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SPIEGEL Essay Wer hat Angst vor Neo-Nazis?

von Christian Schultz-Gerstein Der Autor, Jahrgang 1945, ist SPIEGEL-Redakteur im Kultur-Ressort.
aus DER SPIEGEL 20/1982

Angenommen, die Neo-Nazis würden behaupten, der Zweite Weltkrieg habe gar nicht stattgefunden oder die SS sei eine Unterabteilung des Roten Kreuzes gewesen oder Adolf Hitler habe den Führer nur gespielt, um sich der Ufa als Hauptdarsteller zu empfehlen, kein Mensch hätte von den Neo-Nazis Notiz genommen, geschweige denn sich über sie empört. Allenfalls wären sie zu einem Fall für den Kulturbetrieb geworden, dem sie als neuerliches Beispiel für die Ausbreitung eines surrealen Bewußtseins hätten dienen können.

Was die Neo-Nazis tatsächlich behaupten, gehört zwar ebenso ins Reich der Science-fiction-Geschichtsschreibung, gleichwohl nehmen sich ihrer Thesen nicht Perry-Rhodan-Fans oder eingefleischte Subrealisten an, sondern der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, Staatsanwälte und Repräsentanten des öffentlichen Lebens, die ihren Beruf darin sehen, aus der Geschichte gelernt zu haben.

Daß in Auschwitz und anderswo keine Juden vergast wurden, daß die Nationalsozialisten das Warschauer Getto lediglich zur Bekämpfung einer Typhus-Epidemie errichteten, daß ein Judenvernichtungsprogramm nie existiert habe - was ist an diesen Standard-Parolen der Neo-Nazis so gemeingefährlich, daß der Staatsanwalt sich aufgerufen fühlt, gegen ihre Verbreitung einzuschreiten?

Im Ernst unterscheidet sich ja das wichtigtuerisch-beleidigte Gefasel von »Ausrottungsmärchen« und »Gaskammer-Legende« nicht von anderem Blödsinn, dem zufolge etwa die Erde viereckig ist oder der Neandertaler die Raumfahrt erfunden hat, Behauptungen, die allenfalls einen Psychiater interessieren würden.

Den Stuß der Neo-Nazis aber nimmt die Öffentlichkeit so ernst, als sei er ernst zu nehmen, als sei er eine gefährliche Konkurrenz für die historische Realität. Um so zu reagieren, muß das Bewußtsein von dieser Realität schon wenig ausgeprägt oder gar nicht vorhanden sein.

Wenn Jugendliche Hakenkreuze auf Grabsteine schmieren und sich SS-Embleme auf die Lederjacke nähen, wenn Schüler auf dem Pausenhof den Arm zum Führergruß erheben oder wenn Ältere, wie der gerade in Stammheim wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung vor Gericht stehende Dr. Manfred Roeder, sich zum Führer einer zu bildenden »reichsdeutschen Exil-Regierung« ernennen, dann mag sich einem der Magen umdrehen bei solchen stickigen Ritualen bewußtloser Großmannssucht. Daraus, wie es geschieht, eine »Gefahr für den Rechtsstaat« abzuleiten und den Faschismus wiederkehren zu sehen, das ist rational gerade so gut begründet wie etwa die Behauptung, eine Vermehrung von Lippenbärten nach dem Vorbild des Führers werde unweigerlich zur Neuauflage des Nationalsozialismus führen.

Die juristischen und publizistischen Gegner der Neo-Nazis machen denn auch gar nicht erst Anstalten, ihre Einschätzung der neo-nazistischen Gefahr für den Rechtsstaat sachlich zu begründen. Statt dessen verweisen sie bei jedem rechtskräftig verurteilten Trunkenbold, der im Suff das Horst-Wessel-Lied angestimmt hat, bei jedem Propagandisten der »Auschwitz-Lüge« und noch beim kleinsten Hakenkreuzschmierer auf die Vergangenheit, die sich nicht wiederholen dürfe. (Ach, wäre der Nationalsozialismus doch nur dies gewesen, daß irgendwelche Saufköpfe schlimme Lieder gesungen und Hakenkreuze an Häuserwände gepinselt hätten!)

Es geht schon verrückt zu, wenn ausgerechnet diejenigen, die gegen die Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen zu Felde ziehen, die mehr Aufklärung über das Dritte Reich an den Schulen fordern und die Greuel in den Konzentrationslagern nicht dem Vergessen ausliefern wollen, wenn dieselben Leute die historische Realität des Dritten Reiches ihrerseits so gründlich vergessen haben, daß sie das neo-nazistische Make-up mit dem Nationalsozialismus selbst verwechseln.

Als der Bundesinnenminister im Januar die »Volkssozialistische Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit« verbot, begründete er die Maßnahme mit dem Hinweis, diese Vereinigung sei »der NSDAP Adolf Hitlers wesensverwandt« und mithin - so die stillschweigende Folgerung - ebenso bedrohlich für den demokratischen Staat wie seinerzeit die wirkliche NSDAP.

Und tatsächlich hatte man bei Mitgliedern des verbotenen Vereins Dinge gefunden, bei deren Anblick dem Anti-Neo-Nazi die Realitätssinne nicht anders als dem Neo-Nazi so sehr schwinden, daß er sich in die Zeit des Dritten Reiches zurückversetzt fühlt: Fahnen mit keltischen Runen, Armbinden mit Hakenkreuzen und Bilder des Führers und die, hochgefährlich, »in allen möglichen Größen«.

Würde irgendeine kaisertreue Bewegung sich heute wilhelminisch verkleiden, für die Wiedereinführung der Pickelhaube kämpfen und den kaiserlichen Palast in der Mietwohnung mit wilhelminischen Emblemen ausstatten, niemand würde solchen historischen Faschingszauber für den Anbruch eines neuen Kaiserreiches halten.

Ein Neo-Nazi hingegen muß sich nur ein braunes Hemd anziehen, schon gehen die pflichteifrigen Antifaschisten auf die Barrikaden, um ein »neues« 1933 zu verhindern.

Darin sind sich die Musterknaben der Vergangenheitsbewältigung und die Neo-Nazis zum Verwechseln ähnlich, daß sie beide den Faschismus für etwas Magisches halten, das man durch die Ausstellung von Symbolen herbeiführen und durch die Ächtung oder Beschlagnahme von Symbolen ausschalten kann.

Diese Gemeinsamkeit von Neo-Nazis und vorschriftsmäßigen Vergangenheitsbewältigern, die beide gleichermaßen ein magisches Verhältnis zum Nationalsozialismus pflegen, sie erklärt immerhin, warum die Anti-Neo-Nazis die Neo-Nazis für eine Bedrohung halten.

Drei Jahrzehnte lang galt in der Bundesrepublik die fetischistische Abwehr von NS-Symbolen als untrüglicher Beweis für eine erfolgreiche Bewältigung der Vergangenheit. Da vernichtete man »Mein Kampf« und das Parteiabzeichen und glaubte mit der Vernichtung der faschistischen Requisiten auch die eigene Beteiligung am Faschismus vernichtet zu haben.

Da zeigten die Behörden, daß die Deutschen aus der Vergangenheit gelernt hatten, indem sie für Kfz-Kennzeichen ein Verbot von anstößigen Buchstabenkombinationen wie SS, KZ oder SA erließen.

Nicht anders hexten da die Lehrer im nachkriegsdeutschen Geschichtsunterricht und verzauberten die Realität des Dritten Reiches in einen »bösen Spuk": Adolf Hitler verwandelten sie in einen »Satan in Menschengestalt«, die Judenverfolgung erklärten sie zum »teuflischen Werk«, Konzentrationslager waren die »Hölle«, der Krieg war »verbrecherischer Wahnsinn«, der Faschismus »Alptraum« und »Inferno«.

Mit welch schamanenhaften Praktiken auch immer sich die Deutschen als Gegner des Nationalsozialismus zu qualifizieren trachteten, allemal brachten sie dabei das Kunststück fertig, die Vergangenheit zu bewältigen, ohne mit der Vergangenheit in Berührung zu kommen.

Bei allen psychohygienischen Vorteilen hat dieser nichts als obligatorische Antifaschismus, der die Realität des Dritten Reiches im Namen der Aufklärung verdrängt, den nervenaufreibenden Nachteil, daß er schon bei der Berührung mit den Wahrzeichen der verdrängten Realität haltlos wird. S.71

Die der Wiedergutmachung hörigen Gegner des Nationalsozialismus haben daher ein Verhalten entwickelt, das ihnen erlaubt, dieselben nationalsozialistischen Verbrechen, die sie pflichtschuldig verabscheuen, zugleich kalt zu ignorieren.

So beklagen die botmäßigen Anti-Faschisten zwar die Ermordung der Juden in den ergreifendsten Tönen der Anteilnahme, doch ihr ganzes Interesse an den Konzentrationslagern gilt der Tatsache, nichts von ihnen gewußt zu haben. Als ob es darum noch ginge, wenn man doch jetzt weiß, was man damals tatsächlich nicht gewußt haben mag. Aber so sind sie eben: Gesenkten und gedenkenden Hauptes treten sie ein ins Bräunungsstudio der Wiedergutmachung und kommen mit einem knackfrischen Willen zur Vergeßlichkeit wieder heraus, kraft dessen sie fordern, »die Deutschen müssen endlich normal werden« und »aus dem Schatten Hitlers treten« (Alfred Dregger). (Soll sich nur keiner darauf herausreden, Dregger sei ein Rechter. Auch die RAF-Aktivisten um Baader und Ensslin, die sich als antifaschistische Elite verstanden, haben an ihre Genossen appelliert, sie mögen zugunsten der Palästinenser endlich ihren »Juden-Knacks« überwinden.)

Ohne dieses antifaschistische Schmierentheater sind aber die Neo-Nazis gar nicht denkbar. So begann die Karriere des Michael Kühnen, eines der führenden Rechtsradikalen, mit der Verwunderung darüber, daß man »über den Nationalsozialismus nichts Positives erzählen« durfte und gleich den Vater, die Medien und den Staatsanwalt auf den Hals kriegte, wenn man es doch tat.

Verwunderlich allerdings: Wieso konnten die jenigen, die doch ständig vorgaben, den Nationalsozialismus hundertprozentig durchschaut zu haben, auch den geringsten Widerspruch nicht ertragen? Wieso brach ihnen bei der Behauptung, im Dritten Reich seien keine Juden umgebracht worden, der Angstschweiß aus, so, daß sie bei der Autorität der Gerichte Zuflucht suchten, die solche Behauptungen bei Strafe verbieten. Gehörten sie vielleicht zu jenen heimlichen Antisemiten, über die Theodor W. Adorno 1962 schrieb: es sei der »Krypto-Antisemitismus eine Funktion der Autorität, die hinter dem Verbot offener antisemitischer Manifestationen steht«?

Anders ausgedrückt: Fühlen sich die Anti-Nazis durch die Neo-Nazis womöglich bedroht, weil sie die offiziellen Tabus über das Dritte Reich brechen, in deren Schutz es sich für jedermann - »Faschisten« und Antisemiten inklusive - bequem und gedankenlos Antifaschist sein läßt? Nicht zu Unrecht war Kühnen durch die Tatsache irritiert, daß die Anti-Nazis auf die These von der »Auschwitz-Lüge« etwa nur mit sprachloser Empörung reagierten, aber keine selbständige Antwort wußten.

Nun soll man sich zwar wirklich nicht an den abstoßenden neo-nazistischen Algebra-Übungen beteiligen, ob sechs Millionen oder, wie die Neo-Nazis behaupten, »nur« 200 000 Juden umgekommen seien, aber immerhin hätte man sie, zumal sie ständig bemüht sind, sich als Freunde der Juden auszugeben und gern auf Juden in ihrem Freundeskreis verweisen, da hätte man sie ja einmal fragen können, was sie denn beispielsweise von den Nürnberger Gesetzen und den Bestimmungen über Blut- und Rassenschande hielten? Und was sie denn überhaupt über Juden wissen?

Wenn Antisemitismus, wie der Philosoph Adorno sagt, »das Gerücht über die Juden ist« und wenn Antifaschismus vor allem auch darin besteht, dieses Gerücht durch die Vermittlung eines realistischen Bildes von Juden und jüdischer Geschichte zu bekämpfen, dann haben die Neo-Nazis unfreiwillig immerhin eines fertiggebracht: zu zeigen, daß die geharnischten Anti-Nazis mit leeren Händen dastehen. Und nichts anderes bedrohen die Neo-Nazis als den PR-Antifaschismus der anti-neo-nazistischen Öffentlichkeit.

Für ihre Behauptung, die Neo-Nazis bedrohten unser politisches System, sind die Anti-Neo-Nazis jedenfalls bislang den Beweis schuldig geblieben. Wie auch anders? Die Neo-Nazis haben weder ökonomischen noch militärischen Einfluß noch sitzen sie - das walte Rudolf Mühlfenzl - im Zentrum der Medien. Und auch das Münchner Attentat und die neo-nazistischen Sprengstoffanschläge belegen ja keine politische, sondern eine zivile Gefahr, wie sie eben von Leuten ausgeht, die mit aller Macht, die sie nicht haben, ihre Wahnvorstellungen gegen die Realität durchzusetzen versuchen.

Verständlich wird die Beschwörung der neo-nazistischen Gefahr eben nur dann, wenn man sie als Furcht der Anti-Nazis vor der Entdeckung begreift, daß die antifaschistische Währung, in der sie sich von der Vergangenheit wie von den Neo-Nazis loskaufen, durch ihr Bewußtsein nicht gedeckt ist.

Nicht zufällig bewältigen sie den Neo-Nationalsozialismus exakt so, wie sie den Nationalsozialismus bewältigt haben: Empört zeigen sie mit Fingern von sich auf andere und weisen sie so weit von sich, daß sie als Bestandteil der eigenen Realität gar nicht erst in Betracht kommen.

Von diesem Bedürfnis, das antifaschistische Bewußtsein gegen die Neo-Nazis hermetisch abzuschirmen, sind selbst aufgeklärte Geister beherrscht, die sonst in jedwedem Minderheiten-Verhalten eine Antwort auf ein mögliches Fehlverhalten der Mehrheit sehen.

So mochte etwa jener Pfarrer Albertz, der einmal die Öffentlichkeit daran erinnert hatte, daß Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin und Andreas Baader nicht als Terroristen vom Himmel gefallen, sondern daß sie »unsere Kinder« seien, diese Einsicht bei dem Hamburger Rechtsanwalt Rieger, Jahrgang 1946, nicht gelten lassen.

Als Rieger Ende 1981 im Prozeß gegen seinen Mandanten, den Warschauer Polizei-Chef Wigand, die neo-nazistische These vortrug, das Getto sei zur Typhus-Bekämpfung errichtet worden, vergaß Albertz prompt seine aufgeklärten Maximen und stellte Strafantrag gegen Rieger wegen Volksverhetzung.

Die nicht zu leugnende Tatsache, daß die Minderheit der Neo-Nazis nicht aus Algen oder Meerschaum, sondern aus einer Gesellschaft von ebenso pflichtbewußten wie obligatorischen Anti-Nazis hervorgegangen ist, diese Tatsache anzuerkennen und ihr nachzugehen, das hieße unweigerlich auch, den Inhalt des kollektiven Anti-Faschismus unter die Lupe zu nehmen.

Das hieße dann etwa auch zu fragen, was denn Linke eigentlich meinen, wenn sie beispielsweise Strauß, also den Politiker eines Landes, in dem es weder Konzentrationslager noch Rassengesetze noch deren mörderische Vollstreckung gibt, als »Faschisten« beschimpfen.

Das hieße dann zu fragen, was denn am vorgeblichen Geschichtsbewußtsein der Anti-Nazis im Bundestag eigentlich bewußt ist, wenn sie, wie Franz Josef Strauß etwa, die Graphiken eines Klaus Staeck in die Zeit des »Stürmer« zurückdatieren oder die nationalsozialistischen Verbrechen verharmlosen und die DDR ein »KZ« nennen.

Das hieße eben auch zu fragen, was denn die Anti-Nazis, die Auschwitz, wie es ihnen gerade paßt, nach Stammheim verlegen oder in die DDR, von den Neo-Nazis unterscheidet, denen es gefällt, Auschwitz für eine Erfindung zu halten.

Warum müssen die fraglosen Anti-Nazis eigens den Staatsanwalt zu Hilfe rufen, um sich gegen die Neo-Nazis ins Recht zu setzen?

In dem bereits zitierten Aufsatz »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« hat Theodor W. Adorno dafür plädiert, die »wirklich zur Verfügung stehenden Machtmittel ohne Sentimentalität« gegen Antisemiten anzuwenden. Dies freilich nur für den Fall, daß sie sich als »unansprechbar« erweisen sollten.

Mit den Neo-Nazis aber hat noch niemand gesprochen.

Christian Schultz-Gerstein
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