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VERBRECHEN »Wer bist Du?«

Er kam aus einfachen Verhältnissen, engagierte sich kirchlich, seine Leidenschaft waren Skat und Fußball. Gezielt suchte er nach Kontakt zu wohlhabenden Familien - der mutmaßliche Mörder des elfjährigen Jakob von Metzler gibt Ermittlern Rätsel auf. Als Motiv vermuten sie Habgier.
Von Daniel-Dylan Böhmer, Klaus Brinkbäumer, Carolin Emcke, Gisela Friedrichsen, Almut Hielscher, Simone Kaiser, Sebastian Krass, Felix Kurz, Udo Ludwig, Sven Röbel und Wilfried Voigt
aus DER SPIEGEL 41/2002

Es war der letzte Schultag vor den Ferien, und es wurde der letzte Tag seines Lebens. Nur drei Stunden Unterricht hatte Jakob von Metzler vor sich an diesem Freitag, denn dann sollte es losgehen in die Herbstferien.

Sie alle freuten sich schon auf die Reise nach Frankreich: Jakob und seine Geschwister Elena und Franz-Albert, die Großeltern, die bereits zu Hause, in diesem schönen Anwesen der Metzlers in Frankfurt-Sachsenhausen, eingetroffen waren, und seine beiden Schulfreunde, die mitfahren durften. Die Familie Metzler ist groß, und sie ist großzügig. Am Samstagmorgen wollte sie abreisen.

Normalerweise, jedenfalls wenn sie gleichzeitig Schulschluss hatten, fuhr Jakob zusammen mit seiner älteren Schwester Elena nach Hause, mit dem Bus. Aber heute ist Elena zu einem Brunch mit Klassenkameraden eingeladen. Eine Abschiedsparty ist das, wegen der Ferien.

Es ist 10.15 Uhr am vorvergangenen Freitag, ein warmer, milder Herbsttag. Jakob von Metzler, 11, macht sich auf den Heimweg. Und kommt nie zu Hause an.

Jakob springt die sechs Stufen vom Eingang der Carl-Schurz-Schule auf die Holbeinstraße. Er biegt nach rechts und sieht am Horizont die Skyline von Frankfurt auftauchen, drüben, auf der anderen Mainseite. Er überquert einen Platz an der Kennedyallee, wo ein Brunnen plätschert, verziert mit Rotkäppchen und dem Wolf.

Dann biegt Jakob nach links in die Gartenstraße ein, und nach etwa 300 Metern erreicht er die Haltestelle Stresemannallee/Gartenstraße.

Es ist 10.26 Uhr. Der gelbe Bus Nummer 35 kommt meistens pünktlich.

10.30 Uhr. Jakob steigt aus. Die Bushaltestelle Stresemannallee/Mörfelder Landstraße liegt vor dem Tengelmann-Supermarkt. Und direkt gegenüber steht das dreistöckige, mit Weinlaub bewachsene Haus Teplitz-Schönauer-Straße 42. Vom ersten Stock aus lässt sich die Bushaltestelle bestens beobachten.

Dort oben, im ersten Stock, wohnt Magnus G., den alle nur »Maggi« nennen.

Dort oben wohnt der Mann, der Jakob töten wird.

Zwischen Tat und Motiv gibt es keinen notwendigen Zusammenhang«, schreibt der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky. Es könnten also 100 Menschen im gleichen sozialen Umfeld leben, die gleiche Motivlage haben, die gleichen Triebe und Obsessionen - und doch begeht nur einer von diesen 100 die Tat.

Was da in Frankfurt geschehen ist, ist eines dieser Verbrechen, die ein ganzes Land sprachlos machen. Ohnmächtig. Wie kann das sein, dass ein Jurastudent mit ganz normaler Biografie einen Elfjährigen entführt und offenbar schon nach wenigen Minuten tötet? Der mutmaßliche Mörder Magnus G. war nicht arm, nicht einsam, nicht perspektivlos. Aber er soll ein Verbrechen begangen haben, das das Ausmaß von Gewalt sprengt, an das sich eine Gesellschaft gewöhnen kann.

Alle Entführer wollten extrem schnell und extrem viel Geld machen, sagt die Psychologin Cornelia Musolff, die bei einem Projekt des Bundeskriminalamts zur Erstellung von Täterprofilen mitgeforscht hat. Und fast alle unterschätzten das hohe Risiko; schließlich liegt die Aufklärungsquote in Deutschland bei über 80 Prozent.

Die Geldsucht der Kriminellen verbindet sich laut Musolff mit Persönlichkeitsmerkmalen, die alle Erpresser gemeinsam haben: Sie überschätzen sich selbst, und sie genießen ihre Allmacht. Und dennoch fällt Magnus G. aus dem gängigen Muster heraus. Anders als die meisten Erpresser kannte er sein Opfer. Er wollte es kennen.

Dass Jakob an diesem Freitag allein unterwegs ist, ohne seine Schwester, weiß Magnus G. möglicherweise; seine Freundin Katharina, genannt »Katta«, die Elena aus der Schule kennt, hatte ihm von dem Brunch der Mädchen vielleicht erzählt.

Jakob steigt an der Mörfelder Landstraße aus dem Bus und passiert ein paar Mietskasernen, eine Ampelanlage und das Wienerwald-Restaurant, das nach Bratfett und Vorstadt riecht. In diesem Augenblick, so die vorläufige Rekonstruktion der Polizei, spricht Magnus G. sein Opfer an. Der Jurastudent hat auf Jakob gewartet und bietet an, ihn nach Hause zu fahren.

In den vergangenen Wochen hat Maggi die Kinder der Bankiersfamilie schon mal heimgebracht. Durch Sachsenhausen chauffierte er sie, an den grauen Häuserzeilen vorbei und unter der S-Bahn hindurch, die das Sozialbauviertel »Heimatsiedlung« wie ein Grenzwall vom Villenbezirk der Reichen trennt.

Hier, glauben die Ermittler, stellt Magnus nun seine Falle: Ganz unverfänglich erzählt er Jakob, dessen Schwester Elena habe ihre Jacke bei ihm vergessen. Ob er, Jakob, sie nicht mitnehmen könne? Sie müssten nur schnell nach oben gehen und sie holen. Das dauere keine fünf Minuten.

Es ist eine Lüge, denn die Jacke gibt es nicht. Aber wieso sollte Jakob zweifeln?

Magnus G. und Jakob von Metzler betreten nach Polizeiangaben die Wohnung im ersten Stock in der Teplitz-Schönauer- Straße 42 - eine Wohnung, in der bunte Aufkleber und ein blauer Elefant am Küchenfenster pappen. Und was nun in dieser Wohnung geschehen sein soll, das beschreiben die Kriminalisten als eines der grausigsten Verbrechen der Frankfurter Kriminalgeschichte.

Die Tür ist gerade ins Schloss gefallen, da stürzt sich, so die Rekonstruktion der Polizei, der 1,96 Meter große Magnus G. auf den 1,45 Meter kleinen Jakob. Er klebt ihm Paketband über den Mund, und dann würgt er den Jungen. Er drückt und drückt, bis Jakob kein Lebenszeichen mehr von sich gibt, sagen die Ermittler.

Er habe ihn nicht töten wollen, sagt hingegen Magnus G. seit seiner Festnahme am vergangenen Montag immer wieder. Jakob sei erstickt, sagen die Pathologen.

Magnus G. stülpt, wie die Ermittlungen ergeben, zwei Plastiksäcke über den Körper und wickelt Klebeband drumherum. Dies ist das »Bündel«, von dem die schockierten Beamten später sprechen. Der mutmaßliche Mörder trägt das Bündel Mensch durchs Treppenhaus, zur Tür hinaus, zum Auto und legt es in den Kofferraum seines Honda Civic. Und mit dem toten oder sterbenden Jakob im Kofferraum fährt Magnus G. nun zum Haus der Bankiersfamilie im Stadtwald; er wirft die Klarsichtfolie mit dem Erpresserschreiben und einem Stein in die Einfahrt, vermutlich aus dem fahrenden Auto.

Die Fahnder sind überzeugt, dass Magnus G. den Brief bereits mehrere Tage vor der Tat verfasst und dieses Stakkato in »gehobenem Deutsch«, wie ein Ermittler sagt, mit Schreibmaschine auf ein weißes DIN-A4-Blatt gehämmert hat. »Wir haben Ihren Sohn entführt - keine Polizei - wir wollen Geld - eine Million Euro«, heißt es darin sinngemäß.

Es folgen ungewöhnlich detaillierte Anweisungen zur Übergabe des Lösegeldes: Die Million müsse in zwei Plastiktüten mit dem Logo der Supermarktkette Aldi an das Geländer einer Straßenbahnhaltestelle am Frankfurter Stadtrand gehängt werden. Der Zeitpunkt: die Nacht zum Montag, zwischen Mitternacht und ein Uhr. Danach, schreibt der Entführer, würde er sich aus dem Ausland melden und mitteilen, wo Jakob sei. Laufe alles nach Plan, sei der Sohn am Montagmorgen zu Hause.

Um ihre »Kooperationsbereitschaft« zu demonstrieren, muss die Familie einen Wagen mit »eingeschaltetem Abblendlicht« in der Einfahrt ihrer Villa an der Mörfelder Landstraße parken, die Scheinwerfer auf die Fahrbahn gerichtet.

Natürlich sind die Metzlers kooperationsbereit. Wie sollten sie zu diesem Zeitpunkt auch ahnen, dass ihr Kind die Entführung nicht überleben würde?

Kurz nach 11 Uhr an diesem Freitagmorgen verlässt Magnus G. die Stadt. Sein Ziel ist ein Fischteich bei Rebsdorf.

Als Jakob um 11 Uhr noch nicht da ist, macht sich im Hause Metzler keiner Sorgen. Vielleicht spielt der Junge ja Fußball.

Es ist 12.30 Uhr, als die Gewalt in das Leben der Familie Metzler einbricht. Draußen vor dem eisernen Tor der Einfahrt findet der Gärtner den Erpresserbrief.

Die Metzlers sind eine beliebte Frankfurter Familie - vermögend und zugleich sozial, vornehm und gleichzeitig frei. Es war so etwas wie die Idee dieser Familie, dass das Geld, welches das eigene Bankhaus einbrachte, in Teilen in Stiftungen und soziale Projekte ging. Das russische Au-pair-Mädchen gehört zur Familie, eine französische Freundin kommt und geht, ein Freund der Familie wohnt als Dauergast in der Mörfelder Landstraße, Freunde der Kinder gehen ein und aus.

Zur Idee dieser Familie gehörte auch, dass die Kinder auf eine öffentliche Schule gehen und ohne Personenschutz aufwachsen.

Es ist 13 Uhr, als Hans Hermann Reschke, Mitglied des Gesellschafter-Ausschusses des Bankhauses Metzler und enger Freund der Familie, in seinem Büro sitzt und telefoniert. Der Chef der Privatbank kommt in den Raum. »Leg auf«, sagt Friedrich von Metzler, »egal, mit wem du sprichst.« Als Reschke den Hörer niederlegt, sagt Metzler: »Jakob ist entführt worden.«

Die beiden lassen sich den Brief des Erpressers am Telefon vorlesen. Sie informieren die Polizei.

Und im Haus der Familie beginnt die Suche nach dem verschwundenen Sohn. Sylvia von Metzler, die Mutter, ruft bei Jakobs Schulfreunden an; der Weg zur Schule wird abgefahren. Aber von Jakob keine Spur.

Am Nachmittag erstellen die Spezialisten der Kripo ein erstes Täterprofil. Kennt er die Familie? Ist er intelligent?

Dafür spricht: Der Übergabeort, die entlegene Haltestelle Oberschweinstiege im Stadtwald, scheint sorgfältig gewählt. Das Gelände ist einsam und für den Entführer gut zu überblicken; für Verfolger gibt es wenig brauchbare Deckung. Und das Kontaktsignal, der beleuchtete Wagen, gilt der Polizei als Indiz für einen »strategisch denkenden Täter": Die Mörfelder Landstraße wird von Tausenden Fahrzeugen passiert - eine Überprüfung Einzelner ist unmöglich.

Trotzdem platzieren die Fahnder versteckte Kameras, die Bewegungen vor dem Anwesen aufzeichnen - nichts bleibt unversucht. Aber die Kameras nutzen nichts.

Ungewöhnlich ist, dass sich der Entführer nicht mehr meldet. Kein Anruf, kein zweiter Brief, nichts. Und darum entschließt sich die Einsatzleitung zur so genannten Erfüllungstaktik: Alle Forderungen sollen peinlich genau befolgt werden; da sie nicht verhandeln können, gehen Familie und Polizei kein Risiko ein.

Die Stunden vergehen. Die Familie klammert sich an den Glauben, dass doch kein Mensch einem Kind wie Jakob etwas antun könne - und der Mann, der Jakob nach Überzeugung von Polizei und Staatsanwaltschaft umgebracht hat, gibt sich zur selben Zeit seinem Alltag hin. Gelassen. Unbeschwert. Oder doch nur konzentriert und kaltblütig?

Keine Stunde nachdem Magnus G. Jakobs Leiche zum See gebracht haben soll, fährt er zum Mittagessen zu seiner Mutter nach Neu-Isenburg. Das macht er an jedem Freitag. Lotte G. berichtet später, ihr Sohn habe sich »völlig normal« verhalten.

Und am Samstag wollen Bekannte Magnus G., den sie »Commandante« nennen, mit seinen Fußballkumpels »beim Buffen« mitten in Frankfurt gesehen haben.

Was also: gelassen oder kaltblütig? Was für ein Mensch ist Magnus G.?

Intelligent, sauber, aus gutem Hause, aber absolut gefühlskalt. Aufgewachsen in einer Welt, in der man keine Not kennt, jemand, dem es an der seelischen Amplitude fehlt. »Einer, für den Geld Macht bedeutet und der sich über Geld definiert.« So beschreibt einer der Ermittler den mutmaßlichen Mörder.

»Wer bist Du?« hatte eine Mitschülerin in jene schwarze Kladde geschrieben, die im Abiturjahrgang 1995 der Carl-Schurz-Schule von Hand zu Hand ging. In diesem Buch wollten sich die Abiturienten kurz und knapp sagen, was sie voneinander hielten. Unter das Passbild von Maggi - es zeigt einen eher unscheinbaren Jungen mit aufgeworfenen Lippen und viel zu großen Brillengläsern - haben die anderen Witziges notiert: »Immer eine gute Suppe.« Oder Prophetisches: »Der Maggi wird Banker, wird glücklich verheiratet sein, drei Kinder haben und mit 55 einen Herzinfarkt erleiden.« Oder reichlich Kritisches: »Geldhai«, »Witzig, aber korrupt«, »der dümmste Abiturient«.

Magnus G. ist nicht vorbestraft; es gab da mal einen Strafbefehl wegen Fahrerflucht und ein eingestelltes Verfahren wegen Beleidigung. Mehr nicht. »Ich kenne ihn als einen unauffälligen, hilfsbereiten, engagierten und freundlichen Menschen. Bis vor drei Jahren war er regelmäßig aktiv, dann immer mal sporadisch«, sagt Richard Weiler, Pfarrer in der St. Bonifatiuskirche, wo Magnus einst in der Jugendarbeit tätig war.

Das Zauberwort »Geld« allerdings gab es immer schon für ihn. Frankfurt ist ja eine Metropole im Westentaschenformat; Bankiersvillen und Kleinbürgersiedlungen liegen nah beieinander, und hier in Sachsenhausen, wo Magnus G. aufwuchs, sind es nur wenige Meter von Arm nach Reich. Er aber, so muss Magnus es gesehen haben, wuchs auf der falschen Seite auf. Und da würde er bleiben.

Denn sein Vater, Bauingenieur in städtischen Diensten, war häufig malad; er lag ständig im Krankenhaus oder zu Hause. »Magnus kam schon eher aus einfachen Verhältnissen«, sagt ein Bekannter von damals, »die Wohnung der Familie war schlicht. Sein Bruder und er wohnten in zwei Zimmern im Tiefparterre. Eigentlich fast im Keller.«

Jeden Morgen, wenn er zur Schule aufbrach, sah er die Welt der Metzlers. Magnus wirkte in diesem Großstadtkonzentrat eher bieder. Seine Mitschüler beschreiben seine Leidenschaften mit drei Stichworten: Skat, Fußball, Kirche. Er war Vorstopper in der Kreisliga B, beim SV Sandhof. In seiner Stammkneipe, dem »Gaslicht«, grölten Fußballfans und blondierte Mädchen Böhse-Onkelz-Songs und Wolfgang-Petry-Schlager. Und aus dieser Welt wollte er verschwinden. Und zwar nach oben.

Mit Mädchen konnte Magnus G. nicht angeben. Keiner hier kann sich erinnern, dass er während seiner Schulzeit je eine Freundin gehabt hätte.

In den ersten drei Jahren nach dem Abitur merkten die Freunde, dass Magnus sich veränderte. Er schien, sagen sie, auf die andere Seite zu wechseln. »Als ich ihn wiedertraf«, erzählt eine frühere Mitschülerin, »habe ich ihn nicht erkannt. Die Brille war verschwunden, das Muttermal in seinem Gesicht war weggelasert. Er wirkte viel smarter und selbstbewusster als früher.«

Seine 16-jährige Freundin Katharina P., die vorigen Montag zunächst mit ihm festgenommen wurde, kam aus Magnus' alter Welt. Auch sie besuchte die Carl-Schurz-Schule, auch sie wohnte im Kleinbürgermilieu des südlichen Frankfurt. Die beiden sind seit sieben Monaten ein Paar.

Wann sein Plan reifte, verriet Magnus bei seinen Vernehmungen bis Ende vergangener Woche nicht. Dass er die Tat lange geplant hat, steht für die Ermittler allerdings fest.

Magnus suchte Kontakt zu Jugendlichen aus wohlhabenden Familien. Er reiste mit ihnen nach Ibiza. Magnus fügte sich überall ein.

Es war ein ständiger Wechsel zwischen den Welten. Und über Jahre hatte Magnus G. versucht, den Sprung in die bessere, die reiche Welt ganz legal zu schaffen. Er stehe kurz vor der mündlichen Prüfung zum Ersten Staatsexamen, erzählte er noch eine Woche vor der Entführung. Ob er promovieren wolle? »Klar, wenn, dann richtig.«

Für Jakob war dieser Magnus G. kein Fremder, sondern Maggi, der Freund von Katta, dem Mädchen aus der Parallelklasse von Jakobs Schwester Elena. Viel wusste Jakob nicht von Magnus. Er war kein Nachhilfelehrer, wie es zunächst hieß, und kein Freund, nicht von Elena und nicht von ihren Freundinnen. Nie war er Gast im Hause von Metzler, nie haben die Eltern ihn kennen gelernt. Er war nicht mal Gesprächsthema. Elena war dieser Typ eher suspekt.

Aber Magnus G. fiel trotzdem auf: ein 27-Jähriger eben, der eine 16-jährige Schülerin zur Freundin hatte, diese regelmäßig von der Schule mit seinem Wagen abholte, sie mit Gucci-, Prada- und Dolce & Gabbana-Klamotten ausstattete.

Weil Magnus unweit des Zuhauses von Elena und Jakob lebte, bot er den Geschwistern schon mal an, sie zusammen mit Katta im Auto nach Hause zu bringen. Die Bekanntschaft zwischen Täter und Opfer war also gemacht; die Vorsicht gegenüber Fremden, die Jakob hätte schützen können, gebrochen. Es war, so sehen es die Ermittler, der erste Schritt zur Tat.

Magnus G. musste nun noch sicher sein, dass Jakob an jenem Freitag auch wirklich allein auf dem Nachhauseweg war. Katta hatte Elena - scheinbar ganz beiläufig - gefragt, ob sie zum Brunch gehen wolle, und dann hatte Katta telefoniert. Mit Magnus? Möglicherweise gab sie ihm - wenn auch unfreiwillig - den entscheidenden Hinweis, dass er sein Opfer allein antreffen würde.

Während Freunde in das Haus in der Mörfelder Landstraße kommen und hoffen und bangen, beginnt für Friedrich von Metzler der Lauf gegen die Zeit auf der Suche nach der einen Million Euro. Es ist Wochenende. Nur über die Landeszentralbank gelingt es den Eltern, das Geld aufzutreiben.

48 Stunden vergehen. Mit Angst. Mit hektischer Betriebsamkeit. Wegen der ursprünglich geplanten Reise nach Frankreich gelingt es den Metzlers, ungestört zu bleiben; nicht einmal Bekannte ahnen etwas. Die Familie sitzt zusammen; manchmal bricht Wut hervor, und manchmal sind es Tränen. Ein Kokon von Freunden verteilt die Last, organisiert, tröstet, lenkt ab.

Als schließlich der Zeitpunkt der Geldübergabe näher rückt, holen Freunde wenigstens die Jugendlichen raus aus der unerträglichen Warterei und nehmen sie mit ins Waldstadion zu einem Spiel der Eintracht. Zur selben Zeit sucht die Sonderkommission verzweifelt nach einer Möglichkeit, den Übergabeort überwachen zu können. Die Beamten wissen: Ihre einzige Chance besteht darin, sich unbemerkt an den Kidnapper zu hängen.

Doch dieser Platz an der Straßenbahnhaltestelle ist schier verteufelt. Der Einsatz von Elektronik ist zu riskant, das Buschwerk schon zu kahl. Nach endlosen Versuchen melden die Spezialisten: Es gibt da zwei Stellen im Gelände, an denen man »Glocken« stellen , sprich Beamte postieren kann, die die Station beobachten.

Eine gewaltige Operation beginnt. Verfolgerteams werden in konzentrischen Kreisen um den Übergabeort postiert, mehr als hundert Fahnder sind im Einsatz. Etliche Kollegen haben ihren Urlaub abgebrochen, manche sind seit 36 Stunden im Einsatz. Sie rechnen mit der »klassischen Schnitzeljagd«, jenem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Entführer die Geldboten zu immer neuen Plätzen lotst.

Montagnacht. In den trüben Lichtkegeln der drei Straßenlaternen hängen die Geldtüten über dem Geländer der Haltestelle. Punkt ein Uhr rollt die letzte Straßenbahn der Linie 14 Richtung Stadtgrenze in die Dunkelheit.

Die Fahnder sind nervös. Ein Wagen wird gemeldet. Ein Mann taucht auf. Er spaziert, nicht einmal vorsichtig, auf die Tüten zu. Untersucht sie kurz. Geht zurück zu seinem Honda, der 100 Meter entfernt auf einem Waldweg parkt. Es ist der Honda von Magnus G. Der Mann steuert, verfolgt von Polizeiteams, sein Auto in Richtung Neu-Isenburg. Er fährt eine »Schütteltour": Mal bleibt er stehen, mal wendet er, mal dreht er eine Runde.

Und als er sich sicher glaubt, mögliche Verfolger abgehängt zu haben, passiert etwas, womit die Fahnder niemals gerechnet hätten: Er fährt nach Hause. Der mutmaßliche Mörder legt sich ins Bett und schläft aus.

Als Magnus G. aufsteht, beginnt er »zu telefonieren wie verrückt«, wie ein Fahnder sagt. Die Kripo, längst in der Leitung, ist fassungslos: Der Kerl spricht mit Gott und der Welt - nur nicht mit den vermeintlichen Komplizen, die doch irgendwo den kleinen Jakob gefangen halten müssen.

Dann aber setzt er sich mit seiner Freundin in seinen Honda Civic.

An einem Geldautomaten der Dresdner Bank an der Frankfurter Konstablerwache testet er, ob die Scheine sauber sind. An einem dieser Servicegeräte, an denen auch Überweisungen möglich sind, zahlt er in bar ein und transferiert die Summe auf sein Privatkonto bei der Dresdner Bank. Kurz darauf hebt er das Geld am Automaten wieder ab. Wieso? Warum hinterlässt er all diese Spuren? Vermutlich sollte es eine Art Prüfung sein, und vermutlich denkt Magnus nun, dass das Lösegeld nicht registriert ist. Es ist ein seltsamer Kontrast: Bis zur Geldübergabe handelte Magnus G. aus Sicht der Polizei kalt und klar, und danach machte er nur noch Fehler.

Er klappert gleich mehrere Banken ab, testet das Geld. Zahlt hier 500 Euro am Schalter ein und hebt dort 500 Euro am Automaten ab. Alles in Ordnung. Maggi bekommt gute Laune. Und nun fährt er mit Katta nach Aschaffenburg.

Gegen 11 Uhr tauchen Magnus G. und seine Freundin in einem Aschaffenburger Autohaus auf und sehen sich einen Mercedes-Benz der C-Klasse an. »Der war wie jeder andere Kunde auch«, sagt eine Mitarbeiterin, »nett, höflich, ruhig, völlig unauffällig.« Gemeinsam mit einem Verkäufer unternimmt das Paar eine Probefahrt. Und dann bestellt Magnus G. den obsidianschwarzen Jahreswagen, Modell C 200 Kompressor, 163 PS, keine Extras, 30 000 Euro. 700 Euro zahlt er an, in sieben Tagen, sagt er, wolle er den Wagen abholen.

In welcher Welt lebt dieser Mann?

Die Familie Metzler hofft noch immer, Jakob wiederzusehen. Der Erpresserbrief versprach doch einen »fairen« Ablauf: Geld gegen Kind. Dann offenbart die Kriminalpolizei der Familie den Namen des Verdächtigen. Damit ist alle Hoffnung zerstört. Denn alle wissen: Magnus war ein Bekannter. Jakob würde ihn identifizieren können. Niemals könnte der Erpresser ihn lebend entkommen lassen.

Über Handy spricht Magnus mit seinen Eltern. Dann mit Kumpels aus Norddeutschland, die heute »durch Frankfurt« kommen, »auf dem Weg zum Oktoberfest«. Er verabredet sich mit ihnen am Hauptbahnhof.

Die Fahnder sind elektrisiert. Ist »Oktoberfest« ein vereinbartes Kennwort? Die ersehnte Spur zu Jakob? Kümmert sich der Entführer endlich um seine Geisel? Die Polizei schickt Zivilkräfte zum Bahnhof.

Doch Maggi ändert seine Pläne erneut. Noch in Aschaffenburg besucht er ein Reisebüro und bucht einen Urlaub auf den Kanaren, auf Fuerteventura. Pauschal, Start nächste Woche. Will er sich absetzen? Aber warum erst so spät?

Am Nachmittag sagt er den seltsamen Oktoberfest-Freunden ab. Er müsse zum Flughafen, »etwas erledigen«.

Nach Rechnung der Fahnder ist Jakob nun bereits seit 76 Stunden gefangen. Vielleicht ohne Nahrung, ohne Wasser, vielleicht in einem Erdloch, in dem die Luft knapp wird. Auch wenn alle Fakten dagegensprechen, zwingt sich die Polizei immer wieder, daran zu glauben, Jakob könne noch gerettet werden.

Gegen 16 Uhr fahren Magnus G. und seine Freundin schließlich von Aschaffenburg Richtung Frankfurt. Die Einsatzleitung gibt das Signal zur Festnahme - wenn eine Chance besteht, dann jetzt. Vielleicht kann man die Kidnapper überrumpeln, den Überraschungsmoment nutzen, um Jakobs Versteck herauszufinden.

Der Zugriff erfolgt blitzartig an einer Straßenkreuzung in der Nähe des Frankfurter Flughafens. Noch auf dem Weg ins Präsidium beginnen die Beamten, Magnus G. und Katharina P. getrennt voneinander zu vernehmen. Zur selben Zeit bricht ein Spezialeinsatzkommando (SEK) die Wohnung in der Teplitz-Schönauer-Straße auf. Die Beamten finden die Hälfte des Lösegelds.

Während die offensichtlich ahnungslose Katharina im Polizeipräsidium einen Schock erleidet, simuliert Magnus G. erst einmal einen Schwächeanfall. Danach gibt sich der Festgenommene, wie es ein Polizeiführer formuliert, nur noch »extrem cool": Er wisse nicht, was man überhaupt von ihm wolle.

Als die Fahnder ihm das sichergestellte Lösegeld vorhalten, druckst er herum. Okay, sagt er, er habe es »zufällig« im Wald gefunden. Die Ermittler kreisen ihn ein. Und nach zähen Vernehmungen gibt Magnus G. zu, »indirekt« etwas mit der Entführung zu tun zu haben, als Handlanger für andere, als Geldbote. Er denunziert seine Kumpels, seine Bekannten, selbst gute Freunde. Wo sie den Jungen versteckt hielten, wisse er nicht genau, aber er könne sich vorstellen, dass Jakob in einer »Hütte am See in Langen« gefangen sei.

Sofort werden Suchmannschaften losgeschickt, über tausend Polizisten. Erfolglos. Die Minuten verstreichen. Die Einsatzleitung geht an die Öffentlichkeit - jede Sekunde, jeder Hinweis kann für Jakob überlebenswichtig sein.

Dann versteift sich Magnus auf die Version, dass es sich bei den »wahren Tätern« um zwei Brüder aus seiner Fußballclique handele. Ein SEK setzt die beiden fest. Doch auch diese Anschuldigungen sind offenkundig Lügen; die beiden Brüder werden freigelassen.

Es dauert. Es macht die Beamten ganz krank, mit diesem Typen zu sprechen, stundenlang. Er lässt sie alle zappeln, immer noch. Erst am frühen Dienstagmorgen beginnen die offenkundigen Lügengebäude des Jurastudenten zu bröckeln. Die Vernehmungsbeamten, von Polizeipsychologen unterstützt, halten Magnus seine gesammelten Widersprüche vor.

Es ist hell draußen.

Und nun, so erinnern sich Fahnder, sagt Magnus den unfassbaren Satz: »Okay, das Kind ist tot.« Und wenig später führt er die Polizei aus der Stadt heraus; eineinhalb Stunden dauert die Fahrt.

Wenige hundert Meter vom Vogelsberg-Weiler Rebsdorf liegen, versteckt hinter einem mächtigen Wall aus Tannen und Laubbäumen, zwei kleine Fischteiche und ein paar von Wasserpflanzen überwucherte Tümpel. Selbst Einheimische kennen die Wasserlöcher und die vier kleinen Holzhütten nicht. Kein Schild weist den Weg.

Hier im »Schauerwald«, wie sie den düster-idyllischen Winkel am Bachbett der Salz nennen, hatte Magnus G. das Bündel mit Jakobs Leichnam ins Wasser geworfen. Magnus wählte das Leichenversteck offenbar gezielt aus; er kannte die Stelle angeblich von einem Grillfest.

Es war Dienstagmittag, kurz nach 12 Uhr, als die Polizisten Jakob fanden. Das blaue Bündel steckte unter dem Bootssteg.

Als am Nachmittag die grausige Nachricht vom Fund der Leiche bekannt wird, sammeln sich Freunde, Fremde, Passanten an der Mörfelder Landstraße. Sie bilden eine Lichterkette vor dem Haus. Und irgendwann steht dann ein Teil der Mitschüler von Jakob vor dem eisernen Tor. Zwischen all den Blumen und Kerzen. Alle, die noch nicht in die Ferien abgereist sind, sind gekommen. Ein Lehrer und einige Eltern haben sie an diesen Ort der Trauer begleitet.

Jakob von Metzler, der in diesem offenen Haus aufgewachsen ist, ist tot. Und nun kommt sein Vater zum Tor und bittet die Kinder hinein.

DANIEL-DYLAN BÖHMER, KLAUS BRINKBÄUMER, CAROLIN EMCKE, GISELA FRIEDRICHSEN,

ALMUT HIELSCHER, SIMONE KAISER,

SEBASTIAN KRASS, FELIX KURZ, UDO LUDWIG, SVEN RÖBEL, WILFRIED VOIGT

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