Spionage »Werther hat nie gelebt«
Für Millionen Deutsche waren sie die raffiniertesten Spione der Welt. Sie saßen an den Schalthebeln des Dritten Reiches, sie waren Männer ohne Gesicht, ungreifbar und allgegenwärtig.
Keiner kannte ihre Namen, doch unzählige Bücher, Hunderte von Zeitungsartikeln hielten ihre Taten fest: Von einer sowjetischen Spionage-Zentrale in der Schweiz dirigiert, sollten sie den Sowjets auch die geheimsten Panzerschränke deutscher Generalstäbe und Ministerien geöffnet haben.
Als der Krieg zu Ende war, machten sich flinke Autoren auf, das Geheimnis der Verräter zu lüften. Denn die Spione hatten eine Spur hinterlassen: Die im Krieg von der deutschen Abwehr aufgefangenen und entschlüsselten Funksprüche der roten Spionagegruppe in der Schweiz enthielten Decknamen, die offenbar die Agenten in Hitlers Umgebung getarnt hatten.
Da gab es einen »Werther2, der im Oberkommando der Wehrmacht spionierte, da forschte ein »Teddy« das Oberkommando des Heeres aus, Ja machte »Olga« das Oberkommando der Luftwaffe unsicher, da spitzelte »Bill« im 1-leereswaffenamt. Vor allem Werther faszinierte die Spurenleser; er galt ihnen als »der große geheimnisvolle Mann der sowjetischen Militärspionage in der deutschen Führung, (so Autor Paul Carell).
Doch die Jagd nach den Tätern war zum Scheitern verurteilt. Kein Kriminalist, kein Historiker wird Werther jemals finden. Denn: Er und seine Komplicen haben nie gelebt.
Sie waren nur Phantasieprodukte eines kleinen, rundlichen Mannes, der die rote Agentengruppe in der Schweiz leitete: Sandor Radó (Deckname: »Dora"), ungarischer Kartograph und Oberst der Roten Armee, hatte die Figur des Werther und dessen Helfer erfunden, um den Auswertern des Moskauer Spionage-Chefs ("Direktor") die Bearbeitung der Funksprüche zu erleichtern.
Jedem Bereich der deutschen Führung, über den Agenten-Meldungen eingingen, gab Radó einen Kenn-Namen. Er erinnert sich: »Werther bedeutete zum Beispiel Wehrmacht. Olga -- Oberkommando der Luftwaffe. Anna
Auswärtiges Amt. Auch ,Teddy', ,Ferdinand', ,Stefan' und ,Fanny' tarnten
* Sandor Radó: »Deckname Dora«, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart; 450 Seiten; 32 Mark.
nicht Personen, sondern Informationen.«
Derartige Bekenntnisse hat der heute 72jährige Geographie-Professor an der Universität Budapest in einem Erinnerungsbuch niedergeschrieben, das im Herbst auch in Westdeutschland erscheinen wird*. Es gilt Branchen-Kennern als eine sensationelle Novität: Zum erstenmal breitet ein roter Agentenchef die Geschichte seiner Spionagegruppe vor aller Welt aus.
Der Memoirenschreiber zieht freilich eine ernüchternde Bilanz. Radó: »Wir dürfen nicht glauben, daß die Gruppe Schweiz unfehlbar war. In unsere Informationen mengten sich auch Fehler. Daraus folgt, daß sich die Zentrale gewiß nicht allein auf die Informationen der Gruppe Schweiz verließ -- im Gegensatz zu den Behauptungen westlicher Autoren.«
Die Formulierung verrät, daß die Sowjets mit der Veröffentlichung der Radó-Memoiren einen bestimmten Zweck verfolgen. Seit westliche Autoren Radós Gruppe zu einer kriegsentscheidenden Wundertruppe emporstilisieren, sehen sich die sowjetischen Militärs ihres Anspruchs beraubt, allein sie hätten mit der Roten Armee den Hitler-Faschismus besiegt. Radós Geständnisse über die Relativität seiner Arbeit sollen das Ruhmesschild der Roten Armee wieder blankputzen.
Dennoch zögerte Moskau lange Zeit. das Buchprojekt Radös zu genehmigen. Er mußte fünf Jahre warten, ehe sich ihm die sowjetischen Geheimarchive öffneten. Radó erleichterte durch eine Art Selbstzensur den sowjetischen Genossen die Entscheidung. Er verwischte so manche Spur: Radó erfand neue Decknamen, änderte Klarnamen ab, überging wesentliche Zusammenhänge und Verbindungen.
Trotz solcher Vertuschungen wird Radös Enthüllungsbuch dazu beitragen. die Legenden um eine der größten Spionage-Organisationen des Zweiten Weltkriegs zu zerstören. Seine Mitteilungen offenbaren, was auch zusätzliche Nachforschungen bestätigen: Radós Trupp war keine Gruppe von Meisteragenten.
Sie waren eher Laien-Spione, zusammengehalten und angetrieben durch gemeinsame antifaschistische Überzeugungen. Ohne militärischen Sachverstand. erkannten sie oft kaum den Wert der Meldungen, die ihnen der Zufall und der Schweizer Geheimdienst zuspielten. In der Schweiz ein Schweigenetz gegen Deutschland.
Niemand personifizierte das nachrichtendienstliche Mittelmaß der Gruppe überzeugender als Sandor Radó. Der Kaufmanns-Sohn aus Újpest, 1899 geboren, im Ersten Weltkrieg zum Kommunisten geworden, Polit-Kommissar eines roten Regiments, kurze Zeit im konspirativen Dienst der Komintern, hatte immer nur Kartograph werden wollen.
Von ihm stammte ein Reiseführer der Sowjet-Union, er hatte den ersten Flugreise-Führer der Welt entworfen. Er galt als einer der umworbensten Geographen und Kartographen Europas. Erst Hitlers Machtantritt -- er vertrieb Radó aus seinem Exil Berlin -- verband ihn mit dem sowjetischen Geheimdienst: 1936 ging er in die Schweiz mit dem Auftrag, dort einen kartographischen Kartendienst aufzubauen, in dessen Schatten ein »Schweigenetz« der sowjetischen Deutschland-Spionage entstehen sollte -- bereit für den Fall, daß Hitler die Sowjet-Union überfiel.
Ab April 1938 führte Radó von seiner Agentur »Atlas Permanent S.A.« in Genf aus eine kleine Agentengruppe, die sich um den Berner Journalisten Otto Pünter scharte, einen Linkssozialisten, der einen Pressedienst herausgab. Pünter hatte sich einen seltsamen Decknamen zugelegt: »Pakbo«, eine Zusammenstellung der Anfangsbuchstaben jener Orte, in denen er sich mit seinen V-Männern traf. Seine Informanten saßen in deutschen, italienischen und jugoslawischen Städten.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stieß zu Radó eine zweite
Agentengruppe, deren Führerin -- von Radó nur »Sonja« genannt -- Auftrag hatte, Radós Organisation in Schwung zu bringen. Sonja war die Berliner Soziologen-Tochter Ursula Kuczynski, Schwester des späteren DDR-Wirtschaftswissenschaftlers Jürgen Kuczynski, mit dem Sowjetagenten Rudolf Hamburger verheiratet.
Sonja wurde von zwei britischen Mitarbeitern assistiert, dem Funker Alexander Foote ("Jim") und dem Chifferer Léon Charles Beurton ("Jack"). Die Chefagentin und andere Sendboten der Zentrale verschafften, was Radó dringend benötigte: Funkgeräte, Geheimkodes, Geld, neue Mitarbeiter.
Das spornte Radó an, seine Organisation zu verbessern. Er befahl Pünter. neue Informanten zu werben. Foote und Beurton halfen mit, die Basis des Unternehmens zu erweitern; sie heuerten in Süddeutschland Informanten an und besorgten Deckadressen.
Der Zusammenbruch Frankreichs im Sommer 1940 spielte Radó neue Informanten zu, darunter gaullistische Offiziere wie den Journalisten Georges Blun ("Long") und einen Berlin-kundigen Elsässer mit dem Decknamen »Salter«. Von Woche zu Woche wuchs die Agentenschar Radós, immer mehr Antifaschisten schlossen sich ihm an.
Sonja und Beurton verließen kurz darauf die Schweiz. Da trat eine neue Agentengruppe aus dem Dunkel heraus, wiederum von einer Frau geführt: Rachel Dübendorfer (Radó stellt sie allerdings in seinem Buch unter dem Pseudonym Esther Bösendorfer vor).
Die polnische Komintern-Beauftragte Rachel Heppner, geschiedene Caspari, mit dem Schweizer Heinrich Dübendorfer verheiratet und Sekretärin im Internationalen Arbeitsamt. arbeitete
seit 1935 in Genf. »Sissy« (so ihr Deckname) standen zwei Männer zur Seite: der Alt-Kommunist Paul Böttcher, Sachsens ehemaliger Finanzminister. mit dem Sissy nach der Trennung von Dübendorfer zusammengezogen war, und Christian Schneider. Emigrant aus Wiesbaden und Ex-Journalist (Deckname: »Taylor").
Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 in die Sowjet-Union einfiel, war die Radó-Gruppe einsatzbereit. Von der ersten Stunde an informierten ihre Funksprüche den sowjetischen Generalstab über deutsche Absichten, Stärken und Schwächen. »Dora an Direktor«, »Dora an Direktor« -- schier pausenlos drangen die Meldungen und Warnungen Radós durch den Äther.
Oft saß Foote mehr als fünf Stunden in der Nacht an seinem Gerät, um die vielen Meldungen durchzugeben. Er konnte die Papierstoße nur noch mühsam bewältigen. Funkunterricht
bei Monsieur Weber.
Radó ließ sich von Genfer Kommunisten zwei zuverlässige Antifaschisten nennen, die sich eigneten, Foote zu unterstützen. Der Linkssozialist Edmond-Charles Hamel und seine Frau Olga waren dazu bereit; Hamel besaß ein Radiofachgeschäft in Genf und ließ sich gerne von »Monsieur Weber« (unter diesem Namen hatte sich Radó eingeführt) in nächtlichen Instruktionsstunden als Funker ausbilden.
Ab Frühjahr 1942 entlastete das Funker-Ehepaar »Eduard« und »Maud« den übernächtigten Foote -- am selbstgebastelten Sendegerät, das in Harneis Werkstatt stand. Aber auch diese Verstärkung genügte Radó noch nicht. Er fand einen dritten Funker, abermals eine Frau, die freilich auch seinen amourösen Bedürfnissen genügte: Margrit Bolli (Deckname: »Rosa"), Kassiererin in dem Genfer Restaurant »Stäfffen«.
Bald funkten drei Geräte nach Moskau und beförderten immer zahlreichere Informationen in die Zentrale. Doch die Fülle der Funksprüche stand in einem argen Gegensatz zu ihrer Qualität.
Die meisten Mitarbeiter Radös waren allzu isoliert, um dem sowjetischen Generalstab bieten zu können, was er in der größten Not der Roten Armee dringend benötigte: konkrete Details über deutsche Verbände, Truppenbewegungen, Offensivpläne. Sie konnten nur weitergeben, was sie von zweiten und dritten Personen hörten. Keiner von ihnen saß in einer deutschen Dienststelle.
Entsprechend schwammig fielen ihre Meldungen aus. Da sollte bis Ende 1941 die Wehrmacht 1,2 Millionen Mann an der Ostfront verloren haben -- eine Überschätzung um eine Million. Ein V-Mann kündigte deutsche Operationen gegen Schweden und die Türkei an -- sie wurden nie ernsthaft erwogen. Salter meldete 150 neue deutsche Divisionen -- 68 waren es in Wahrheit.
Radó funkte so manche Skurrilität nach Moskau. Er meldete 1942, in Berlin sei ein Reichsverteidigungsrat gegründet worden, und merkte nicht, daß der seit 1933 bestand. Er kürte den Generalfeldmarschall von Bock zum Oberbefehlshaber des Heeres und übersah. daß der Posten schon von Hitler besetzt war.
Die Meldungen der Radó-Gruppe stießen in Moskau auf wachsende Skepsis. Als die Spione -- diesmal zutreffend -- berichteten, die deutsche Sommeroffensive des Jahres 1942 gelte der Eroberung des sowjetischen Südens. ignorierte der Generalstab die lnformation und erwartete den Feind. wo er nicht erschien: im Raum Moskau.
Radös Agentengruppe wäre erfolglos geblieben, hätte sich ihr nicht eine fremde Macht genähert, die allen Grund hatte, einen deutschen Sieg im Osten zu fürchten. Der geheime Nachrichtendienst der Schweizer Armee spielte den roten Agenten Material zu, das direkt aus Hitlers Führerhauptquartier zu stammen schien.
Schweizer Agenten liefern Meldungen aus dem OKW.
Die unerwarteten Lieferungen stammten von zwei Schweizer Offizieren, die auf ihre Art das Vaterland vor einem Zugriff des übermächtigen deutschen Nachbarn schützen wollten.
Der Teufener Photohändler und Miliz-Hauptmann Hans Hausamann, ein eifernder Advokat Schweizer Wehrfreudigkeit, hatte Mitte der dreißiger Jahre unter dem Tarnnamen »Büro Ha« aus eigenen Mitteln einen privaten Geheimdienst geschaffen, der gutinformierte NS-Gegner in Deutschland als V-Männer unterhielt und auch Beziehungen zu fremden Geheimdiensten besaß.
Bei Kriegsausbruch wurde das Büro Ha dem offiziellen Schweizer Geheimdienst in lockerer Form attachiert: der Nachrichten-Sektion in der Generalstabsabteilung des Eidgenössischen Militärdepartements. Sie unterstand dem Oberstleutnant Roger Masson, der freilich keine allzu bezwingende Persönlichkeit war. Als eigentlicher Kopf der Sektion galt der Generalstabs-Hauptmann Max Waibel.
Deprimierende Erfahrungen als Gastoffizier auf der deutschen Kriegsschule und bei der Schweizer Gesandtschaft in Berlin, einer Hochburg eidgenössischer Hitler-Bewunderer, hatten Waibel zu einem erbitterten Gegner jeder Annäherung an das Dritte Reich werden lassen. In der Nachrichten-Sektion aber sah er eine geheime Bruderschaft der Wissenden, dazu berufen, die Schweizer Unabhängigkeit zu schützen: nach außen gegen die Deutschen, im Innern gegen die Anpasser in Armee und Regierung.
Waibel-Kamerad Alfred Ernst übernahm die Leitung des »Büros D« im Armeestab, das alle Deutschland- Meldungen sammelte, während Waibel in dem Stabsgebäude des Territorialkommandos 8 in Luzern die Nachrichtenstelle (NS) 1 errichtete. Auch das Büro Ha zog unter dem Kodenamen »Pilatus nach Luzern.
Luzern wurde zur eigentlichen Zentrale der Schweizer Deutschland-Spionage. Die NS 1 unterhielt in den Städten Außenstellen, meist besetzt mit Offizieren der Grenzbrigaden« die deutsche Deserteure, Flüchtlinge und Schweizer Rückkehrer aus Deutschland vernahmen. Einige zusätzliche Informationen erhielt Waibel über eine eigene Linie, der er den Kodenamen »Wiking« gab; sie verknüpfte ihn mit einem deutschen Kameraden aus Kriegsschul-Tagen, der als Übermittlungsoffizier im Führerhauptquartier diente. Auch ein OKW-Kurier, der regelmäßig zwischen Berlin und Bern verkehrte, ließ manches Detail nach Luzern gelangen.
Je reichhaltiger aber die Informationen flossen, desto stärker stellte sich Waibel die Frage, wie die gewonnenen Erkenntnisse zu verwerten seien. Es genügte nicht, das Material in den Panzerschränken des Schweizer Armeestabs abzuheften. Es mußte denen zugute kommen, die Hitler aktiv bekämpften: den Alliierten.
Mit den westlichen Geheimdiensten stand Waibel längst in Kontakt, aber zu dem stärksten Gegenspieler der Wehrmacht, der Roten Armee, fehlte eine Verbindung. Die Schweiz unterhielt keine diplomatischen Beziehungen zur Sowjet-Union. Waibel ahnte zwar, daß auch in der Schweiz sowjetische Agenten operierten -- er wußte jedoch nicht wo.
Da klärte ihn ein Mitarbeiter Hausamanns auf: Er kenne aus seiner Arbeit. am Internationalen Arbeitsamt eine ehemalige Kollegin namens Rachel Dübendorfer, von der er annehme, daß sie für eine kommunistische Spionage-Organisation arbeite. Der Name des Informanten: Christian Schneider, Radös V-Mann »Taylor«.
Es muß ungeklärt bleiben, ob der Schweizer Geheimdienst schon damals wußte, daß Schneider auch für die sowjetische Seite arbeitete. Unbezweifelbar aber ist, daß Schneider ermuntert wurde, gezielte Informationen des Waibel-Apparates in die Nachrichtenkanäle der Radó-Gruppe zu schleusen.
Der rote Agentenchef wunderte sich denn auch, als Taylor plötzlich ab Spätsommer 1942 »überraschend gut über die deutschen Operationen informiert war«. Seine Berichte wurden immer informativer; er lieferte Meldungen über deutsche Truppenbewegungen, Lagebilder, Rüstungsziffern.
An die Seite Schneiders trat ein zweiter Mann, noch rätselhafter als Schneider. Mitte November ließ Schneider »Sissy wissen, daß er seine Informationen von einem deutschen Freund erhalte, der bereit sei, den sowjetischen Nachrichtendienst regelmäßig mit Material zu versorgen« -- so Radó.
Order aus Moskau:
»Gebt Lucy gute Geschenke.«
Allerdings: »Taylor stellte auch Bedingungen. Sein Freund werde nur dann mit uns zusammenarbeiten, wenn wir nicht versuchten, seinen Namen, seine Adresse und seinen Beruf in Erfahrung zu bringen.« Moskau war einverstanden. Monatshonorar für den Taylor-Freund: 3000 Franken.
»Lucy«, wie Radó den großen Unbekannten taufte, befreite die rote Agentengruppe von dem Makel, über den deutschen Gegner ungenügend informiert zu sein. Er spielte »von nun an eine Schlüsselrolle in unserer Arbeit« (Radó).
Er beschrieb Cliquenkämpfe in der engsten Umgebung Hitlers, er detaillierte die rivalisierenden Fraktionen im OKW. Er skizzierte die Konzeptionen deutscher Offensivpläne, nannte Engpässe und Erfolge der deutschen Rüstung. Der Direktor war begeistert: »Geben Sie Lucy zum Neuen Jahr gute Geschenke.«
Lucy wurde in der Zentrale so populär, daß ihn Radó auf dem Papier multiplizierte, gleichsam eine ganze Truppe von Lucys schuf. Obwohl Lucy nie einen Informanten nannte und Radó nicht wußte, woher der Unbekannte seine Nachrichten bezog, dachte er sich für jeden Meldebereich Lucys Kenn-Namen aus, die zwar nur den Informationsfluß übersichtlicher machen sollten, zugleich allerdings auch als Decknamen echter V-Männer mißdeutet werden konnten.
»Werther«, »Olga« und all die anderen Phantasiegestalten Radós begannen. ein Eigenleben zu führen. Selbst Moskau glaubte an Lucys angebliche Unteragenten. »Erteilen Sie Auftrag an alle Leute der Gruppe Lucy«, funkte der Direktor wiederholt.
Lucys Hauptquelle: deutsche Deserteure.
So gute Informationen Lucy aber auch zuweilen lieferte -- ein Meisterspion war er nicht. Rudolf Roessler (dies sein Klarname) hatte allerdings früh genug begonnen, Material über die Wehrmacht zu sammeln. Der bayrische Förster-Sohn, 1897 geboren, 1933 von den Nazis als Geschäftsführer des christlich-konservativen Bühnenvolksbunds vertrieben, dann nach Luzern emigriert und Gründer des »Vita Nova«-Verlags, spürte seit seiner Flucht panische Angst vor dem neudeutschen Militarismus. Er legte sich ein Archiv an, das Hitlers Willen zum Krieg dokumentieren sollte.
Roessler stellte sich eine militärische Fachbibliothek zusammen und hob sich Meldungen aus der Presse auf (Bestand: etwa 20 000 Zeitungsausschnitte). Zugleich suchte er den Kontakt zu alten Freunden in Deutschland, er sprach auch deutsche Schweiz-Touristen an; was er hörte, notierte er sich und ordne-. te es in sein Archiv ein.
Der drohende Kriegsausbruch, aber auch die miserable Geschäftslage des Verlages brachten Roessler auf die Idee, sein Material kommerziell zu nutzen. Über den Hausamann-Konfidenten Dr. Wallner lieferte Roessler ab Sommer 1939 Material, das ihm aus seinem Bekanntenkreis in Deutschland zuging und das er mit Erkenntnissen aus dem eigenen Archiv auffüllte.
Roessler fertigte zunächst für das Büro Ha monatlich 80, später 130 Berichte (Honorar: 1550 Franken). Seine Meldungen erweckten auch das Interesse von Waibels NS 1. Der Stellvertreter Waibels, Hauptmann Bernhard Mayr von Baldegg, animierte ihn, der NS 1 ebenfalls Material zu liefern.
Waibel und Hausamann bedienten sich auch gerne des Informanten Roessler, als es galt, der Radó-Gruppe Material zuzuspielen. Jetzt kehrte sich das Verhältnis um: Roessler ließ sich von den Schweizern mit Informationen ausstatten, die er -- auf kleinen Zetteln an Schneider weitergereicht -- als Erkundungsergebnisse eigener Zuträger in Deutschland ausgab.
Hauptquelle seiner Informationen waren die Vernehmungsberichte. die Waibels Außenstellen über die Befragung deutscher Deserteure und Internierter verfaßten Mayr von Baldegg händigte sie ihm aus und reicherte sie durch zusätzliche Mitteilungen an. Allein 40 Deserteurberichte, so gestand Roessler später, habe er aufgrund der Mayr-Informationen geschrieben.
Das machte ihn freilich anfällig für allerlei Irrtümer und gegnerisches Spielmaterial. Denn: Roessler konnte an wichtigen Meldungen nur liefern, was er von den Schweizern erfuhr. Und der Schweizer Geheimdienst wußte nicht alles -- Grund für die zahllosen Lücken und Fehler in Roesslers Berichten. Autor Radó frisiert
die eigenen Funksprüche
Schon die Entree-Meldung, mit der Roessler seinem Freund Schneider eine Star-Rolle in Radós Organisation verschafft hatte, war eine Mischung aus Fakten, Halbwahrheiten und Irrtümern gewesen. Rad 6 hatte Schneider, um dessen Möglichkeiten zu prüfen, die Aufgabe gestellt, alle deutschen Verbände im Südabschnitt der Ostfront aufzuzählen. Roessler lieferte das Material, Rado funkte nach Moskau:
15. August 1942. An Direktor. Von Taylor. Ich nenne die Ziffern fast sämtlicher deutscher Einheiten, die ab 1. Mai am südlichen Abschnitt der Ostfront an den Kämpfen teilnahmen. Panzerdivisionen: 7., 11., 14., 16., 22. Motorisierte Divisionen: 18., 60., 70. Schnelle Divisionen: 5., 99., 100., 101. Das aus zwei Gebirgsdivisionen bestehende 49. Armeekorps. Infanterie-Divisionen: 15., 22« 24., 28., 35., 50.. 57., 62., 68., 75., 79., 95., 111., 113., 132., 164., 170., 211., 221., 215., 254., 257., 262., 298., 312.
Dora.
Tatsächlich fehlten in dieser Aufstellung 51 Divisionen, während zehn der aufgeführten Verbände nicht im Südabschnitt standen und vier weitere nicht existierten.
Ähnlich erging es Roessler, als er am 22. April 1943 eine Liste der »an der Ostfront aufgestellten Armeen« vorlegte, die von den imaginären »Armeegruppen« A, B, C handelte und völlig unzutreffende Oberbefehlshaber nannte. Generaloberst Dietl sollte zum Beispiel eine 14. Armee führen, die es nicht gab, und die 1. Panzer-Armee den Generaloberst von Kleist zum Führer haben, den Roessler mit dem General von Mackensen verwechselte.
Nicht anders eine Meldung vom 30. April: Der 6. Armee wurden Divisionen zugeordnet, die ihr nicht angehörten, der 16. Armee dagegen Divisionen vorenthalten, die ihr unterstellt waren. In anderen Berichten stellte Roessler General Dollmann als einen General Kollmann vor, konnte er die Generale Hasse und Haase nicht auseinanderhalten.
Wer so einfache Personalfragen nicht klären konnte, dem mußte auch verborgen bleiben, was in den höchsten Stäben der Wehrmacht vorging. Wo immer auch in Deutschland Roessler Informanten unterhielt -- in militärischen Schlüsselpositionen können sie nicht gesessen haben. Das bewiesen vor allem seine unzutreffenden Berichte vor der Schlacht von Kursk im Juli 1943.
Diese Schlacht ist später von westdeutschen Dolchstoß-Ideologen zu einem Paradebeispiel von Roesslers konspirativer Aktivität erhoben worden: Er soll den Operationsplan Hitlers so frühzeitig nach Moskau gemeldet haben, daß die Sowjets ihre Truppen im Raum Kursk konzentrieren und dem deutschen Angreifer eine entscheidende Niederlage bereiten konnten.
In der Tat erfuhr Roessler (wie so mancher Diplomat in Berlin, Moskau und Tokio), daß Hitler plante. mit einer nord-südlichen Zangenoperation die sowjetischen Verbände im Raum Kursk zu vernichten. Die einzelnen Stadien der Operationsplanung verfehlte Roessler indes:
* Am 8. April meldete er, die Kursk-Offensive sei »bis Anfang Mai« verschoben worden. In Wahrheit befahl Hitler erst am 15. April, mit dem Angriff am 3. Mai zu beginnen.
* Am 20. April berichtete er, der Angriffstermin sei abermals von Anfang Mai auf ein späteres Datum verlegt worden. In Wahrheit besagte Hitlers Befehl zu jener Zeit noch, am 3. Mai sei anzugreifen.
* Am 29. April nannte er einen neuen Angriffstermin: 12. Juni. In Wahrheit hatte Hitler zwei Tage zuvor den 5. Mai als Eröffnungstag festgelegt.
Als jedoch die Beratungen im Führerhauptquartier Mitte Juni in ihre letzte entscheidende Phase eintraten, erfuhr der Meisterspion nichts. Schlimmer noch für Moskau: Zehn Tage vdr dem Losschlagen der deutschen Verbände sagte er Hitlers Großoffensive ab.
Der Memoirenschreiber Radó muß seine Funksprüche keck zurechtfrisieren, um die auch ihm nützliche Lucy. Legende vor Schaden zu bewahren. Er behauptet, Roessler habe am 23. Juni 1943 gemeldet:
Der Angriff gegen Kursk, den die deutsche Kriegführung bis Ende Mai erwogen hatte, erscheint jetzt riskanter, weil die Russen vom 1. Juni an so starke Kräfte im Raum Kursk konzentriert haben, daß die Deutschen nicht länger von Überlegenheit sprechen können. Hitler strebt dennoch nach einem Angriff.
Der von den Deutschen aufgefangene und entschlüsselte Originaltext der Meldung besagt jedoch das Gegenteil: »Auch der bis Ende Mai erwogene deutsche Angriff gegen Kursk (ist) nicht mehr beabsichtigt, da russische Kräftekonzentration im Kurskerraum seit An~ fang Juni so groß, daß deutsches Übergewicht dort nicht mehr besteht.« Kein Wort über Hitlers weiterbestehende Angriffsabsichten (siehe Bild unten).
Damit verrät Radó noch nachträglich, wie stark er von den Meldungen Roesslers und dessen Schweizer Auftraggebern abhing. Das war nicht ungefährlich für einen Agentenchef, der auf dem Boden eines neutralen Staates hart am Rande des gegnerischen Machtbereiches operierte: Er war auf den guten Willen eines fremden Geheimdienstes angewiesen, dessen Aktionen er nicht beeinflussen konnte.
In der Tat geriet Rados Gruppe in das Magnetfeld der Cliquen- und Kompetenzkämpfe des Schweizer Geheimdienstes. Er war gespalten zwischen den Anhängern Waibels und Hausamanns. pro-deutschen Gruppen und Vertretern der Bundespolizei, die nicht verwunden hatte, daß die Spionageabwehr bei Kriegsbeginn in die Zuständigkeit des Militärs geraten war.
Ein deutscher Agent
übernimmt Radös Geliebte.
Roger Massons Nachrichten-Sektion fehlte vor allem anderen ein einheitlicher Wille. Nicht alle billigten das Zusammenspiel mit den roten Agenten. Masson selber steuerte einen entgegengesetzten Kurs: Durch engste Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst (SD) Heinrich Himmlers wollte er die Schweiz von dem Alpdruck einer deutschen Invasion befreien.
Die Verhaftung ei -- nes Schweizer Spions durch die Gestapo im Spätsommer 1942 nutzte Masson dazu. mit dem SD-Chef Walter Schellenberg ins Gespräch zu kommen. Die beiden Geheimdienst-Bosse trafen sich Ende September im badischen Waldshut; sie tauschten Informationen aus und gelobten Zusammenarbeit. Schellenberg ließ den Spion frei.
Anfang 1943 erreichte Masson die Alarmmeldung, das Oberkommando des Heeres habe von Hitler den Befehl erhalten, einen Plan zur Besetzung der Schweiz auszuarbeiten. Wieder appellierte der Schweizer an den Kollegen Schellenberg. der Abhilfe versprach: Er wußte nur allzu gut, daß die Schweiz-Invasion nicht ernsthaft erwogen wurde.
Masson bewog sogar den Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Guisan, den Himmler-Sendboten zu empfangen. Im »Gasthof zum Bären« in Biglen kamen die ungleichen Partner am 3. März zusammen. Schellenberg verlangte von dem General eine schriftliche Neutralitäts-Verpflichtung; nur so könne er -- flunkerte Schellenberg -- Hitler von dem Invasionsplan abbringen.
Masson entwarf einen Text, den dann Guisan abschrieb. Kernsätze: »Das Gleichgewicht Europas bedingt eine nach allen Seiten und in jeder Beziehung neutrale Schweiz. Die Erfüllung dieser Pflicht ... betrachtet die Schweiz nicht nur als eine Ehre, sondern auch als eine Selbstverständlichkeit.«
Die Erklärung warf die Frage auf, ob es sich mit der Neutralität noch vereinbaren ließ, daß Offiziere des Schweizer Geheimdienstes Material an sowjetische Agenten lieferten. Waibel und Hausamann fürchteten eine solche Diskussion und traten zum Gegenstoß an: Sie verlangten von Masson. er solle den Kontakt zu Schellenberg abbrechen. Als Masson ablehnte. forderte Hausamann General Guisan auf, den Schellenberg-Freund zum Rücktritt zu bewegen. Guisan: »Masson will nicht.« Hausamann: »Dann müssen Sie es eben befehlen!«
Die Kontroverse rief einen Rivalen des Geheimdienstes auf den Plan: die »Bupo« (Bundespolizei). Sie beobachtete seit langem die ins kommunistische Lager reichenden Querverbindungen des Waibel-Apparates. ohne freilich die Zusammenhänge zu erkennen. Erst im Sommer 1943 deutete ihr ein Gestapo-Spitzel an, worum es ging.
Der deutsche Emigrant Ewald Zweig, der sich jetzt Ives Rameau nannte und Radó aus dem Pariser Exil kannte, war von der Gestapo in die Schweiz entsandt worden, um nach Radó zu fahnden. Er enthüllte den Bupo-Kommissaren, in der Schweiz gebe es »russische Schwarzsender«.
Das war just die Stunde, auf die Adolf Hitlers Spionejäger schon lange warteten: Zug um Zug hatten die Peilgeräte der deutschen Funkabwehr die drei roten Agentensender geortet, waren Radös Funker von Fahndern der Abwehr eingekreist worden.
Im Oktober 1942 war es der Abwehr geglückt, in Radös Organisation einzudringen. Der Genfer Damenfriseur Hans Peters, Mitarbeiter der Abwehr, hatte in einer Pension die Radó-Funkerin Margrit Bolli kennengelernt und bald den alternden Agentenchef aus ihrem Bett verdrängt: ab 1. November hörte »Romeo« (Deckname) mit, was am Rande des Radó-Kreises gesprochen wurde.
Am 16. März 1943 konnte Peters seiner Geliebten einen Funkspruch im Klartext entwenden, der den Entschlüsselern in Berlin ermöglichte, alle aufgefangenen Radó-Sprüche zu lesen. Die Texte spornten Abwehr und Gestapo an. der gefährlichen Gruppe ein Ende zu setzen. Gestapo-Spitzel Rameau kontaktierte die Bupo.
Doch ihr waren die Hände gebunden: die Spionageabwehr war allein Aufgabe der Untergruppe »Nachrichten- und Sicherheitsdienst« des Armeestabs. Die Bupo-Kommissare hätten resignieren müssen, wäre einem jungen Armee-Offizier nicht ein Fehler unterlaufen.
Der Leutnant Maurice Treyer, Führer einer Sondereinheit der Funkkompanie 7, hörte am 11. September 1943 im Raum des Genfer Sees verschlüsselte Signale eines fremden Senders, der offenbar in Genf stand. Treyer glaubte, es handle sich um einen politischen Schwarzsender, und alarmierte die Bupo. Denn: Politische Schwarasendungen gehörten zur Kompetenz der Bundespolizei.
Radó sagt sich von Moskau los.
Die Bupo bemächtigte sich der Affäre und ließ sich aus der Agentenhatz nicht mehr vertreiben. An die Spitze der Bupo-Fahnder trat der Inspektor Marc Payot, ein Entschlüsselungs-Experte und KP-Spezialist, der in türkischen Diensten 1942 das Attentat auf den deutschen Botschafter von Papen aufgeklärt und die sowjetischen Täter überführt hatte. Payot ermunterte Treyer, nach weiteren Polit-Sendern zu fahnden.
Am 20. September machten Treyers Peiler die Funkstation der Radó-Konfidenten Edouard und Olga Hamel aus, fünf Tage später orteten sie den zweiten Radó-Sender, die Station der Margrit Bolli. Jetzt wollten die Polizisten nicht länger warten. In der Nacht vom 13. zum 14. Oktober hoben Bupo-Kommandos die beiden Stationen aus.
Schlag auf Schlag traf das Schattenreich des Sándor Radó. Am 21. November wurde Funker Foote verhaftet, kurz darauf floh der Agentenchef und überließ Rachel Dübendorfer die Leitung der restlichen Gruppe. Aber auch »Sisssy« hielt nicht lange durch; am 19. April 1944 führten die Bupo-Männer sie und Paul Böttcher ab.
In ihrer Wohnung fanden die Polizisten sechs Deserteurberichte der NS 1. die nur allzu deutlich zeigten, daß Mitarbeiter des Schweizer Geheimdienstes der roten Agentengruppe assistiert hatten. Ungerührt brachten die Bupo-Leute auch die Mitarbeiter des Geheimdienstes zur Strecke: Am 19. Mai verhafteten sie Roessler und Schneider, kurz darauf wurde Waibel-Stellvertreter Mayr von Baldegg arretiert.
Empört verlangte Waibel die sofortige Entlassung seiner Mitarbeiter. Vier Tage behielten die Kommissare den Waibel-Vize vor ihren Verhörscheinwerfern; immer wieder wollten sie wissen, was ein Offizier der Schweizer Armee mit den Agenten Stalins zu schaffen habe. Erst eine Intervention General Guisans setzte Mayr frei.
Ratlos irrte der ausmanövrierte Agentenchef durch Genf. Er hatte schon bei der ersten Bupo-Aktion »die Nerven verloren« (Pünter) und war geflohen, zunächst zu einem Genfer Arzt, dann in eine kleine Kammer seines Schwagers, des Dirigenten Hermann Scherchen. Er faßte den verzweifelten Entschluß. sich dem britischen Geheimdienst anzuschließen -- eine Todsünde für einen roten Kundschafter.
Moskau verbot jede Verbindung mit dem Intelligence Service, dennoch kontaktierte Radd die Briten. Der Direktor funkte: »Ein unerhörter Bruch unserer Disziplin.« Von Stund an war Radó ein gezeichneter Mann, er hatte das Vertrauen Moskaus verloren.
Er schlug sich im Herbst 1944 nach Frankreich durch, doch in Paris wartete bereits ein Ukas auf ihn: sofort nach Moskau kommen. Deprimiert setzte sich Radó Mitte Januar 1945 in eine Maschine, die ihn via Kairo nach Moskau bringen sollte. Unterwegs aber entschloß er sich jäh, mit Moskau zu brechen.
Bei der Zwischenlandung in Kairo verließ er die Maschine und stellte sich den britischen Behörden, die ihn in ein Lager des Geheimdienstes einwiesen, in das »Central Security Detention and Interrogation Camp« 15 Kilometer südlich Kairos. Radó weigerte sich, in die Sowjet-Union zu reisen, und berief sich darauf, er sei ungarischer Staatsbürger.
Moskau wollte jedoch auf den Agentenchef nicht verzichten, die Briten scheuten vor einem Ärger mit dem sowjetischen Bundesgenossen zurück. Am 24. Juli war Radös Traum zerronnen: Vier NKWD-Offiziere holten ihn ab. Ein Militärtribunal in Moskau verurteilte ihn wegen Ungehorsams zum Tode, Stalin begnadigte ihn zu zehn Jahren Arbeitslager. Erst 1955 konnte Radó nach Ungarn zurückkehren.
Über solche »Verletzung sozialistischer Rechtlichkeit« schweigt sich Radó freilich aus. Der Autor bekundet Optimismus bis zur letzten Zeile: »Ich kann endlich meine wissenschaftlichen Ziele verwirklichen, von denen ich jahrzehntelang geträumt habe. Schade, daß ich bereits 70 bin.«