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Westeuropa faßt Tritt

aus DER SPIEGEL 28/1948

Als der Chef des Empire-Generalstabes. Feldmarschall Bernard Montgomery, im April von seinem letzten Berliner Besuch zurückkehrte, forschten neugierige Reporter nach dem Inhalt seiner Gespräche mit Marschall Sokolowski und Generalleutnant Dratwin. - »Wir aßen gut und sprachen über das Wetter«, knurrte der hagere Lord. Er überließ es den Fragestellern, das »Wetter« als politisch, militärisch oder meteorologisch zu interpretieren.

Es ist nicht zu erwarten, daß der rangälteste Soldat Westeuropas gesprächiger sein wird, wenn er von seinen gegenwärtig laufenden Besprechungen mit dem französischen Verteidigungsminister Pierre-Henri Teitgen zurückkehrt. Der Marschall mit dem abgetragenen schwarzen Barett (Stalins Moskauer Gastgeschenk, Zobelmantel und -mütze, hängt im Schrank) und der konsequent unvorschriftsmäßigen Phantasie-Uniform ist bekannt dafür, daß er noch nie politisches Porzellan durch unangebrachte Redelust zerschlagen hat.

Wohlinformierte Beobachter bringen die Reise »Montys« über den Kanal mit seiner angeblich bevorstehenden Ernennung zum Oberkommandierenden der Streitkräfte der Brüsseler Fünf (England, Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg) in Verbindung. Das politische Wetterleuchten über Berlin hat im Dreieck Washington-London-Paris zu lebhaften militärischen Reflexbewegungen geführt.

»Wir können nicht mehr damit rechnen«, sagte Montgomery, »vor dem Ausbruch eines neuen Krieges eine Atempause zu haben, in der wir unsere Landstreitkräfte zusammenstellen und ausbilden können.« Der Verfasser infanteristischer Ausbildungsvorschriften bemüht sich schon heute, die westeuropäischen Zukunfts-Kampfgenossen in gleichen Schritt zu bringen. Amerikanische Marschmusik erleichtert das Trittfassen.

Das ständige Militärkomitee der fünf Brüsselpakt-Staaten befaßt sich seit längerem mit der Reorganisation der Armeen und der Gleichschaltung ihrer Operations- und Verteidigungspläne. Zu den Vorarbeiten gehört unter anderem die wenig erfreuliche Bestandsaufnahme der gegenwärtigen militärischen Stärke. Ferner die Abschätzung der in Zukunft erforderlichen Hilfe und des Aufbaus bis zu einem Punkt, an dem Westeuropa stark genug ist, einen beliebigen Angreifer abzuwehren.

Um die gleiche Zeit (am letzten Dienstag) kamen in Washington die diplomatischen Vertreter der fünf Brüsseler Signatarmächte mit den Unterhändlern Kanadas und dem USA-Außenminister-Stellvertreter Robert A. Lovett zusammen. Den Startschuß hatte am 11. Juni der USA-Senat abgegeben. Er sah in der Vandenberg-Resolution vor, daß die Vereinigten Staaten im Rahmen der UNO-Verfassung Ländern, die unter sich regionale Bündnisse abschließen, Hilfe leisten können (vgl. »Spiegel« 27/48).

Daß die Pariser Gespräche mit denen in Washington nicht nur zeitlich, sondern auch kausal zusammenhängen, unterliegt keinem Zweifel. Auf der Washingtoner Tagesordnung stehen folgende Punkte:

1. Bericht über die Fortschritte des europäischen Fünfmächte-Militärausschusses bei der Ausarbeitung eines gemeinsamen Verteidigungsplanes.

2. ein westeuropäisches Militärbündnis im Rahmen der UNO, an dem sich die USA aktiv beteiligen können,

3. die Frage, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen die USA den fünf europäischen Nationen militärische Ausrüstung zur Verfügung stellen können.

Mit raschen Ergebnissen ist kaum zu rechnen. Einige Monate werden über dem »informatorischen Meinungsaustausch über Fragen von gemeinsamen Interessen« hingehen. Militärische Besprechungen sollen erst dann erfolgen, wenn Beschlüsse bevorstehen. Familienzuwachs in Form mehrerer zu bildender Ausschüsse und Unterausschüsse steht zu erwarten.

Nur Pläne können beraten werden. Bindende militärische Abmachungen bedürfen der Zustimmung des Kongresses. Dieser feiert augenblicklich Ferien. Frühestens im Frühjahr 1949 sollen die Pläne fertig sein. Der »Atlantik-Pakt«, wie man bereits das westeuropäische Bündnis nach einer Erweiterung durch eine amerikanische Garantie getauft hat, schwebt noch in atlantischer Ferne.

Zahlen und Zeiten spielen bei den Ueberlegungen der Experten die wichtigste Rolle: Bevölkerungsmillionen und Divisionsziffern, Industriepotentiale und Fabrikationsprogramme, Angriffsfahrpläne und Verzögerungsfaktoren.

Was darüber in die Oeffentlichkeit gedrungen ist, schillert vielfältigt. Die »New York Times« fußnotiert zu ihrer graphischen Darstellung der gegenwärtigen Rüstungsstärken (siehe Bild) vorsichtshalber, daß es sich um inoffizielle Schätzungen handele. Ziemlich einheitlich nimmt man an, daß 165 bis 175 Divisionen direkt oder über ihre Satelliten-Generalstäbe Moskaus Befehlszentrale unterstehen.

Wieder liest man in amerikanischen Zeitungen das 1914 geprägte Wort vom russischen »Steam roller«, der russischen Dampfwalze. »Können die westeuropäischen Streitkräfte, so wie sie heute existieren, mehr sein als lächerliche Kieselsteinchen, die in den Boden gedrückt werden, ohne daß Onkel Joe am Steuer der Dampfwalze überhaupt etwas bemerkt?« fragezeichnet ein Korrespondent der »New York Herald Tribune« die augenblickliche Situation.

Amerikanische Zeitungen stellten - nicht ohne propagandistischen Seitenblick auf die für Forrestals Militärkredite weichzuklopfenden Steuerzahler - verschiedene Dampfwalzen-Fahrpläne zur beliebigen Auswahl auf. Von »Newsweek« ins Feld geführte Washingtoner Experten veranschlagen zwei bis drei Monate für den Kampf bis zum Kanal und je sechs Monate für die Strecke nach Gibraltar oder bis zum Persischen Golf - je nach der Route, die die russischen Panzerspitzen einzuschlagen gedächten.

»Militärische Illusionen« nennt Dr. Otto Strasser solche in seiner amerikanischen Wahlheimat weitverbreiteten Kalkulationen. »Eine Betrachtung der militärischen Kraftverhältnisse«, so meint er, »ergibt, daß die Rote Armee ohne jede Schlacht, wahrscheinlich sogar ohne jede größere Kampfhandlung, binnen drei Tagen am Kanal stehen wird. Die unerfahrenen englisch-amerikanischen Besatzungstruppen würden vermutlich überfallen, bevor sie alarmiert wären! Denn schließlich sind es ja nur 250 bis 400 Kilometer von den russischen Ausgangsstellungen bis zur französisch-belgischen Grenze. Die »Armeen« des Bevin-Blocks würden kaum eine viel eindrucksvollere Gegenwehr leisten als im Frühjahr 1940.«

Man glaubt in Washington nicht, daß die Russen in den nächsten anderthalb bis zwei Jahren einen Krieg wollen. Was können die Russen gewinnen, wenn sie jetzt einen Krieg provozieren würden?, fragen die Washingtoner Propheten. Die unmittelbare Folge würde nach ihrer Meinung ein Wettrüsten zwischen Amerika und Rußland sein, bei dem die Vereinigten Staaten dank ihrer besseren Produktionsmethoden voraussichtlich schneller zum Ziel gelangen würden.

Rußland könnte, so erwägt man in den USA, Europa überrennen. Aber zu welchem Zweck? Ein ausgehungertes, unproduktives Europa wäre nur eine außerordentliche Belastung. Man müßte ganz Europa ernähren oder sich verzweifelte Feinde schaffen. Die Russen, ohnehin in dauernder Verlegenheit wegen mangelnder Transportmittel, würden die Nachschublinien für Munition, Waffen, Vorräte und Lebensmittel ungeheuer verlängern.

Vom rein strategischen Gesichtspunkt würden sie dadurch den Amerikanern nicht im geringsten schaden. Die Amerikaner können ihre Flugzeuge ebenso gut hinter dem Pyrenäenwall und von Marokko starten lassen wie von Bayern, argumentieren Amerikas Zukunftsstrategen.

Militärische Sachverständige betrachten Westeuropa als etwaigen Bündnispartner mit anderen Augen als die Außenpolitiker. Sie möchten sich nicht nur eine Last aufladen, sondern auch mit einer Hilfe rechnen können. Wenn Westeuropa im Kriegsfall preisgegeben würde, wäre es auch als Bündnispartner ohne Bedeutung. Kommt es aber als Bündnispartner in Betracht, so wird es im Kriegsfall nicht preisgegeben, - schlußfolgern europäische Kommentatoren in haarscharfer Logik.

Das ist eine der wenigen publizistischen Blüten, aus denen sie Hoffnungs-Honig saugen.

[Grafiktext]

TRUPPEN

U.S.A. 538,000

U.d.S.S.R. 3,500,000

GROSSBRITANNIEN 527,000

FRANKREICH 500,000

JEDES SYMBOL = 250,000 MANN

FLUGZEUGE

U.S.A. 35,000

U.d.S.S.R. 24,400

GROSSBRITANNIEN 17,500

FRANKREICH 1,900

JED. SYMBOL = 1000 FLUGZEUGE

[GrafiktextEnde]

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