»Wenn man mir geglaubt hätte«
Er redet so selten vom Strick, als fühle er sich wie im Hause des Gehenkten. Dabei ist er im Wahlkampf und hätte nicht nur Verwendung, sondern auch Vorwand, sein Leitmotiv -- das trotzige Thema vom Unterschied zwischen recht haben und recht bekommen -- ebenso aktuell wie aggressiv zu intonieren.
Aber Franz Josef Strauß, als Wahlhelfer seines Freundes Filbinger unterwegs in Baden-Württemberg, erwähnt »das Täuschungsmanöver um die Polen-Verträge« in seinen Reden nur ganz am Rande -als »Musterbeispiel dafür, mit welcher Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit und zum Teil auch Unehrlichkeit in Bonn Außenpolitik gemacht wird«. Und dies obwohl ihm nun in Bonn wie in Warschau unaufgefordert bestätigt worden ist, daß die (für das geschlossene CDU-Ja im Bundesrat ursächlichen) Nachbesserungen zu den Polen-Vereinbarungen weder vertragsändernd noch völkerrechtlich verbindlich seien.
Die Steilvorlage, die ihm Egon Bahr zeitgenau zum Wahlkampf-Einsatz auf der »Südschiene« serviert hat ("Franz Josef Strauß hatte recht mit seinem Zweifel, ob sich daraus eine völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung ergibt"), nutzt er mitnichten zum Schuß auf die Koalition; er läßt den Ball einfach vorbei. Bahrs Bombe kommt bei dem Wahlkampfredner Strauß genausowenig vor wie Genschers Gegenmeinung.
Ist er groggy, der Muhammad aus München, seit das CDU-Tandem Albrecht-Kohl ihn (auf der »Nordschiene") überfahren hat; seit selbst die eigene CSU dem unsicheren Ja-Sager Goppel lauthals applaudiert und den starken Strauß auf seinem Nein sitzengelassen hat? Oder hält er sich »mit großer Willenskraft und Selbstüberwindung« zurück, wie der Interpretationsartist Herbert Kremp in der »Welt« geweissagt hat, weil er besser begreift als andere, daß sich in diesem Streit um die Außenpolitik nicht die CDU der FDP, sondern in Wahrheit (also »in den tatsächlichen politischen Inhalten") die FDP »der CSU angenähert« hat?
Dem Augenschein jedenfalls stellt sich ein Sechziger dar, dem nicht nur der selbstwertbestätigende Spaß am puren »recht haben« allmählich abhanden kommt, sondern sogar die Freude am heftigen Dreinschlagen. Er mag gemerkt haben, daß er auf die große Masse seines (ebenfalls Selbstbestätigung suchenden) Publikums meist nur noch wie ein Katalysator wirkt, der aggressive Reaktionen in Gang setzt, und eben nicht wie eine wegweisende Führerfigur. Solche Erkenntnis aber müßte selbst einen Helden müde machen.
Sechzig Jahre und ein bißchen weiser? Soll sein. Aber ob er mit sechzig noch Träume hat? Es darf gezweifelt werden.
Vollere Säle als andere Wahlkämpfer hat Strauß allemal. (Die fünftausend Menschen fassende Winzerhalle im badischen Auggen zum Beispiel wollen Einheimische nur einmal annähernd so überfüllt gesehen haben: bei einem Tanzturnier der S-Klasse mit Max Greger.) Aber wo er vordem eine explosive Mischung aus Kabarett und Kassandra dargeboten hat, da betritt er die Szene heute eher wie ein maroder Prinz Karneval ohne Garde und ohne Maß.
Und die Bonbons, die er dann doch in die johlende Menge wirft, schmecken ziemlich bitter: Eppler ein Mann von »moroser Verdrossenheit«; Brandt im »Talmi-Glanz eines Reserve-Messias«; Schmidt, der schon »kurz nach seiner Geburt vollkommen« war und »nie mehr was dazugelernt« hat.
Natürlich ist Franz Josef Strauß noch immer ein brillanter Demagoge, ein Heavy-Duty-Rhetoriker sondersgleichen, ein quadrophoner Polemiker. Aber da kommt jetzt nicht nur Nadelgeräusch durch, sondern einfach die alte Leier, repetitio ad infinitum: Es wäre nie soweit gekommen mit der Inflation und der Arbeitslosigkeit, »wenn man mir geglaubt hätte«. Als ob ihn immerfort jemand zur Rechenschaft zöge.
In jeder Versammlung verbeißt er sich, ein furioser Fachmann, in sein volkswirtschaftliches Kolleg (während die Leute geduldig auf den nächsten Gag warten); schlägt Input und Output vehement ins Netz der allgemeinen Verständnislosigkeit und bedauert zwischendurch, daß »unsere Bevölkerung mehr mit Kitsch und schlechtem Feuilleton gefüttert wird als mit harter politischer Information«.
Sein Orientierungsrahmen aber ist und bleibt: der drohende Untergang, »die Dekomposition der Europäischen Gemeinschaft, die Erosion der Atlantischen Allianz und der strategische Sieg Moskaus« -- aufzuhalten nur dann, wenn die Bundesrepublik wieder zu einem »Stabilisationskern für Europa« wird. Und das heißt für Strauß natürlich, daß die »Sozialdemokraten mit ihrem harten sozialistischen Kern« weg müssen von der Macht, an der sie sich ohnehin nur halten können, solange »sie die Wählerschaft über ihre wirklichen Ziele hinwegtäuschen«.
So einfach ist das: »Die einen brauchen die Unwahrheit, um sich behaupten zu können, und wir müssen die Wahrheit durchsetzen, um wieder an die Verantwortung zu kommen.«
So einfach nun wieder nicht. Denn wo ist noch Wahrheit, wenn selbst im eigenen Lager, in der Union, nicht einmal »das Täuschungsmanöver um die Polen-Verträge« erkannt, sondern am Ende sogar mit einem geschlossenen Ja honoriert wird -- ohne Rücksicht auf den, der (siehe Egon Bahr) doch »recht hat«.
Aber das sagt der Wahlkämpfer Franz Josef Strauß natürlich nicht. Da schweigt er dann lieber.