Zur Ausgabe
Artikel 6 / 109

»Wenn wir gehen, hauen die ab«

aus DER SPIEGEL 42/1991

Die drei deutschen Jungen, die vor der alten Kirche von Hünxe Fußball spielen, können einem schon leid tun. So schön sie auch flanken und schießen, immer läuft ein kleiner schwarzgelockter Zwerg in die Bahn, nimmt den Ball mit den Händen auf oder tritt dem Torwart entschlossen in die Waden.

Da sich die drei nicht stören lassen, greift Mohammed, so heißt der vierjährige Störer, in eine Tüte mit Kartoffelchips, kaut sie gut durch und beginnt, die Fußballspieler mit dem Brei zu bespucken.

Nun wäre es eigentlich höchste Zeit, dem Kleinen was an die Ohren zu geben, aber die drei, alle mehr als doppelt so groß, flüchten fluchend vor Mohammed, der ihnen auch noch eines der wenigen deutschen Wörter hinterherschreit, die er schon kann: »Kacker!«

Die Jugendlichen wissen, sie können dem Monster mit den leuchtenden Augen nichts tun. Sie haben Mohammed Saado vor sich, Mitglied der prominentesten Asylantenfamilie Deutschlands. Mohammeds sechsjährige Schwester Mokadas liegt in den Städtischen Kliniken Duisburg und die achtjährige Seinab im Hamburger Wilhelmstift. Beide sind bei einem Brandanschlag von drei Rechtsradikalen so entstellt worden, daß die Ruhe, mit der die deutsche Öffentlichkeit der Angriffswelle gegen Asylantenheime bisher zuschaute, gestört wurde.

Nicht nur die libanesische Familie Saado, auch die anderen 250 Asylanten von Hünxe erleben seither seltsame Dinge. Wildfremde Deutsche stehen die ganze Nacht vor ihrem Heim; im Supermarkt sollen sie an der Kasse plötzlich nicht mehr die Einkaufstasche öffnen; Mohammed und andere Nachwuchs-Asylanten werden auf offener Straße gegrüßt wie Königskinder; _(* Mit dem Haarschopf der Saado-Tochter ) _(Seinab. ) und die große Zeitung, die sie und ihresgleichen wahlweise »Asylschwindler«, »Spreu« oder »Flut« nennt, rennt nun hinter ihnen her, um Familienbilder zu erbetteln.

»Herr Pfarrer, hier kommt überall Sicherheitsglas rein«, sagt Hermann Hansen beifallheischend. In der Stimme des Gemeindedirektors von Hünxe liegt die reuige Zuversicht eines Sünders, der im Beichtstuhl Besserung verspricht.

Hansen, im zweireihigen Boss-Anzug, steht in den Brandtrümmern jenes Raumes, in dem die Kinder Seinab, Mokadas und Mohammed schliefen, und blickt durch das zerbrochene verkohlte Fenster auf den Pfarrer der Gemeinde. Der soll die Asylanten überzeugen, um Gottes willen im Ort zu bleiben. »Hünxe darf nicht asylantenfrei werden.«

Der Gemeindedirektor befürchtet, daß sein Dorf als Hort des Schreckens berühmt bleibt. Dabei hat die Gemeinde doch gerade 66 Hektar zur Industrieansiedlung fertig.

Eine jugoslawische Familie will nach Duisburg umziehen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlt. »Jetzt hier alles sicher«, sagt Hansen fest und blickt zu dem jugoslawischen Familienvater auf. Der wiegt skeptisch den Kopf. »Nacht?« - »Nacht auch sicher. Die kommen nicht wieder, gehen woandershin.«

Der Jugoslawe scheint nicht überzeugt, nützt aber die einmalige Gelegenheit, um dem Gemeindedirektor beizubringen, daß seine Heimnachbarn, die Polen, zu oft Besuch bekämen und nachts so laut seien.

Gemeindepfarrer Martin Duscha, 38, lauscht dem Werben des Gemeindedirektors mit mildem Lächeln. Seine Kirche bemüht sich seit zwei Jahren um die Asylanten, hilft ihnen bei ihrem Ringen mit der Dorfbürokratie: Die Zimmer waren feucht und voller Schimmel; Arbeitsgenehmigungen wurden verweigert; das Sicherheitsglas war zu teuer - in Hünxe ging es den Asylsuchenden nicht besser als überall in Deutschland.

Drei Tage vor dem Anschlag hatte der Gemeinderat - ohne die Stimmen der Grünen - einen mutigen Beschluß gegen diejenigen gefaßt, »die unberechtigterweise mißbräuchlich mit vorgeschobenen Asylgründen unseren Staat belasten«. Damit sei man den Asylanten »in den Rücken gefallen«, kritisiert der Pfarrer, und auch all den Bürgern, die sich um das Miteinander von Deutschen und Fremden bemühen.

Bis zum Attentat waren es 8 von 13 000 Hünxern, die sich wöchentlich in der Kirche mit den Ausländern trafen, sicher eine Spitzenquote unter deutschen Dörfern. Nach dem Sündenfall sind 70 Dorfbewohner zum gemeinsamen Friedensgebet gekommen; die Ausländer aber blieben verstört in ihrem angesengten Heim.

Singend, betend und diskutierend versuchen sich die Deutschen den Abwesenden zu nähern, die Frage zu klären, warum alles Fremde dem Menschen, und vielleicht besonders dem deutschen Menschen, so fremd ist.

»Mein kleiner Sohn Daniel kam eines Tages nach Hause«, erzählt eine Hausfrau, »und klagte: ,Mami, die Asylanten machen sich breit. Überall, wo wir hingehen, sind sie schon da.''«

Sie habe erschrocken überlegt, sagt die Frau, und ihm geantwortet, sie sei auch ein Flüchtling, sie komme aus Schlesien. Ob er wolle, daß sie dorthin zurückkehre?

Die aufsteigenden Tränen ersticken ihre Worte. Nur das leise Quietschen eines schaukelnden Kinderwagens erfüllt die Kirche. Eine Querflöte hebt an.

»Wenn unsere Tränen rückwärts fließen, dann bleiben wir hier«, singt die Gemeinde zaghaft, »dann bleiben wir hier, weil sich das Land gewandelt hat.« Nur der Pfarrer singt laut. In den hinteren Reihen blicken die Murmelnden auf Hakenkreuze hinab, die gelangweilte Konfirmanden in die Bänke geritzt haben.

Aus dem Libanon, aus Polen, Rumänien, China und Sri Lanka sind die Fremden von Hünxe geflohen. Ihr Heim steht mitten zwischen rotgeklinkerten Eigenheimen und flachen Jägerzäunchen, sorgsam bewacht von Nachbarn, die ihre Häuser fluchtartig verlassen hätten, wenn sie ihnen nicht gehören würden.

»Multikulturell« ist für sie nach acht Jahren Zwangsinternationalismus das entsetzlichste Wort der Welt, Pizza hin oder her.

Trotzig und stumm passieren sie die Deutschen, die nun jede Nacht vor dem Heim in Stellung gehen. »Ich weiß, was der denkt«, sagt Werner Bongert und zeigt auf das weißbraune Häuschen gegenüber. »Der muß gar nichts sagen.«

Bongert, 57, in der dritten Generation Hünxer, kennt jeden im Dorf. Die vier Nächte nach dem Anschlag hat er durchgestanden, im Rücken die stinkenden Brandreste, im Angesicht das Haus des Nachbarn, das aus vier dunklen Fenstern herüberstarrt. Seither kommt Bongert jeden Abend vorbei.

Er schäme sich, sagt er knapp, darum stehe er hier. »Daß die Leute in Hünxe sind, dafür können wir nichts« - er zeigt hinter sich auf das Heim -, »aber wir müssen sie anständig behandeln.«

Mit »anständig behandeln« meint er: »Nicht die Bude anzünden.« Vor dem Brand ist er den Fremdlingen nicht um den Hals gefallen, und auch jetzt erdrückt er sie nicht vor Nächstenliebe. Er redet nicht mit ihnen. Er redet überhaupt nicht viel. Er trinkt den Tee, den die libanesische Familie gekocht hat, und schaut der Skatrunde zu, die sich an dem langen Gartentisch formiert hat.

Die Umsichtigkeit deutscher Campingfreunde hat den Platz vor dem Heim in eine gemütliche Laube verwandelt. Gasflasche, Holzbank und Thermoskanne verführen nicht wenige Einheimische, ihre Nächte vor dem Haus der Ausländer zu verbringen. Sie vermitteln den Eindruck, als würde hier ein Volk nachsitzen.

Etwas abseits im Campingstuhl wacht stets ein Abgesandter der Asylanten. »Der paßt auf, daß wir aufpassen«, sagt Werner Bongert. »Die liegen mit Schuhen in den Betten. Sobald wir gehen, hauen die ab.«

Das Gefühl, für die Sicherheit der ungebetenen Dorfgäste verantwortlich zu sein, bringt zumindest eine Handvoll Hünxer um den Schlaf. Ihr Beispiel hat zunächst in der näheren Umgebung, dann in Nordrhein-Westfalen und auch anderswo Nachahmer gefunden. Wenn Hoyerswerda der Gipfel des Hasses war, könnte Hünxe das Ende der Gleichgültigkeit sein.

Die Polizisten, die alle drei Stunden an der Bürgerwache vorbeifahren, bekommen zu spüren, daß ihre Arbeit nun andere machen. Die neuen Ordnungshüter reichen gern mal einen Kaffee in den Streifenwagen, aber nicht ohne Spott. Ob es angesichts der Personalnot nicht ratsam sei, an den gefährlichen Punkten von Hünxe Streifenwagenattrappen aus Gummi zu postieren?

Als in der vierten Nacht endlich auch der Bürgermeister von Hünxe auf ein Stündchen vorbeischaut, schlägt ihm der Hohn der Nachtwächter entgegen. Reinhold Peters, 56, ist das personifizierte Machtvakuum. »Niemand konnte das Attentat auf Kennedy verhindern«, antwortet er den Bürgern, die ihm vorwurfsvoll kommen. Gegen Taten von »fanatischen Verbrechern« sei jeder Staat machtlos, und dabei weiß sich Peters einig mit dem Bundeskriminalamt, das gegen den rechten Terror lediglich »Sympathie mit den Opfern« empfahl.

Bürgermeister Peters hat ein Herz für die Asylanten. Das hier sei deshalb kein Asylantenheim, das seien Appartements für politisch Verfolgte. Allerdings nicht für Wirtschaftsflüchtlinge, die ja eigentlich Hungerflüchtlinge seien, aber Hünxe könne nicht alle 160 Millionen Hungernden dieser Welt beherbergen. »Im Interesse der politisch Verfolgten« dürfe die Gemeinde nur noch »anerkannte Asylanten« aufnehmen - alle jetzigen Bewohner der »Appartements« sind nicht anerkannt.

Ein roter Passat braust vorbei, auffallend schnell, denn die meisten Autos verlangsamen pietätvoll, wenn sie den Tatort passieren. »Hier muß noch viel mehr brennen«, kreischt eine Jungenstimme aus dem Fond. Der Passat verschwindet in der Nacht, bevor Werner Bongert die Nummer erkennen kann.

Einige der wachenden Bürger drängen den Bürgermeister, die »Honigkirmes« am nächsten Wochenende abzusagen, ein traditionelles Schlachtfest zwischen deutschen Skinheads und türkischen Gangs aus dem Umkreis. Reinhold Peters schmunzelt siegessicher wie Helmut Kohl nach einer verlorenen Landtagswahl. Lächerlich, man dürfe doch vor ein paar Verrückten nicht kapitulieren.

»Hünxe ist ausländerfreundlich«, sagt der Bürgermeister trotzig. Hünxe ist sicher. Hünxe ist älter als Berlin. Hünxe ist 70mal größer als Monaco. Hünxe hat 200 Kilometer Straßennetz. Hünxe hat 54 Vereine. Hünxe ist zu 90 Prozent grün. Hünxe ist ruhig. Hünxe ist nicht rechtsradikal. Dieses Attentat - »das hat Hünxe nicht verdient«. Das hat Deutschland nicht verdient.

Wer in Hünxe, diesem deutschen Musterdorf, nach neonazistischen Auffälligkeiten sucht, wird nicht mehr und nicht weniger zusammenkratzen als in Osterholz-Scharmbeck, Geislingen oder Pfarrkirchen. Das ist das Schlimme.

»Hünxe ist kein Sonderfall«, beruhigt der Bürgermeister seine Gemeinde. »Seither gab es über hundert neue Anschläge.«

Die Fackeln der Nachtwache werfen ein unruhiges Licht auf den Giebel des Nachbarhauses. Zwei Scheinasylantenkinder üben vor einer Gaslampe Schattenspiele. Hund, Hase, Krokodil, Nazigruß. Sie kichern.

Nur noch wenige Hünxer stehen beieinander. Kalter Nebel zieht unter die Mäntel und treibt die Beschützer der Verfolgten ins Bett.

Ein älterer Jugoslawe mit Schnauzbart spricht Werner Bongert an, zeigt auf seine Lammfelljacke. Doch die wenigen Deutschbrocken reichen nicht. Auch für seinen Sohn wolle der Mann eine Lammfelljacke, versteht Bongert schließlich. Des Deutschen Gesicht verfinstert sich und nimmt den Ausdruck an, den man gemeinhin bettelnden Zigeunerkindern schenkt.

Der Jugoslawe, vor den Kriegswirren geflüchtet, merkt, daß seine Botschaft falsch angekommen sein muß, und läßt nicht locker, bis dieser Deutsche begreift: Ein Junge aus der Nachbarschaft hat ihm, dem Mann aus dem warmen Süden, heute diese schöne Jacke gebracht, und sie ist wunderbar warm.

Je dunkler die Nacht wird, desto tiefer versinken die Wächter wider den Haß in ihre düsteren Gedanken. Sie stehen im Kreis, ohne miteinander zu reden. Was sie bewegt, verraten die kleinen Dorfgeschichten, die sie sich zuwerfen wie Märchenerzähler.

Die einzige Asylantin, die Arbeit gefunden habe im Dorf, als Putzfrau im Geschäft für Damenoberbekleidung, will der Besitzer nun wieder entlassen. Er befürchtet zertrümmerte Fensterscheiben.

Schweigen.

Das Schleifen der Narben nach Hautverpflanzungen tue scheußlich weh, sagt eine Rentnerin.

Schweigen.

Sie habe neulich gesehen, erzählt die Lehrersfrau, wie eine Gruppe von Skinheads einen Türken zusammengeschlagen habe. Sie habe nicht eingegriffen.

Schweigen.

Werner Bongert fragt sich laut, was er eigentlich tun solle, wenn »die« kommen. Da müsse er ja wohl - ein diabolisches Lächeln huscht über sein Gesicht - im Haus gegenüber das Fenster einschlagen, um an ein Telefon zu kommen. Sich mit denen anzulegen sei nicht ratsam, »die müssen wie Wölfe sein«.

Ulrike, Schülerin der elften Klasse, schüttelt den Kopf. Sie kennt Skinheads. »Einzeln sind die ganz nett, der aus meiner Klasse ist ein schlauer Typ.«

Schweigen.

Rot glänzt ein Plakat am Gemeindehaus von Bruckhausen, einem Ortsteil von Hünxe. »Zehntausend Mark Belohnung«. Gesucht werden drei Männer, 1,70 bis 1,80 Meter groß, kahlgeschorene Köpfe, 18 bis 20 Jahre alt.

Vor dem Steckbrief verkaufen Frauen selbstgemachte Salate, Kinder hauen den Lukas, und Seniorinnen bieten Häkeldecken an. Das Erntedankfest vor dem Gemeindehaus »Unsere Arche« wirkt so wohlbehütet wie alles in diesem ruhigen Dorf, in dem das Krähen eines Hahnes als ruhestörender Lärm empfunden wird.

Selbst die idyllischen Skinheads, die etwas abseits ihr Bierchen trinken, scheinen besinnlich. Sie haben ihre Bomberjacken und die schwarzen Stiefel im Spind gelassen, weil ihre Eltern die Uniform im Moment zu auffällig finden. Die Verhöre der Mordkommission zeigen Wirkung.

Daß nach dem Brandanschlag alle Leute um sie herum nun plötzlich quatschen wie Gesamtschullehrer, hat auch die Sprache dieser Skins verweichlicht: Die Asylanten aus dem Heim, die hätten ihnen nichts getan, die könne man in Ruhe lassen, aber die Türken aus Lohberg, die müsse man abfackeln. »Ich bin nicht als Skin geboren«, sagt Marco, der aussieht, als habe er eine türkische Mutter und einen italienischen Vater, »aber irgendwann fängst du an, dich zu wehren.«

Der Türke sticht zu, der Rumäne klaut, der Pole schmuggelt, der Albaner spielt Hütchen, der Jugoslawe dealt - in den Vorwürfen der weltläufigen Hünxer Skins tauchen sie alle auf, die Horrorgestalten aus ihrer Lieblingszeitung. Natürlich fehlt auch der Asylant aus Ghana nicht, der für 160 000 Mark telefonierte.

Selbst die Lichtgestalt aus Bild-Kommentaren und Kanzlerreden, der echte Asylant, hat Platz im Weltbild der Hünxer Skins: Wer wirklich politisch verfolgt sei, sagt Marco großzügig, »kann gern nach Hünxe fliehen«. Aber die, die jetzt hier seien, »das sind doch alles Scheinasylanten«.

Zwei Wagen bremsen scharf vor der Gruppe. Kriminalbeamte springen heraus und durchsuchen die Jugendlichen nach Waffen. Den blonden, stillen Andre nehmen sie mit.

Der 18jährige Kfz-Mechaniker gesteht in der Nacht, zusammen mit zwei Freunden Molotow-Cocktails in das Schlafzimmer von Seinab, Mokadas und Mohammed geworfen zu haben. Als Motiv gibt er an, die Skins hätten ein Zeichen setzen wollen gegen die Asylantenflut.

Die Idee ist ihnen auf einer Fete am Abend des »Tages der deutschen Einheit« gekommen, nach einer Kiste Bier und zwei Flaschen Johnnie Walker. Alle anderen Gäste waren gegangen, nichts mehr zu saufen da, spielen wir »Asylanten vertreiben«. Aus dem Tank eines Mofas zapften sie Benzin in drei Bierflaschen.

In Hoyerswerda mußten die Plattenbauweise, das alte System und andere Bruchstücke aus dem soziologischen Setzkasten herhalten, um den Ausbruch der Gewalt zu erklären. In Hünxe, Hückeswagen, Issum, Sandesneben und den anderen 80 westdeutschen Haßstädtchen fehlen eingängige Entschuldigungen.

Seit zwei Jahren merke er, »daß viele Jugendliche aus Hünxe nach rechts abdriften«, sagt der Jugendleiter der Kirchengemeinde. Nach dem Anschlag sei er im Geiste die Konfirmanden durchgegangen und dabei auf erschreckend viele verirrte Seelen gestoßen.

»Dem Haß keine Chance«, steht auf dem Plakat an der Tür des kirchlichen Jugendzentrums. Es ist von Einstichen zerfetzt.

Ein Zehntel aller Jugendlichen seien anfällig für rechtsradikale Thesen, sagen Jugendforscher, und sie würden gefährlich, wenn sie sich in der Mehrheit fühlten.

Unvermummt, ohne Angst vor Entdeckung, schritten Andre und seine Mittäter zur Exekution. Bevor sie ihre Molotow-Cocktails warfen, grölten sie ein paar Trinksprüche.

Man habe nicht bedacht, räumt Bürgermeister Reinhold Peters ein, daß man »unbewußt fanatischen Verbrechern das Gefühl gibt, im Sinne der Bevölkerung zu handeln«. Er bereut eine Unterschriftensammlung von 300 Hünxern gegen das Asylantenheim, nicht jedoch seinen Ratsbeschluß, der unter der Überschrift »Unverzüglich abschieben« in der Lokalpresse prangte. Der sei ja nur an die Politiker in Bonn gerichtet gewesen.

Werner Bongert hat »innerlich gejubelt«, daß ausgerechnet der Sohn des Fliesenlegers erwischt wurde. Gegen Andre hat er nichts, seine Tochter kennt den sogar gut, soll ein schüchterner Junge sein, der immer Anschluß suchte, aber der Alte hat drei Häuser, »da ist Geld zu holen für die entstellten Mädchen«.

Mit zufriedenem Feierabendgesicht sitzt Bongert auf seiner Terrasse, blickt auf sein Schwarzwaldhäuschen, den Fischteich, die Grillecke, den Brunnen und wirkt erleichtert, weil das Böse von Hünxe einen Namen hat.

Seinen Arbeitskollegen - Bongert ist Autobahnmeister - hatte er bis zuletzt geschworen, das könne keiner aus Hünxe gewesen sein. Der Schwiegersohn in spe gehörte lange zu der rechten Clique um Andre, ist aber ausgestiegen, als es ihm zu fanatisch wurde. »Sonst hätte ich den hier rausgeschmissen.«

Bongert fährt einen alten Tisch aus seinem Keller hinüber zum Tatort. Die guten Deutschen von Hünxe richten sich im Heim der Asylanten ein. Die Wache für die nächsten zwei Wochen steht.

Am Wochenende ist Honigkirmes. o

* Mit dem Haarschopf der Saado-Tochter Seinab.

Zur Ausgabe
Artikel 6 / 109
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten