BERLIN Wenn es regnet
Die Frage schien bestellt, so sehr paßte sie Herbert Wehner in den Kram.
Auf der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion am vergangenen Dienstag im Berliner Reichstag erkundigte sich der Abgeordnete Helimut Sieglerschmidt, ob Meldungen zuträfen, wonach der Fraktionsvorsitzende die Bundespräsenz in der alten Hauptstadt heftig kritisiert habe.
Endlich konnte Wehner nun auch vor den Genossen der Fraktion das loswerden, was er seit der Abreise des sowjetischen Staats- und Parteichefs Leonid Breschnew in Interviews und Statements bereits öffentlich gemacht hatte: seine große Sorge, die Bundesregierung könne durch demonstrative Akte das Viermächte-Abkommen so strapazieren, daß die deutsch-sowjetischen Beziehungen erneut belastet werden und die Lage Berlins sich verschlechtert. Berlin, so hämmerte der Genosse nun auch den Abgeordneten jenen Satz aus dem Abkommen ein, »ist kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik«.
Deshalb habe die Bundesregierung auch die Pflicht, jeden Anschein zu vermeiden, sie betrachte West-Berlin als elftes Bundesland. In Anspielung an die Errichtung des Umweltbundesamtes, die 1974 zu schweren Verstimmungen mit Moskau führte, raunzte Wehner: »Ich halte nichts von neuen Messingschildern in Berlin.«
Aber auch die Einbeziehung Berlins in die Wahlen zum Europa-Parlament, in das die Teilstadt drei vom Abgeordnetenhaus bestimmte Vertreter entsenden soll, hält Wehner für problematisch.
Und besonders belastend für das deutsch-sowjetische Verhältnis erscheint ihm die für November turnusgemäß anstehende Wahl des Regierenden Bürgermeisters Dietrich Stobbe zum Bundesrats-Präsidenten: »Wenn es demnächst hier regnet und Unwetter losbrechen, dann soll man nicht so tun, als hätte man das nicht voraussehen können.«
Mit offizieller Verwunderung weisen Kanzleramt, Außenministerium und Stobbe die Mahnungen des SPD-Alten als unbegründet zurück: Neue Bundesbehörden ständen überhaupt nicht zur Debatte, und die Konfliktpunkte Bundesrat und Europa seien sowohl in der Vierergruppe mit den westlichen Alliierten als auch in Gesprächen mit dem Bonn-Besucher Leonid Breschnew erörtert worden. Die Alliierten seien einverstanden, und mit den Sowjets werde es wohl »noch einiges Geräusch geben« (ein Kanzlerberater), aber keine schwerwiegenden Verstimmungen.
Zum Beleg führen die Wehner-Kritiker an, die Sitzung der SPD-Fraktion in Berlin mit dem Bundeskanzler einen Tag nach dem Breschnew-Abschied sei ohne Moskauer Protestecho geblieben, weil sie dem sowjetischen Gast zuvor als Routine-Angelegenheit erläutert worden war.
Den Grund für Wehners überraschende Ausfälle sehen führende Sozialdemokraten in der latenten Sorge ihres Fraktionschefs, der FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher könnte das beim Breschnew-Besuch erreichte milde Klima schon bald wieder mit starken Worten und überzogener Auslegung des Viermächte-Abkommens beeinträchtigen.
Der Fraktionschef fürchtet, daß der Liberale schon bald wieder jene Melodie spielen möchte, von der ihn erst der Bundeskanzler unmittelbar vor Breschnews Eintreffen in Bonn abgebracht hatte -- daß nämlich das Verhalten der Sowjets gegenüber West-Berlin der alleinige und der entscheidende »Störfaktor« (AA-Jargon) in den deutsch-sowjetischen Beziehungen sei.
Sein Mißtrauen begründete Wehner letzte Woche in Berlin mit dem Hinweis auf Genschers Gebaren, als Anfang 1976 der Breschnew-Besuch zum ersten Mal avisiert worden war. Damals hatte der Außenminister seinen Ministerialdirektor Günther van Weil jene »Störfaktor«-These entwickeln lassen, die prompt zu Differenzen zwischen Bonn und Moskau führte.
Im Dezember 1976, so Wehner, habe Genscher einen Rückzieher gemacht: Da sei »im engsten Koalitionskreis« propagiert worden, Berlin nicht zum Erfolgsmesser einer Breschnew-Visite zu machen. Wehner: »Ich habe das damals mit Interesse und wohlgefällig angehört.« Nachdem aber jetzt, im Vorfeld des Breschnew-Besuchs, das Van-Well-Stück wieder aufgeführt wurde, hielt Wehner offenbar eine neue Genscher-Vermahnung für nötig. Ein SPD-Bundesminister: »Wehners Mahnungen gehen nicht in Richtung Sowjets, sondern er will jetzt die Kalten Krieger bei uns als Vertragsbrecher darstellen, und damit meint er auch den Genscher; hier liegt ein großer Koalitionskrach in der Luft.«
Der Krach könnte sich am leichtesten an der unterschiedlichen Einschätzung jener deutsch-sowjetischen Abkommen entzünden, die wegen Berlin seit Jahren auf Eis liegen. Während das sozialdemokratisch regierte Kanzleramt nur eine Erfolgschance sieht, wenn zuvor das deutsch-sowietische Verhältnis stabilisiert wird. möchte das FDP-geführte Auswärtige Amt die Qualität der Beziehungen zu Moskau am liebsten von der vorherigen Unterzeichnung der Verträge abhängig machen.
In der Tat würden die Sowjets erst mit ihrer Unterschrift zu erkennen geben, daß sie die Bindungen Berlins an den Bund in der Praxis akzeptieren. Das bereits beim ersten Breschnew-Besuch in Bonn 1973 abgezeichnete Kulturabkommen etwa funktioniert deshalb nicht, weil Moskau sich weigert, einer Programmvereinbarung zuzustimmen, in deren Rahmen sowjetische Ensembles bei einer Tournee sowohl in der Bundesrepublik als auch in West-Berlin auftreten könnten.
Beim Abkommen über technischwissenschaftliche Zusammenarbeit sperren sich die Sowjets, Repräsentanten der in Berlin residierenden Bundesbehörden als Vertreter der Bundesrepublik anzuerkennen. Bei der Rechtshilfe wollen sie nicht zulassen, daß West-Berlin durch Bundesbehörden, etwa das Bundesjustizministerium, vertreten wird. Sie verlangen, daß in West-Berliner Angelegenheiten die West-Berliner Justizbehörden sich unmittelbar mit Moskau in Verbindung setzen.
Im Verkehrsabkommen ist die Einbeziehung West-Berlins zu Wasser, zu Erde und zu Luft umstritten. Bei den Wasserstraßen etwa reklamieren die Sowjets Hoheitsrechte für die DDR. Für die West-Berliner Straßen und die Straßen nach West-Berlin wollen sie eine Zuständigkeit Bonns erst recht nicht einsehen.
Und auch beim jüngsten Wirtschaftsabkommen, das samt Berlin-Klausel vorletzte Woche beim Breschnew-Besuch unterzeichnet wurde, liegen die Dinge nur scheinbar unkomplizierter. Zwar heißt es dort in Artikel 7: »Entsprechend dem Viermächte-Abkommen vom 3. September 1971 wird dieses Abkommen in Übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren auf Berlin (West) ausgedehnt.«
Doch dies muß nichts bedeuten. Auch in die bisherigen Wirtschaftsvereinbarungen war Berlin mit eingeschlossen, trotzdem blieben die West-Berliner Unternehmen bei deutschsowjetischen Großgeschäften meist außen vor.
Bei Herbert Wehner und seinen Gefolgsleuten festigt sich der Eindruck, daß Genscher unter Hinweis auf die unausgeräumten Querelen versucht, seine Eigenständigkeit gegenüber dem Koalitionspartner SPD und möglicherweise gar eine Öffnung hin zur Union durch eine harte Deutschland- und Berlin-Position nachzuweisen; zumal auf anderen Profil-Feldern, etwa in der Wirtschaftspolitik. seit dem Amtsantritt von Otto Graf Lambsdorff viele frühere, ideologisch befrachtete Konfliktpunkte, wie sie Lambsdorff-Vorgänger Hans Friderichs oft genug ins Koalitionsspiel gebracht hatte, ausgeräumt sind.
Gerade deshalb schien es Wehner offensichtlich geboten, den Spielraum der Liberalen in der heiklen Berlin-Frage auch für die Zukunft einzuengen und für eventuelle Störungen bereits vorab den Schuldigen auszumachen. Kaum hatte Breschnew am vorletzten Sonntag Helmut Schmidts Heim in Hamburg-Langenhorn verlassen, startete der Sozialdemokrat mit einem Interview die konfliktträchtige Kampagne. Wehner noch am selben Nachmittag im ZDF: »Statt fortgesetzt von Berlin zu reden, sollten wir das tun, was das Viermächte-Abkommen möglich macht.«
Was seiner Meinung nach vielleicht möglich, in jedem Fall aber unnötig ist, enthüllte er vergangene Woche in Berlin -die anstehende Wahl Dietrich Stobbes zum Bundesratspräses. Wehner: »Ich bedaure, daß der Turnus so ist. Das ist eine Sache, die ich nicht ändern kann, die andere nicht ändern können oder nicht wollen.«
Zu denen, die nichts ändern wollen, gehören nicht nur AA-Chef Genscher, sondern auch Kanzler Helmut Schmidt und der Regierende Bürgermeister. Deren Haltung erläuterte ein AA-Mitarbeiter bündig: »Das ist gewachsene Politik, daran können wir doch nichts drehen.«
Der Berliner Stobbe ließ an der einmütigen Absicht keinerlei Zweifel aufkommen und erklärte vor Wehner und der Fraktion, er habe sich bereits festgelegt und beabsichtige, das Amt anzutreten. Dem Fraktionschef blieb da nichts als die Warnung, dann möge man aber wenigstens den Bundesratspräsidenten Stobbe nicht ohne Not als Stellvertreter des Bundespräsidenten tätig werden lassen, was nach dem Grundgesetz zulässig ist.
Wehners kategorischer Imperativ: »Die Grenze der Empfindlichkeit besteht darin, daß wir uns auch mit gutem Gewissen morgen vor dem Rasierspiegel sagen können, von uns aus ist nichts getan worden, was das Viermächte-Abkommen verletzt.«