frage, ob sie mit ihren rotzigen Texten wie »Komm aus dem Arsch« die Gleichaltrigen zum Aussteigen oder zum Einsteigen bewegen wolle, mit einer Umwertung dieser westlichen Begriffe: »Es gibt bei uns einen Hang vieler Leute, wie du sagst, auszusteigen. Aber nicht in dem Sinne, wie es im Westen ist: also nicht arbeiten gehen. Die Leute hier steigen aus, indem sie sich privatisieren, indem sie den Job machen, da sind, ihn erfüllen und dann nach Hause gehen, und dann geht ihre Welt los samt Fernseher und Freizeithobbys. Das hat auch seine Ursachen. Wir finden das unheimlich bedrückend, daß sich zu wenig Leute verantwortlich fühlen, wie sie leben, und Mut haben, gegen das, was sie stört, vorzugehen und einfach aktiver leben.«
Die Aussteiger - das sind all die Normalen.
Im nächsten Heft
Demonstrationen gegen Umweltverschmutzung und Beton - Künstler üben Kritik - Die Boheme von Ost-Berlin
Irene Böhme, »Die da drüben«. Rotbuch Verlag, Berlin; 126 Seiten;neun Mark.Im August 1983, beim Punk-Konzert im Ost-Berliner Bezirk PrenzlauerBerg.