»Wer jetzt Angst hat, ist ein Hasenfuß«
Ein Karlsbad oder Marienbad ist es nicht, doch immerhin. In Piestany, vermerkt die Stadtchronik, hat sich schon Ludwig van Beethoven im stahlblauen Schlamm gewälzt und auf Schlössern in der Umgebung die »Mondscheinsonate« komponiert.
Zu Zeiten der Habsburger Monarchie, als der slowakische Kurort noch Pistyan genannt wurde, trugen sich bayrische Komtessen, polnische Medizinalräte und österreichische Grafen in das Gästebuch ein, viele mit spitzer Steilschrift.
Klassizistische Badehäuser und ein Jugendstil-Juwel, das Thermia-Palace-Sanatorium, sind heute fest in der Hand von Wienern und Süddeutschen.
Im »Mekka der Rheumatiker«, so die Chronik, werden seit der Ölkrise auch wohlhabende Araber gepflegt, freilich in kahlen Neubauten, abseits vom Charme der gediegen restaurierten alten Welt. »Wir wollen den guten Ruf unseres Hauses doch nicht in Gefahr bringen«, sagt der Portier des Thermia Palace in gutem Deutsch.
Amerikaner hingegen werden gern aufgenommen. Nur in diesem Jahr blieben sie aus - »wegen Tschernobyl«, bedauert Jan Sipos von der Kurverwaltung. Für die tschechoslowakischen Behörden kann das kein Grund sein: Sie haben keinerlei Strahlenwarnungen veröffentlicht. »Die radioaktive Wolke«, spottet eine Kindergärtnerin, »ist eben über uns hinweggezogen.«
Nur zehn Autominuten vom Kurort Piestany entfernt, wurden in den letzten Jahren vier Atomreaktoren sowjetischer Bauart hochgezogen. Nicht in Piestany, wohl aber in Wien, 90 Kilometer weit weg, ist man darüber entsetzt. Denn der Weg der Strahlenwolken von Tschernobyl quer durch Europa hat allen, auch den glühendsten Atombefürwortern, eines klar gemacht: Radioaktivität, erst einmal freigesetzt, kennt keine Grenzen.
Grenznahe Kernkraftwerke mit wirklich oder vermeintlich schlechter Ausstattung und mangelhafter Wartung werden deshalb zusehends als unmittelbare Bedrohung empfunden - nicht nur in Österreich. Auch an zwei anderen europäischen Schnittstellen - zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, sowie zwischen Dänemark und Schweden - spitzt sich der grenzüberschreitende Atomstreit zu.
Die Forderung des Bremer Kernphysikers Jens Scheer, »die Umgebung der Atomkraftwerke« zum »Feindesland für Betreiber« zu machen, käme, auf die grenznahen Atomanlagen bezogen, einer Kriegserklärung gleich.
Die tschechoslowakischen Reaktoren nahe Piestany gelten österreichischen Wissenschaftlern und Politikern als »schwerwiegendes, unkalkulierbares Risiko«, viele halten ein »zweites Tschernobyl« für möglich.
»Reine Propaganda«, sagen dazu unwirsch Gesprächspartner in den Ortschaften rund ums AKW. In Jaslovske Bohunice, einem Straßendorf, das dem Kraftwerk den Namen gab, war man erleichtert, daß kein chemischer Betrieb auf den Feldern gebaut wurde. »Warum soll das Werk etwas Schlechtes sein?« fragen die Bauern. Von einem Unglück haben sie noch nie gehört.
Auch Jan Sipos, der sprachgewandte Manager aus der Kurverwaltung in Piestany, ist entrüstet: »Viele meiner Freunde arbeiten da draußen. Wenn es nicht sicher wäre, würde ich nicht hier leben. Einen Unfall hat es noch nie gegeben.«
Vor Jahren zwar hatte die Dissidentenbewegung »Charta 77« im Westen von Zwischenfällen berichtet, die Prager Regierung aber ließ sofort dementieren.
Ein seit vielen Jahren im Kraftwerk beschäftigter AKW-Techniker kann jedoch den Angaben der »Charta 77« sogar noch Details hinzufügen. Demnach vermengte sich im Januar 1976 wegen einer undichten Stelle im Leitungssystem radioaktiv belastetes Kühlgas mit schwerem Wasser. Das gefährliche Gemisch verdampfte an den glühenden Brennstäben, die Sicherheitsventile hielten dem Überdruck nicht stand. Jod 131 und die ganze Skala der Spaltprodukte, darunter Strontium 90, Cäsium 134 und 137, entwichen ins Freie.
»Wir haben überhöhte, wenn auch keine gefährlichen Werte gemessen«, so der Techniker. Immerhin - durch den Überdruck wurde Kohlendioxid in einen Meßraum gepreßt, zwei ältere Mitarbeiter kamen ums Leben.
Da die Reparatur zu aufwendig gewesen wäre, wurde die Anlage, ein Schwerwasserreaktor mit einer Leistung von 150 Megawatt, stillgelegt. Keineswegs sei aber, wie von den Dissidenten behauptet, das Kraftwerk einbetoniert worden: »Es wird darin experimentiert und die Entseuchung nicht mehr verwendungsfähiger Reaktoren geübt.«
Ein Austreten radioaktiver Strahlung würde in der CSSR angeblich sofort bemerkt - dank eines dichten Netzes von Meßstellen, das selbst den radioaktiven Anteil an den Emissionen der zahlreichen tschechoslowakischen Kohlekraftwerke erfassen kann.
Das System bewährte sich in den ersten Tagen nach dem Tschernobyl-Super-GAU: »Noch ehe in Schweden die erhöhten Werte festgestellt wurden, wußten wir davon und fürchteten, bei uns sei etwas passiert«, berichtet der AKW-Techniker. Doch Alarm gaben die Skandinavier.
Neben dem Osten der CSSR war, für Fachleute erstaunlich, vor allem der Norden Prags am stärksten radioaktiv belastet. Die Tschechoslowaken reagierten auf die Katastrophe beim Großen Bruder mit »spezieller Diplomatie«, wie es eine Mittelschullehrerin umschreibt.
Die Schuldirektoren wurden von den Kreisnationalausschüssen vorgeladen und angewiesen, »den Kindern unauffällig zu sagen, daß sie nicht im Freien spielen sollen«. Frischmilch wurde offiziell nie als bedenklich eingestuft, prophylaktisch wurde aber eine Zeitlang Jod beigemengt. Das Motiv für solche widersprüchliche Maßnahmen wird allenthalben offen eingestanden: »Die größte Angst bei uns ist die vor der Panik.«
Anders als im Westen empfanden die Menschen den Mangel an Information jedoch nicht als beunruhigend. Eine Woche lang wurde weniger Milch verkauft als üblich. Doch sonst blieb Tschernobyl weit weg, ein kleiner Ort in der Ukraine, »ein großes Unglück für die Sowjet-Union«, sagen die Tschechoslowaken mit einem Unterton von Mitleid, der geheime Schadenfreude offenbart.
»Kennen Sie russisches Röntgen?« wird in der Familie des AKW-Technikers gewitzelt: »Man nimmt zwei Tschernobyler und stellt den Patienten dazwischen.« Keinerlei Angst ist zu spüren, daß auch CSSR-Bürger eines Tages »Tschernobyler« werden könnten.
Unerschüttert scheint das Vertrauen in die vier sowjetischen »Woronesch«-Reaktoren, die derzeit in Jaslovske Bohunice arbeiten. Der erste der vier Blöcke war im Dezember 1978 angefahren worden - ungeachtet der Mahnung des Ministers für Brennstoffe und Energie, Vlastimil Ehrenberger, im Parteiorgan »Rude pravo«, daß Kraftwerke dieses Typs eigentlich nicht in der Nähe von Städten gebaut werden dürften.
Die Sowjet-Union exportierte »Woronesch«-Reaktoren auch in andere Ostblockstaaten und nach Finnland. Aus Sicherheitsgründen ließen die Finnen ihr Kraftwerk erst nach dem Bau eines Stahlmantels und zusätzlicher Notkühleinrichtungen in Betrieb gehen.
Zu solcher Nachbesserung, erfuhr Österreichs Gesundheitsministerium bei
jüngsten Verhandlungen, wäre auch die CSSR bereit - falls Wien die Kosten trage.
Wichtiger wäre nach dem Urteil tschechoslowakischer Experten eine bessere Technik bei der Bedienung der Reaktoren: Aus Mangel an Computern müssen in Jaslovske Bohunice etliche Arbeitsgänge durch zusätzliches Personal erledigt werden, so daß die Gefahr menschlichen Fehlverhaltens enorm steigt.
Steuer- und Kontrollgerät müßte aus dem Westen bezogen werden - doch dazu fehlen die Devisen. Hier wird ein Grundproblem sichtbar: Der Westen setzt die industriellen Vorgaben, der Osten muß »hinterherhecheln wie ein Hund, auch wenn er die Technik nicht beherrscht«, sagt Joseph Humpel, Lehrer im grenznahen österreichischen Retz. Sein Heimatort liegt im Schnittpunkt der bisher fertiggestellten tschechoslowakischen Kernkraftwerke in Jaslovske Bohunice und in Dukovany.
Eine Verschnaufpause in der Stromproduktion kann sich die Tschechoslowakei kaum leisten. Zusammenbrüche im Netz sind dort im Winter keine Seltenheit. Dunkle Städte, kalte Wohnungen und Einschränkungen des Zugverkehrs stören den sozialistischen Alltag. Würde sich die CSSR von der Atomkraft abwenden, könnte die Regierung jene »Panik« heraufbeschwören, die sie so sehr fürchtet.
Die Vorräte der CSSR an Stein- und Braunkohle reichen nur noch für einige Jahrzehnte. Knapp 15 Prozent der Stromerzeugung werden heute durch Kernenergie gedeckt, zur Jahrtausendwende sollen es, trotz des kürzlich angekündigten Ausbaus der Wasserkraft, mindestens 60 Prozent sein.
Kleinere, noch dazu vertuschbare Unfälle in den Kernkraftwerken wiegen deshalb wenig. Nicht mal die Dissidenten der »Charta 77« fordern einen Ausstieg aus der Kernenergie, sondern lediglich »offene Diskussionen«.
»Kernkraftgegner sind ein Luxus, den wir uns nicht leisten können«, meint ein pensionierter Maschinenschlosser in der einzigen Kneipe von Jaslovske Bohunice. Die Umstehenden, darunter einige Frauen, nicken. »Anti-Atom«-Postkarten, in den vergangenen Monaten von der ersten tschechoslowakischen Anti-AKW-Gruppe in Umlauf gebracht, hat hier noch keiner gesehen.
Gänzlich anders als an der Grenze CSSR/Österreich müßten die Anrainer an der deutsch-französischen Grenze am Oberrhein gestimmt sein. 1971, noch vor Baubeginn des ersten französischen Atomreaktors, trafen sich an dem geplanten Standort im elsässischen Fessenheim, 22 Kilometer südwestlich von Freiburg, 1500 Demonstranten - es war die erste Anti-AKW-Kundgebung Europas.
Ein paar Dutzend Kilometer rheinabwärts erkämpften die bundesdeutschen Kernkraftgegner gewaltlos ihren bislang beeindruckendsten Erfolg: In Wyhl am Kaiserstuhl wurde der Bau eines Atommeilers verhindert. Und lange bevor Frankreichs Super-AKW Cattenom für Unruhe sorgte, kam es schon wegen Fessenheim zu grenzübergreifenden Spannungen, denn:
Nach deutschen Sicherheitsbestimmungen muß die Stahlhülle eines Reaktordruckgefäßes mindestens 30 Millimeter dick sein, die Fessenheimer gaben sich mit einem Fünftel zufrieden.
Auch für den Mantel der Reaktorkuppel hätte in der Bundesrepublik mehr als doppelt soviel Beton aufgewendet werden müssen. Überdies fehlt den Leitungen der Hauptstromzufuhr eine feuerfeste Isolierung, ein Mangel, der im amerikanischen AKW Browns Ferry beinahe den GAU verursacht hatte.
Als bekannt wurde, daß an den empfindlichsten Stellen des AKW seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 1977 Risse auftraten, geriet Fessenheim endgültig zum Trauma der Region am Oberrhein. Nach jüngsten Untersuchungen hat der erste Reaktor 303 Haarrisse, der zweite 11. Sie könnten in wenigen Jahren die Stilllegung der Anlage erforderlich machen.
Außerdem reiht sich in Fessenheim Störfall an Störfall, 42 wurden bislang gezählt. Mal stieg unerwartet Dampf hoch, mal lief radioaktiv verseuchtes Wasser in den Rhein, mal mußte ein Block wegen ungewöhnlicher Geräusche abgeschaltet werden - die Schraubenmuttern an der Halterung von 27 der 106 Brennstäbe hatten sich gelöst und auf Wanderschaft begeben.
Geschockt durch Tschernobyl protestierten 30000 Menschen an der deutsch-französischen Grenze gegen den »Schrottreaktor«. Doch aus den direkt betroffenen Gemeinden Fessenheim und, auf der deutschen Seite des Rheins, Hartheim marschierte keiner mit.
»In Fessenheim«, bedauert der Sprecher und Mitbegründer der badischelsässischen Bürgerinitiativen, Jean-Jacques Rettig, »sitzen die Leute wie Kaninchen vor der Schlange: hypnotisiert und unfähig zu denken.«
Als die elsässischen AKW-Gegner noch vor Baubeginn mit den 2000 Fessenheimern ins Gespräch kommen wollten, warnten der damalige Gemeindesekretär und der Pfarrer vor »einfallenden Zeugen Jehovas«. Die Fessenheimer machten Türen und Fenster dicht, manche verbarrikadierten sich.
Das Kraftwerk wird inzwischen im Ort nur noch »La centrale« genannt. Fast liebevoll spricht man davon. Es hat »einen gewissen Wohlstand« gebracht,
den der neue Gemeindesekretär Daniel Fazerlet bedächtig aufzählt: Schwimmbad, Sporthalle und Sportplatz, Kanalisation und »Beleuchtung für jede Gasse«, alles wurde aus der Grund- und Gewerbesteuer des Kraftwerks finanziert. Dazu Straßen, deren Breite dem alten elsässischen Dorf die Gesichtslosigkeit bundesdeutscher Städte aufzwingt.
Wie in Jaslovske Bohunice erinnert sich auch in Fessenheim niemand an einen Zwischenfall im Kraftwerk. »Mit der Zeit«, so ein Arbeiter auf dem Weg zur Schicht bei Peugeot, »vergißt man, daß die ''centrale'' überhaupt da ist.«
»Fessenheim«, bekennt der Freiburger Walter Moßmann, dessen Lieder den Widerstand gegen das Wyhler AKW prägten, »habe ich einfach von meiner Landkarte gestrichen, um nicht handlungsunfähig zu werden.«
Moßmann glaubt, daß die Mobilisierung im Nachbarland nie glückte, weil das Nationalbewußtsein der Franzosen seit der Revolution von 1789 ungebrochen ist: »Mit der Technik, auch der des Militärs, wurde in Frankreich immer die Freiheit verteidigt, da wurden die Bedenken gegen die Atomtechnik nicht verstanden.«
Ein Blackout im Erkennen von Atomgefahren läßt sich freilich auch in der bundesdeutschen Nachbarschaft des AKW erkennen. Innerhalb der Zehn-Kilometer-Zone, die im Ernstfall sofort abgeriegelt würde, hat sich noch nie eine Anti-AKW-Gruppe gebildet. Die Organisatoren der eindrucksvollen Protestkundgebungen in der Region verfügen dort nicht mal über eine Kontaktadresse.
Auch eine Abwanderung aus dem Gefahrenbereich ist nicht feststellbar. Hartheim, nur durch den Rhein vom Reaktor getrennt, wuchs in den vergangenen zehn Jahren sogar ständig und zählt heute über 3000 Einwohner.
Neue Fabriken und Betriebe machten Hartheim für kleine Angestellte und Arbeiter attraktiv - ein Nato-Flughafen im Gemeindegebiet und die Autobahn Basel-Karlsruhe in Sichtweite werden da schon in Kauf genommen.
Der Atommeiler jenseits der Grenze brachte keinerlei wirtschaftlichen Nutzen, jedoch die Gewißheit, an durchschnittlich 286 Tagen im Jahr mit vorherrschenden West- und Südwestwinden als erstes Gebiet von einem radioaktiven Fallout heimgesucht zu werden.
Dennoch findet sich kein Hartheimer, der gegen die nahe Bedrohung entschieden aufträte. »Ich habe kein Vertrauen ins Kernkraftwerk, hoffe aber, daß auf der anderen Seite Menschen sitzen, die ihre Technik im Griff haben«, sagt Bürgermeister Erich Dilger gewunden.
Nicht einmal die Pfrengles, eine der sieben Hartheimer Bauernfamilien, sind so richtig gegen das AKW. Mühsam haben sie sich in den vergangenen fünf Jahren auf organisch gedüngten Spargel spezialisiert. Wegen der Strahlen von Tschernobyl nahmen sie im Frühjahr 20000 Mark weniger ein.
Ein kleiner, fast noch harmloser Störfall in Fessenheim könnte ihre Existenzgrundlage sofort vernichten. Die Angst, hier ist sie greifbar, doch »wir müssen
das halt hinnehmen«, sagt Bernhard Pfrengle, das Familienoberhaupt.
Wie stark Hartheim und die Nachbargemeinden in der Vergangenheit schon bestrahlt worden sind, konnten die zwölf deutschen Meßstellen in der Nähe Fessenheims nicht nachweisen. »Das System«, ermittelte der SPD-Landtagsabgeordnete Ulrich Brinkmann, »ist völlig untauglich.« Gewitterregen ließen in den letzten Jahren die Meßgeräte stärker ausschlagen als die radioaktive Wolke aus der Sowjet-Union.
Wer die Gefahr in Hartheim nicht rundweg bestreitet, verdrängt sie. In wenigen Kilometern Entfernung sind es plötzlich »mindestens 15 Kilometer bis zum Kraftwerk«, wenn man danach fragt. Inge Huber, Inhaberin des A&O-Lebensmittelgeschäfts, hat sich an das 1977 in Betrieb genommene AKW so sehr gewöhnt, daß sie meint, es stehe »doch schon seit 30 Jahren«. »Wer wegen Tschernobyl jetzt mehr Angst hat«, erklärt ein Milchbauer in der Schwarzwaldstraße, »ist doch ein Hasenfuß.«
Während in größerer Entfernung die Menschen in die Apotheken stürmten, um Jodtabletten zu kaufen, setzte die Pharmazeutin in Hartheim in den vergangenen Monaten eine einzige zusätzliche Packung dieses Strahlenschutzmittels ab. »Wir sind wie die Kartoffelkäfer«, lacht einer aus dem Dorf, »wir werden da immun.«
Für den Fall einer Katastrophe beteuert der Freiburger Regierungspräsident Norbert Nothelfer: »Wir wären in der Lage, rasch und effizient zu reagieren, und bauen darauf, daß sich die Bevölkerung an unsere Anordnungen hält.« So viel Zuversicht bringt nicht mal der Hartheimer Bürgermeister auf: »Ich würde sagen, setzt euch ins Auto und schaut, daß ihr möglichst viele Kilometer hinter euch bringt.«
Ans Wegziehen denkt im Zehn-Kilometer-Gefahrenkreis fast niemand. »Das würde ich nie machen«, meint ein Mechaniker: »Als ich vier Jahre alt war, wurden wir im Krieg in den Schwarzwald gebracht. ''Westwallzigeuner'' hat man uns da genannt. Das will ich nie wieder hören.« Nur einer, der Maschinenbautechniker Frank Lindner aus dem Nachbarort Heitersheim, will sein Eigenheim verkaufen, »wenn sich in Fessenheim nicht bald etwas ändert«. Seine Frau Gerda konnte er nur beruhigen, weil er sagte, »stell dir einen Koffer zusammen. Wenn etwas passiert, kommen wir über ein paar Nebenstraßen noch raus«.
Auf eine Flucht über Schleichwege baut 1000 Kilometer weiter im Norden, an der dänisch-schwedischen Grenze, niemand. In den siebziger Jahren hat Sydkraft, Schwedens größte private Elektrizitätsgesellschaft, ihr AKW Barsebäck direkt an den Ore Sund gestellt, eine der meistbefahrenen Wasserstraßen Europas.
Auf einer Landzunge gelegen, wirkt das Kraftwerk wie nach Dänemark hinübergeschoben, 20 Kilometer vor das Zentrum der Millionenstadt Kopenhagen.
20000mal im Jahr kommen Piloten den beiden Reaktoren ganz nahe, wenn sie die Einflugschneise des Flughafens der dänischen Hauptstadt ansteuern. 40 Standorte entlang der südschwedischen Küste hatten zur Diskussion gestanden, der verrückteste der Welt wurde ausgesucht - ein Mahnmal besinnungsloser Technikgläubigkeit.
Bei einem schweren Unfall, so sehen es die Pläne des dänischen Umweltamtes vor, sollten 600000 Kopenhagener mit städtischen Bussen rasch ins Hinterland gebracht werden. »Eine Illusion«, meint dazu der Chef der Busfahrergewerkschaft, Erik Knaurhase, »da würde alles zusammenbrechen.«
Auch wenn die disziplinierten Dänen die Straßen nicht mit Privatautos verstopften, abholen würde sie kaum jemand. »Die meisten meiner Kollegen«, so Knaurhase, »würden fliehen und lieber dafür, wegen Verletzung der Dienstpflicht, zwei Jahre ins Gefängnis gehen, als radioaktiv bestrahlt zu werden.«
Auch die Strahlenschutzbehörde würde im Ernstfall wohl hilflos sein. Bislang _(Text auf dem linken Bus: »Soll ) _(Kopenhagen oder Barsebäck dichtgemacht ) _(werden?« )
verfügte sie nur über eine einzige Meßstelle, die jeweils am Montag die Daten aufzeichnete. Rein zufällig erfuhr Dänemarks Regierung frühzeitig von den Strahlenwolken aus Tschernobyl - sie erreichten das Land zu Wochenanfang.
84 Prozent der Dänen bekannten sich nach der Katastrophe in der Sowjet-Union als Kernkraftgegner, mehr als irgendwo sonst. Und anders als in der Bundesrepublik, wo die Gegnerschaft in der Bevölkerung erst nach Tschernobyl schlagartig zugenommen hatte, kann die dänische Anti-AKW-Bewegung schon seit vielen Jahren auf eine solide Mehrheit bauen.
1979, nach dem Zwischenfall in Harrisburg, unterschrieben binnen fünf Wochen mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten einen Aufruf, im vergangenen Jahr lehnte das Parlament die Nutzung der Kernkraft in Dänemark endgültig ab. Das Thema schien erledigt, viele AKW-Initiativen lösten sich auf.
Als aber in Tschernobyl »das Undenkbare passierte«, so der sozialdemokratische Abgeordnete Hans Häkkerup, wurde Barsebäck über Nacht wichtigstes Feindobjekt der Dänen. Wochenlang beherrschten grelle Anti-Atom-Plakate des »Extra Bladet« die Straßen Kopenhagens. Auf nahezu allen Bussen hatte die Boulevardzeitung aufreizende Fragen anbringen lassen, so zum Beispiel: »Soll Kopenhagen oder Barsebäck dichtgemacht werden?«
Schwedens neuer Ministerpräsident Ingvar Carlsson, zu Besuch in der dänischen Hauptstadt, ließ sich dadurch nicht provozieren. Selbst sichtlich besorgt, versprach er, die Sicherheit von Barsebäck und die Folgen einer Schließung sofort überprüfen zu lassen. Eine »Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Nachbarlandes« beklagte in Schweden, wohl einzig in Europa, niemand.
»Das geht die nichts an«, hätte früher Mats Karlsson, Chefredakteur von »ATL«, der ältesten Agrarzeitung Schwedens, die Bedenken der Dänen abgetan. »Heute muß ich aber sagen, daß sie recht haben.«
Karlssons Sinneswandel hat Gewicht. Er zählt zu den Stützen der Konservativen in Schweden, die Mehrheit der Bauern schätzt ihn als Meinungsführer. »Atomkraftgegner«, charakterisiert Karlsson seine bisherige Einstellung, »waren für mich Leute, die eine ganz linke, gegen den Fortschritt gerichtete Gesellschaft wollten.«
Beinahe geschlossen bekannten sich die schwedischen Bauern bei der Volksabstimmung vor sechs Jahren zur ungehemmten Nutzung der Atomenergie, blieben damit aber in der Minderheit. Die Sozialdemokraten setzten sich mit ihrem Vorschlag durch, zunächst sechs weitere Reaktoren in Betrieb zu nehmen, bis 2010 aber aus dem Atomprogramm auszusteigen.
Nach Tschernobyl hat der Bauernsohn Mats Karlsson wochenlang mit sich gerungen: »Bauern sind doch stabile Leute, da ist es nicht leicht, die Seiten zu wechseln.« Karlsson mußte um seine Glaubwürdigkeit fürchten, »aber ein Mensch, der sich nicht ändern kann, wenn das Fundament seiner Meinung zerstört wird, ist kein guter Mensch«.
Opportunisten, wie sie sich in den letzten Monaten zuhauf den AKW-Gegnern angebiedert haben, drücken sich anders aus.
Für Karlsson »steht nun die Arbeit meines Vaters und dessen Vaters, insgesamt die Errungenschaften der letzten tausend Jahre auf dem Spiel«. Barsebäck soll deshalb sofort geschlossen werden, alle anderen AKWs bis 1995.
Inzwischen weiß Karlsson 85 Prozent der Bauern hinter sich. Die durch Tschernobyl verursachten Strahlenschäden im Mittelteil Schwedens haben das große Umdenken beschleunigt, auch bei den kaum betroffenen Landwirten im Süden, entlang der »Goldküste« des Landes.
In unmittelbarer Umgebung des Atommeilers Barsebäck hingegen wird gedacht wie in der Tschechoslowakei, in Frankreich und in der Bundesrepublik. Je näher am Kraftwerk, desto sicherer fühlen sich die Menschen - unabhängig davon, ob sie von den Arbeitsplätzen im jeweiligen AKW abhängig sind. Der Verwaltungsbezirk Barsebäck, wegen seiner Nähe zu den Städten Lund und Malmö nie von großer Arbeitslosigkeit betroffen, verzeichnete bei der Volksabstimmung 1980 den höchsten Anteil von Atombefürwortern in Schweden. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
In einem Informationspavillon des AKW-Betreibers Sydkraft hält eine Angestellte den Geigerzähler über einen Junghans-»Biovox«-Wecker, ein Schaustück aus den 20er Jahren. Als das Strahlenmeßgerät ausschlägt, meint sie herausfordernd: »So etwas würde ich wegwerfen, das ist zu gefährlich.«
Über das Kernkraftwerk jenseits der Straße sagt sie, was auch überall sonst zu hören ist: »Absolut sicher«.
[Grafiktext]
GRENZNAHE ATOMKRAFTWERKE 1 Kernkraftwerk Dokovany Kernkraftwerke Jaslovske Bohunice 1,2,3,4 2 Kernkraftwerke Fessenheim 1 und 2 3 Kernkraftwerke Barsebäck 1 und 2
[GrafiktextEnde]
Text auf dem linken Bus: »Soll Kopenhagen oder Barsebäckdichtgemacht werden?«