Widersprüche säckeweise
(Nr. 23/1976, SPIEGEL-Titel »Schulangst; Nr. 27/1976, Briefe)
Der seit Beginn der Bildungsreform propagierte Begabungsbegriff hat zu falschen Hoffnungen und Erwartungen geführt, die die Schüler erheblich belasten.
Kernstück der Bildungsreform war die Propagierung der »Chancengleichheit«. Die angeborene Intelligenz eines Menschen war bedeutungslos, die Förderung durch Gesellschaft und Schule sollte alles vermögen. Es wurde übersehen, daß Chancengleichheit immer nur heißen kann: Gleichheit der Voraussetzungen, aber nicht Gleichheit der Ergebnisse. Mit der Propagierung eines als total machbar gekennzeichneten Begabungsbegriffs wurden bei Eltern und Schülern Hoffnungen und Erwartungen geweckt, als könnten alle Kinder alle Abschlüsse erreichen und letztlich auch alle auf der Stufenleiter des Erfolges die höchste Sprosse erklimmen. Diese falschen Hoffnungen und Erwartungen können mit einer Fata Morgana verglichen werden. Diese Fata Morgana hat nun ihre passende Wüste von Frustrationen gefunden. Der
Erwartungshorizont der Eltern orientiert sich verengend und immer einseitiger an dem Erreichen höherer Abschlüsse durch ihre Kinder. Es versteht sich von selbst, daß die Schüler, häufig getrieben von dem an sieh berechtigten Wunsch der Eltern, einem Erwartungsdruck und einer Erwartungsangst ausgesetzt waren und sind, die kaum zu beschreiben ist.
Die aufgrund der übertriebenen Erwartungen bestehenden Drucksituationen der Schüler werden durch die Emanzipationspädagogik noch verstärkt, weil der Heranwachsende permanent mit der Widersprüchlichkeit der bestehenden Gesellschaft konfrontiert wird.
Ich bin kein Verfechter des Mythos von der »heilen Welt«. Aber es gibt in dieser Gesellschaft durchaus noch vertretbare Wertvorstellungen. Die Schule von heute verzichtet im wesentlichen auf die Vermittlung eines verbindlichen Menschenbildes. Mir scheint es unverantwortlich zu sein, dem jungen Menschen auf seiner Suche nach seiner eigenen Sinngebung wenig Hilfestellung zu bieten und ihm statt dessen die Widersprüchlichkeit säckeweise »frei Haus« zu liefern. Wenn wir es nicht verstehen, den Schüler auch an »in sich Abgeschlossenem« und »Sinnvollem« zu orientieren, tragen wir massiv zu seiner Entmutigung und Mutlosigkeit bei. Und was ist Angst anderes als der Mangel an Mut?
Ich werde eine unabhängige Kommission berufen, die sich -- zusammengesetzt aus Schülern, Eltern, Lehrern, Psychologen und Medizinern -- mit den vielfältigen Problemen zu befassen hat und gezielte Verbesserungs- und Veränderungsvorschläge vorlegen wird. Die Öffentlichkeit wird in vollem Umfang informiert.
Hannover DR. WERNER REMMERS Niedersächsischer Kultusminister