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»Wer wirft den Feind aus der Rhön?«

Die Bundeswehr ist für ihre Aufgabe ungeeignet / Von Bundeswehrgeneral Franz Uhle-Wettler Das bundesdeutsche Heer ist übertechnisiert und deshalb zur Verteidigung nicht voll tauglich. Es ist mit seinen »Leopard«-Panzern und »Marder«-Schützenpanzern eher eine Angriffswaffe. Mit dieser These, dargelegt in einer soeben veröffentlichten Studie, schockiert der Brigadegeneral Dr. Franz Uhle-Wettler, Kommandeur einer Panzerbrigade und ab 1. Oktober Planungschef im Nato-Hauptquartier Shape, die Bundeswehrführung. Auszug: Franz Uhle-Wettler: »Gefechtsfeld Mitteleuropa, Gefahr der Übertechnisierung von Streitkräften«. Bernard & Graefe Verlag; 172 Seiten; 12,80 Mark.
aus DER SPIEGEL 25/1980

Jeder Militär weiß, daß Gliederung, Bewaffnung und Ausrüstung einer Truppe auf den voraussichtlichen Auftrag und auf das Gelände des voraussichtlichen Einsatzraumes abgestimmt sein müssen. Deutschland jedoch besitzt zahlreiche Mittelgebirge, die selbst unsere hochmechanisierten Verbände unbeweglich machen, d. h. auf Straßen und Wege einschränken.

Zudem ist fast ein Drittel jedes Quadratkilometers, knapp 30 Prozent des Raumes, mit Wald bedeckt, der ebenfalls die Beweglichkeit mechanisierter Verbände einschränkt und sowohl Sicht als auch Wirkungsmöglichkeiten von Flachfeuerwaffen einschneidend begrenzt.

Und schließlich liegt in jedem Quadratkilometer durchschnittlich eine Ortschaft von 230 Einwohnern, deren Häuser, anders als in Rußland, aus festen Steinen gebaut sind.

Jedes Gefecht in Deutschland ist also unweigerlich auch ein Gefecht um Ortschaften oder Wälder, oft genug auch ein Gefecht im Mittelgebirge. Das aber führt zu einer Reihe von drängenden Fragen:

Erstens: Einem angreifenden Verband wird in der Bundeswehr üblicherweise befohlen, »ohne Rücksicht auf noch haltende Feindteile« vorzugehen. Das ist richtig und entspricht der Praxis des Zweiten Weltkrieges.

Aber damals folgten den angreifenden Panzerverbänden starke Infanteriekräfte und kämpften den noch haltenden Gegner nieder, ganz abgesehen davon, daß der Infanterieanteil in den mechanisierten Großverbänden selbst wesentlich stärker war. Heute aber haben die nachfolgenden Verbände -falls es sie überhaupt gibt -- kaum noch Infanterie.

Wer säubert aber dann die ausgedehnten Waldzonen der Heide, aus denen heraus der Gegner immer wieder zum Angriff auf die nachfolgende Artillerie, auf die Stäbe, die Nachschubtruppenteile und die Versorgungseinrichtungen antreten kann?

Wer kämpft die Knicklandschaft Schleswig-Holsteins und die zahlreichen Dörfer, Städte, Fabriken und Industriezonen aller deutschen Landschaften frei? Wer wirft die feindlichen MotSchützen aus den Wäldern der Rhön, des Steigerwaldes und des Rheinhardtswaldes, in die sich Panzer nur unter starkem Grenadierschutz hineinwagen dürfen?

Zweitens: Bei Verteidigungsübungen liegen die Stellungen vorzugsweise in offenem Gelände oder bestenfalls in einer »Enge« zwischen Dörfern und Wäldern.

Dort liegen sie richtig, denn unsere Truppenteile sind auf weitreichendes Flachfeuer gezüchtet worden und können dieses Potential nur in offenem Gelände einsetzen.

Aber der Ausdruck »Enge« ist verräterisch und zudem falsch. Er zeigt, daß wir das bedeckte Gelände falsch beurteilen. Selbst ein mechanisierter Gegner kann unsere Ortschaften und Wälder mühelos durchfahren, solange wir dort nicht starke Truppen einsetzen.

Er findet dort zudem Schutz vor unserem weitreichenden Flachfeuer, vor allem vor unseren Panzerabwehrlenkraketen und unseren Panzerabwehrhubschraubern. Kein Geringerer als Moltke hat schon vor mehr als hundert Jahren gewarnt: »Je weniger der frontale Angriff Aussicht auf Erfolg hat, um so gewisser wird sich der Gegner gegen unsere Flügel wenden ... Die Flügel an ein nur im allgemeinen bedecktes und schwieriges Terrain anzulehnen entspricht den Verhältnissen nicht mehr, denn gerade ein solches muß der Angreifer aufsuchen.«

Was geschieht also, wenn der Gegner die Engen, die keine Engen sind, umgeht, spätestens wenn er sich am frontalen Vorgehen durch die »Enge« gehindert sieht?

Was geschieht, wenn der Gegner mit starken Kräften durch die Wälder und Ortschaften vorgeht? Was geschieht, falls der Gegner 1980 oder 1990 als richtig erkennt, was Moltke schon 1865 erkannte? Wer verhindert dann, daß der Gegner eine Taktik anwendet, zu der die russische Armee bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg immer wieder gegriffen hat und die den Nordkoreanern, aber nicht nur ihnen, erstaunliche Erfolge brachte?

Griffen nicht schon 1940 drei deutsche Panzerkorps quer durch die Ardennen und damit quer durch ein Gelände an, das für den Kampf mechanisierter Verbände schlecht geeignet war, aber mühelos durchstoßen werden konnte, weil es unzureichend verteidigt wurde?

Damals haben zwei Faktoren einen der glänzendsten Siege der neueren Kriegsgeschichte ermöglicht: der Irrglaube S.49 des Verteidigers, der mechanisierte Angreifer werde bedecktes Gelände meiden, und der Entschluß des Angreifers, eben dieses Gelände deshalb zu nutzen, weil es unzureichend verteidigt wurde.

Sind wir heute gewillt und in der Lage, das bedeckte Gelände ausreichend zu verteidigen? Haben wir Truppen, die wir in Ortschaften, Industriezonen, Wäldern und Mittelgebirgen einsetzen können? Wer von uns hält im Nachtkampf das hessische Bergland, den Spessart, den Odenwald, den Frankenwald und das Fichtelgebirge?

Die Ortschaften, Wälder, Mittelgebirge und Industriezonen sind viel zu groß, als daß wir sie dem Gegner kampflos überlassen dürften; der Gegner würde uns einfach ausmarschieren. Aber sollen wir denn unsere mechanisierten Verbände, also wenige »Marder« und viele »Leoparden« 1 oder bald gar »Leoparden« 2, planmäßig zum Orts- und Waldkampf einsetzen?

Drittens: Das Stadtgebiet Hamburgs umfaßt etwa 180 Quadratkilometer bebauten Geländes. Eine zum Angriff auf eine Stadt dieser Größe angesetzte Panzergrenadierdivision dürfte also auf jedem Quadratkilometer -- und das sind oft Tausende von Häusern -- nicht einmal zehn Grenadiere verlieren, will sie mit ihrem allerletzten Grenadier wenigstens noch den jenseitigen Stadtrand erreichen.

Anschließend muß sie sowieso herausgezogen werden, denn ihre Grenadiere haben sich verblutet. Was soll aber eine Division tun, in deren Gefechtsstreifen eine Großstadt liegt?

Richtig: Mit Rücksicht auf die Bevölkerung werden wir das Gefecht um die großen Ballungsräume zu vermeiden suchen. Aber das Aussparen hat seine Grenzen: Was soll eine Brigade tun, die um Städte oder Industriezonen von der Größe Wolfsburgs und Peines, des Volkswagenwerkes, Fuldas, Göttingens, Schweinfurts oder Hofs kämpfen soll?

Mit dem Terminus »bewegliche Gefechtsführung« lassen sich diese Fragen nicht ausreichend beantworten. Der Terminus würde sonst zur Phrase. Eine Gefechtsführung ist nicht mehr beweglich, wenn sie mit den Wäldern fast 30 Prozent des deutschen Geländes meiden und mit den Ortschaften weitere 11 Prozent umgehen muß.

Der Verteidiger kann diese großen Räume nicht aussparen, der Angreifer kann sie nicht alle umgehen. In der Verteidigung muß auch die beweglichste Gefechtsführung dem Feind das Vorgehen durch ausgedehntere bedeckte Räume verwehren; der Gegner stünde sonst bald vor unserer Artillerie und unseren Stäben und würde die Kampftruppe von hinten fassen.

Im vergangenen Krieg hat der verteidigende Gegner die Ortschaften und Wälder häufig freiwillig geräumt. Er hat darauf verzichtet, durch stehengelassene Infanterieverbände den deutschen Panzerkeilen den Nachschub abzuschneiden.

Damals wußte der Gegner jedoch, daß ein abgeschnittener Truppenteil sehr bald von starken Infanterieverbänden angegriffen und über kurz oder lang vernichtet werden würde.

Heute braucht der Gegner das nicht mehr zu befürchten. Truppenteile, an denen der Gegenangriff eines deutschen mechanisierten Großverbandes vorbeistößt, wären in jedem größeren Waldgebiet und jeder größeren Ortschaft so sicher wie in Mutters Schoß; kein Mensch kann sie behelligen.

Im vergangenen Krieg hat der angreifende Gegner seine Panzeroperationen oft in offenem Gelände angesetzt. Der Grund ist einfach: Unsere starke Infanterie verschloß ihm das bedeckte Gelände.

Das ist heute anders. Unsere für das bedeckte Gelände vorgesehenen Jägerbataillone werden aufgelöst; sie waren ohnehin keine glückliche Konstruktion.

Die Panzergrenadiere aber sind für das Gefecht in bedeckten Räumen keineswegs uneingeschränkt geeignet. Ein guter Teil ihres Potentials steckt in der Beweglichkeit des Schützenpanzers »Marder« und in der Panzerabwehrrakete.

Die Panzerabwehrlenkrakete aber ist im Wald nicht einsetzbar. Es bleibt nur die 20-mm-Kanone des Marder und die fünf Panzergrenadiere, die zusammen mit ihrem Gruppenführer absitzen. Sie führen das Verteidigungsgefecht.

Rein rechnerisch und bei linearer Aufstellung liegt alle 120--150 Meter solch ein Grüppchen. Und dahinter ist nichts. Höchstens hie und da ein kleiner Stab, eine Feldküche oder ein Verbandsplatz. Für den angreifenden wie für den verteidigenden Gegner entfällt somit der Grund, das bedeckte, infanteriegünstige Gelände zu meiden.

Im Angriff kann er dort durchstoßen. In der Verteidigung kann er in diese Räume ausweichen und von dort aus allem, was den vorbeistürmenden Kampftruppen folgt, den Weg nach vorn abzuschneiden versuchen.

Das wäre in einzelnen, eng umgrenzten Räumen, zwischen Hannover und Braunschweig, zwischen Paderborn und Unna sowie im Umkreis von Schweinfurt ungefährlich. Wälder sind dort selten, und die Ortschaften liegen isoliert inmitten großer freier Flächen, die der Panzer beherrscht.

In anderen, mindestens ebenso großen Teilen Deutschlands aber würde eine solche Taktik zwingen, in die bedeckten Räume hineinzugehen. Hierzu aber sind unsere Panzergrenadierverbände viel zu schwach.

Eine andere Infanterie wird die Bundeswehr bald nicht mehr besitzen. Unsere S.52 Leoparden-Verbände wird man doch aber schwerlich gern und planmäßig zum Orts- und Waldkampf einsetzen wollen?

Kritisch für die Verteidigung ist auch die drastische Reduzierung der Zahl der kämpfenden Soldaten. Sie ist nur ein Teil des Preises, den mechanisierte Heere für die Vorteile der Technisierung zu zahlen haben.

Ein weiterer und wichtiger Teil besteht in der Verschlechterung der Qualität bei demjenigen Personal, das der ohnehin verkleinerten Kampftruppe zugewiesen werden kann. Das ist am deutlichsten bei den Panzergrenadieren und noch immer deutlich bei den Panzerbesatzungen zu beobachten.

Der Qualitätsverlust der Kampftruppensoldaten ist am leichtesten anhand der Intelligenznoten nachzuweisen. Hier sind meßbare Werte und Zahlen verfügbar.

Sicherlich ist die Intelligenz nicht der einzige Maßstab für die Kriegstüchtigkeit eines Soldaten. Aber die Anforderungen des modernen Gefechts und mancher moderner Waffen sind von Dummen schwerer zu bewältigen als von intelligenten Soldaten, die sich den Ausbildungsstoff leichter und gründlicher aneignen konnten.

Bei der Musterung unterzieht sich der Wehrpflichtige einem Intelligenztest. Hierbei schneiden Sonderschüler im Durchschnitt mit der Note 5,43 ab, Hauptschüler ohne Abschluß haben 5,11, Hauptschüler mit Abschluß 4,35, Abiturienten 3,05.

Diese Intelligenznoten spielen eine wichtige Rolle, wenn die Teilstreitkraft und die Truppengattung festgelegt werden, zu der ein Wehrpflichtiger einberufen wird.

Wehrpflichtige mit besonders schlechten Noten dürfen zum Bundesgrenzschutz und zur Marine von vornherein nicht einberufen werden, auch die Luftwaffe nimmt kaum einen von ihnen. Sie bleiben allein dem Heer vorbehalten.

Das Heer wiederum hat, wie auch die anderen Teilstreitkräfte, für jede militärische Tätigkeit, vom Ladeschützen über den Sanitätssoldaten bis zum Horchfunker, festgelegt, welche Intelligenznote die für diese Verwendungen vorgesehenen Wehrpflichtigen erfüllen müssen.

Wie zu erwarten: Hohe Forderungen werden fast ausschließlich an Soldaten für Rückwärtige Dienste, vor allem für Fernmeldeeinheiten und Stäbe gestellt. Die »Dummen« bleiben also dem Heer und innerhalb des Heeres vor allem der Kampftruppe und hier den Panzergrenadieren vorbehalten.

Wer nur die Note 4,6 erreicht, darf noch Ladeschütze eines Panzers werden und damit eine Funktion erfüllen, die in manchen Panzertypen längst durch eine Maschine wahrgenommen wird. Wer noch viel »dümmer« ist und mit 5,4 nur die Note eines Sonderschülers erreicht, darf nur noch Pionier oder Panzergrenadier werden.

Diesen Truppengattungen dürfen »im Regelfall« sogar Soldaten zugewiesen werden, die lediglich die Note 5,8 erreichen. Ganz offiziell erhält also das Heer die statistisch am wenigsten intelligenten Wehrpflichtigen.

Diese negative Auslese verfälscht jedoch den Zweck der Streitkräfte. Der ganze umfangreiche Führungs- und Versorgungsapparat moderner Streitkräfte, vom Verteidigungsministerium über das Territorialheer bis zum Kompaniefeldwebel, hat doch als einzige Aufgabe die: den Panzer, den Schützenpanzer, den Grenadier und das Geschütz richtig auszubilden, zur Abschreckung zu verwenden und zweckmäßig ins Gefecht zu bringen.

Der Zweck unserer Armee manifestiert sich im Panzer, im Grenadier und im Geschütz -- nicht in Stäben, Führungs- und S.54 Versorgungstruppen oder im Ministerium, so wichtig sie alle sind.

Der ganze rückwärtige Apparat, der Schaft des Speeres, zu dem wir unsere besten Wehrpflichtigen einberufen, verliert Sinn und Daseinsberechtigung, wenn die Spitze des Speeres stumpf bleibt.

Die Nato hat lange Zeit versucht, zur Verteidigung Mitteleuropas dreißig Divisionen, darunter zwölf deutsche aufzustellen. Dieser Absicht mag die weitverbreitete Überzeugung zugrunde gelegen haben, eine Verteidigung ließe sich bei einem Kräfteverhältnis von 1:3 noch erfolgreich führen.

Der Zweite Weltkrieg scheint diese These zu bestätigen. In vielen Abwehrschlachten wurde auch ein drei- und vierfach überlegener Angreifer geschlagen, sowohl im Osten wie auch im Westen. Aber diese Überlegenheit war immer nur in eng umgrenzten Räumen vorhanden, nicht an der gesamten Ost- oder Westfront.

Der Irrglaube, zur Abwehr genüge auch in großen Räumen ein Kräfteverhältnis von 1:3, läßt im Herbst 1943 einen Erfolg der deutschen Verteidigung als sicher erscheinen. Aber als Generaloberst Jodl die genannten Zahlen mitteilt, ist die deutsche Ostfront längst ins Rutschen gekommen.

Trotz aller Tapferkeit der Soldaten und trotz aller Führungskunst wird sie bis nach Berlin nicht wieder zum Stehen zu bringen sein.

Auch die großen deutschen Offensiven widerlegen die populäre These, man dürfe um das Dreifache unterlegen sein und doch auf den Erfolg der Verteidigung hoffen. Im Frankreichfeldzug kämpfte die deutsche Wehrmacht zwar mit einer überlegenen Luftwaffe (wohl rund 3000 gegen 2000 Maschinen) und einer besseren Panzertaktik. Aber die Zahl der Divisionen war fast gleich. Zusätzlich konnten sich die Alliierten auf starke, kräftesparende Festungen stützen.

Ihre Panzer waren an Zahl und Qualität eindeutig überlegen; etwa 3000 mit Kanonen ausgerüstete Panzer fochten gegen 1200 deutsche, sowie 1500 weitere deutsche Panzer, die nur mit MG oder 2-cm-Kanonen ausgerüstet und mithin für den Panzerkampf untauglich waren.

Die Russen waren schon bei Beginn des Ostfeldzuges turmhoch überlegen, und Rommel schließlich hat alle seine Erfolge gegen einen Gegner erfochten, der nicht nur an Zahl, sondern auch an Qualität des Materials erheblich überlegen war.

Die Kriegsgeschichte liefert demnach zahlreiche Beispiele dafür, daß selbst größte operative Erfolge bei Kräftegleichheit oder bei Unterlegenheit des Angreifers errungen werden können. Freilich haben dann nicht selten Führungsfehler des Gegners eine nennenswerte Rolle gespielt.

Aber vorläufig ist noch ungewiß, ob die Verbände der Nato, einer in sich nicht immer einigen Koalition, oder die wesentlich straffer organisierten Truppen des Warschauer Paktes glücklicher geführt werden.

Die Truppen eines Bündnisses danach zu bemessen, der Gegner werde ungeschickter führen, würde aber allen vernünftigen Grundsätzen widersprechen.

Selbst der Hinweis auf Atomwaffen kann das bestehende Kräfteverhältnis -- etwa 1:3 oder noch schlechter -nicht rechtfertigen. Der Gegner hat ebenfalls Atomwaffen.

Er kann sie zudem in einem auf Nato-Territorium geführten Gefecht wesentlich rücksichtsloser einsetzen als wir. Vor allem aber ist es ungewiß, ob Atomwaffen den Angreifer oder den Verteidiger begünstigen.

Die Vorstellung, man könne eine Verteidigung auch bei einer Unterlegenheit von 1:3 noch mit Aussicht auf Erfolg führen, gilt demnach bestenfalls in eng umgrenzten Verhältnissen, die dem Gegner ein Operieren nicht gestatten, also für das Gefecht eines Bataillons oder einer Brigade, vielleicht noch einer Division.

Der Angreifer hat strategisch die Initiative, die ihm die Nato aus vielerlei Gründen zugestehen muß. Zudem schützt ihn auch die Schwäche der Nato vor jedem Präventivschlag.

Der weiträumig 1:3 überlegene Angreifer kann sich demnach in großen Räumen mit Kräftegleichheit begnügen oder sogar eine Unterlegenheit in Kauf nehmen.

Dort, wo er die Entscheidung sucht, kann er jede gewünschte Überlegenheit aufbauen, bis das Gelände gefüllt ist. Er wird dann über kurz oder lang durchbrechen und ganze Frontabschnitte einstürzen -- wie 1943 bis 45 immer wieder geschehen. Mit demjenigen Kräfteverhältnis, das in Mitteleuropa S.55 im Frieden, also derzeit, nach beiderseitiger Mobilmachung und nach dem beiderseitigen vollständigen Aufmarsch besteht, läßt sich eine konventionelle Verteidigung nicht mit Aussicht auf Erfolg führen.

Vor allem aber: Selbst das bescheidene Ziel, ein allgemeines Kräfteverhältnis von 1:3 zu erreichen, ist der Nato nicht vergönnt. Und weit und breit ist niemand zu sehen, der uns zusätzlich Kräfte stellen könnte.

So entsteht eine unwirkliche Lage: Schon das Erkämpfen eines ausreichenden Verhandlungsspielraums wird für die konventionellen Streitkräfte der Nato keine leichte Aufgabe sein.

Sicher ist, daß sie nach erfolgreicher Abwehr einer Aggression dem Gegner seinen Erfolg nicht wieder entreißen können. Völlig abwegig wäre die Vorstellung, sie könnten nach erfolgreicher Abwehr dem Gegner den Willen der eigenen politischen Führung aufzwingen und ihn so zum Frieden unter Bedingungen veranlassen, die für beide Seiten tragbar sind.

Andererseits aber wird sehenden Auges darauf verzichtet, Truppen in der erforderlichen Stärke aufzustellen. Wir haben zwar theoretisch die mächtigste Militärkoalition der Geschichte. Sie begnügt sich aber mit Kräften, die jedem Maßstab zufolge unzureichend sind.

Es sind in Mitteleuropa weniger Divisionen, als im Zweiten Weltkrieg ein drittklassiger Staat wie Polen ins Feld stellte.

Was verhindert, daß die Bündnispartner der Nato ausreichend Truppen zur Verfügung stellen? Es sind vor allem zwei Gründe:

* einmal die immensen Kosten mechanisierter Divisionen,

* zum anderen die Überzeugung, daß nur hochtechnisierte Divisionen auf dem modernen Gefechtsfeld sinnvoll verwendet werden können.

Eine Lösung kann wiederum nur in einfacheren Divisionen zu suchen sein. Dagegen lassen sich zahlreiche und gewichtige Einwände erheben. Sie können jedoch alle nicht die Tatsache verbergen, daß uns der gegenwärtige Weg in eine Sackgasse geführt hat.

Wenn wir nicht genügend mechanisierte Divisionen aufstellen können, so müssen eben neue Wege gesucht werden. Wir müssen uns etwas mehr einfallen lassen, als mit gefalteten Händen in den alten Pfaden weiterzulaufen -auf den Lippen das Bedauern darüber, daß die Politiker uns nicht mehr Geld geben.

Schon öfters in der Geschichte, zuletzt im finnischen Winterkrieg und in Korea, aber auch in Vietnam haben leicht gerüstete, aber in schwierigem Gelände hochbewegliche Truppen schwer gerüstete Gegner geschlagen.

S.48Franz Uhle-Wettler: »Gefechtsfeld Mitteleuropa, Gefahr derÜbertechnisierung von Streitkräften«. Bernard & Graefe Verlag; 172Seiten; 12,80 Mark.*S.54unten: beim Manöver »Blaue Donau« 1978.*Oben: beim Manöver »Harte Faust« 1979;*

Franz Uhle-Wettler

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