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Martin Morlock WENN MAN FREUNDE HAT

aus DER SPIEGEL 18/1964

Sechs Tore hat er federnd durchschritten, zwei Höfe lässig überquert, nun ist er in wirtlicheren Gefilden; frisch rasiert, froh gelaunt, nicht im mindesten außer Atem. Denn er, Hans-Walter Zech -Nenntwich, 47, einst reitender SS -Obersturmführer, er kennt das ja. Damals, im April 1943, war's ein Gestapo-Gefängnis in Warschau, diesmal, im April 1964, das Untersuchungsgefängnis in Braunschweig. Gitter ist Gitter.

Der Wärter Zeemann habe ihn herausgelassen, jammert die Staatsanwaltschaft. Natürlich. Einer mußte die sechs Schlösser doch aufsperren. Mit Charterflugzeug und falschen Papieren allein geht's nun mal nicht, wenn jemand zu vier Jahren »Z« wegen Beihilfe zum mehrfachen Mord verknackt ist. Auch nicht in Braunschweig.

Wer aber stand dahinter? Wer traf die Vorkehrungen, verauslagte die Spesen, ließ Sachverstand und Umsicht walten?

Damit die Vollzugsbehörden nicht nutzlos im dunkeln tappen, möchte ich in Folgendem die wichtigsten Personen und Personengruppen aufführen, die Zech-Nenntwich zur Flucht verholfen haben könnten; der besseren Übersicht halber unterteilt in solche, denen ein uneigennütziges Motiv - in Militärprozessen »falsch verstandene Kameraderie« genannt - zu unterstellen wäre, und in solche, bei denen man Selbstsucht, zumindest Wahrung berechtigter Interessen vermuten darf. Zu der ersten Spezies zählen: Die Andernacher Zylinderschleifer, weil sie ihren neuen Chef nicht schon wieder verlieren wollten. (Nenntwich hat den Betrieb kurz vor seiner Verhaftung erworben.)

Die Juden. Nenntwich will bei der Sicherung eines Transports jüdischer Polenkinder seinen SS-Vorgesetzten den Gehorsam verweigert haben.

Die Polen. Nenntwich verkaufte ihren Widerständlern Waffen.

Die Schweden. Als er 1943 bei ihnen Asylrecht genoß, könnte er sich den einen oder anderen Freund fürs Leben erworben haben.

Der britische Seeret Service. In dessen Auftrag überwachte Nenntwich Agenten in englischen Kriegsgefangenenlagern.

Der Journalist Sefton Delmer, bei dessen Spezialabteilung M.B. (Milton Bryan) er am Ätherkrieg gegen Hitler teilnahm.

Jene »SS-Widerstandsgruppe«, die Nenntwich vorgibt, zusammen mit Eva-Braun-Schwager Fegelein ins Leben gerufen zu haben.

Die Armee Ihrer Britischen Majestät, die ihn als Vernehmungsoffizier nach Deutschland schickte.

Staatssekretär a.D. Hans Globke, den er am Telephon mit Vornamen anredete.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie, der sich dem Industriellen Nenntwich möglicherweise verbunden fühlte.

Der Deutsche Journalisten-Verband. Nenntwich frequentierte einige Zeit das Zimmer 29a im Bonner Pressehaus V.

Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, als deren Legationsrat 1. Klasse er einer Paßstelle vorstand und für gute Beziehungen zur britischen Militärregierung sorgte.

Schließlich: Jene unbekannte Dame, deren Vergewaltigung zufolge Zech-Nenntwich - so hieß es - ins Warschauer Gefängnis mußte und die sich inzwischen dazu durchgerungen haben könnte, den schlimmen Vorfall als liebe Jugenderinnerung zu werten.

Zum eigennützigen Kreis der Verdächtigten gehören:

Konrad Adenauer. Ihm hatte Nenntwich lange und ausführlich über die Exiltätigkeit sozialdemokratischer Emigranten berichtet, und der Altkanzler hat diesen Nachrichtenquell so kurz vor der Bundestagswahl wohl nicht wollen versiegen lassen.

Der Militärische Abschirmdienst (MAD). Gründe gewichtig, aber unbekannt.

Der Bundesnachrichtendienst (BND). Siehe unter MAD.

Walter Ulbricht. In Ostberlin hatte sich Nenntwich einst um den Posten eines Offiziers der Volkspolizei beworben.

Bundesaußenminister Schröder. Nenntwich behauptete, von ihm derart intime Dinge zu wissen, daß es ihm ein leichtes gewesen wäre, schon Schröders Ernennung zum Innenminister zu verhindern. Überdies, sagt er, gebe es zwischen ihm und dem Minister ein Stillschweige-Abkommen.

Endlich: Franz-Josef Strauß. Vielleicht hält er den Befreiten in Rott am Inn versteckt, um herauszukriegen, was Nenntwich über Schröder weiß.

Da heißt es immer, der deutsche Strafvollzug liege im argen, die Untersuchungshaft entbehre der Zweckmäßigkeit oder gar der Humanität, und was der leichtfertigen Anwürfe mehr sind.

Dabei ist es doch alles halb so schlimm - wenn man die richtigen Freunde hat.

Zech-Nenntwich

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