LÜBKE Wie alle
In Ost-Berlin, München und Karlsruhe
wurden angebliche KZ-Pläne mit seiner Unterschrift gezeigt - doch Heinrich Lübke, 72, Präsident der Bundesrepublik Deutschland, schwieg monatelang.
Letzte Woche sprachen seine Freunde. Bonns Innenminister Paul Lücke ließ einen Bericht über Lübkes Vergangenheit veröffentlichen. Er soll entkräften, was seit zwei Jahren anhand von Schriftstücken und Zeugenaussagen DDR-Propagandisten über das westdeutsche Staatsoberhaupt verbreiten:
- Er sei einer der führenden Mitarbeiter des NS-Rüstungsapparats gewesen;
- er habe beim Einsatz von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern mit Gestapo und SS paktiert;
- er habe Konzentrationslager mitgebaut.
Zwei Jahre lang schoß sich DDR-Propagandachef Professor Albert Norden auf Bonns Bundespräsidenten ein. In bislang drei Pressekonferenzen, zuletzt am 24. Januar dieses Jahres, präsentierte er mehr als 80 »Dokumente«, die Heinrich Lübke als Hilfswilligen der NS-Machthaber ausweisen sollen. Darunter:
- ein Gestapo-Dossier, in dem Lübke als »vertrauenswürdig« bezeichnet wird,
- Schriftwechsel zwischen Rüstungsbetrieben und dem Ingenieur Lübke unterstellten Planungsbüros über
den Bau geheimer Produktionsstätten,
- Anweisungen der Organisation Todt an Lübke-Dienststellen über den Einsatz von rassisch verfolgten Zwangsarbeitern,
- Baupläne eines Konzentrationslagers und eines Zwangsarbeiterlagers mit Lübkes Paraphe.
Sechssilbig dementierte das Bundespräsidialamt: »Alles frei erfunden.« Und Lübkes Pressesprecher Erich Raederscheidt im »Deutschlandfunk": »Märchen von drüben.«
Dann aber kam das Märchen unter die Bundesbürger. Albert Norden verteilte an jedweden Interessenten Kopien seines Belastungsmaterials. Das Kabarett »Münchner Rationaltheater« nahm Lübkes NS-Vergangenheit in das Programm auf und stellte Ende August ein Sortiment der DDR-Dokumente in einem Schaukasten aus. Der »Freundeskreis des Deutschen Widerstandes« (Sprecher: der DFU-Funktionär und ehemalige Sozialdemokrat Wolfgang Koppel) legte die Papiere in Karlsruhe Journalisten vor.
Schon im Juli erklärte Bonns Leitender Oberstaatsanwalt Franz Drügh, den Ost-Kollegen mit Lübke-Material versorgt hatten: »Strafrechtlich kann (gegen Lübke) nicht vorgegangen werden.« In München und Karlsruhe kassierte die Kripo im Auftrag der dortigen Staatsanwaltschaften alle Dokumente ein.
Den nächsten Schritt hätte Heinrich Lübke selbst tun müssen: die Ermächtigung erteilen, Koppel und Kabarettisten nach Paragraph 95 StGB zu verfolgen, der die Verunglimpfung des Staatsoberhauptes unter Strafe stellt. Statt dessen erschien Innenminister Paul Lücke im dunklen Anzug auf dem Fernsehschirm und verlas eine »Erklärung der Bundesregierung«. Kernsatz. »Ein Vorgehen gegen die Kolporteure der Verleumdungsaktion in der Bundesrepublik würde nur dem erklärten Propagandaziel der SED-Drahtzieher entgegenkommen.« Zur Sache sagte die Erklärung nichts.
Mehr zur Sache trägt die »Dokumentation« bei, die jetzt im amtlichen Informationsdienst des Bundesinnenministeriums »Innere Sicherheit« gedruckt und an die westdeutsche Presse verteilt wurde. Thema: Heinrich Lübkes Hitler -Jahre.
Sie begannen hinter Gittern. Im April 1933 vorübergehend festgenommen, saß der gelernte Vermessungsingenieur Lübke vom Februar 1934 an für 20 Monate als Untersuchungshäftling ein. Als Direktor der Berliner »Siedlungsgesellschaft Bauernland AG« sollte er - so die DDR-Schriftstücke - aus der Bauernland-Kasse 5000 Mark in bar und (widerrechtlich) ein sechsstelliges Darlehen entnommen haben.
Nach der Bonner Dokumentation ist der Bauernland-Direktor damals einer NS -Intrige zum Opfer gefallen. Lübke, so die Aussage des ehemaligen Bauernland-Prokuristen Robert Schmal, habe »von der Bauernland AG keine persönlichen Darlehen erhalten«; zudem sei, so der ehemalige Lübke-Anwalt Kurt Paetow, »auf Schritt und Tritt die Hand der Gestapo bemerkbar« gewesen.
Im Oktober 1935 kam Lübke durch eine NS-Amnestie frei, die von Hitler nach der Röhm-Affäre erlassen worden war; später fand der NS-Gegner im großdeutschen Bauwesen Unterschlupf.
Dazu verhalf ihm ein Mann, der heute sein Duzfreund ist. Vor dem Krieg freier Architekt im Berliner Westen, war der Diplomingenieur Walter Schlempp Anfang 1940 vom »Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt« dienstverpflichtet worden - dem späteren NS-Rüstungsminister Albert Speer. Speers Auftrag für die »Baugruppe Schlempp": der Aufbau des V-Waffen-Zentrums Peenemünde.
Schlempp, heute Bauunternehmer in Frankfurt, über seinen damaligen Untergebenen Lübke: »Ich engagierte ihn, damit er mir den Papierkram abnahm. Er machte das auch sehr gut.«
Die Bonner Dokumentation zitiert Schlempps ehemaligen Dienststellenleiter in Peenemünde, Erwin Mahs, heute Architekt in Bad Godesberg: Lübke sei ein Gegner des NS-Regimes gewesen.
Albert Norden zitiert angeblich die Gestapo: Er präsentiert drei »Aktennotizen« der Geheimen Staatspolizei Stettin.
Danach ordnete die Gestapo im Juni 1940 den Bau eines »Sonderlagers« im Peenemünde-Wohnrevier Karlshagen an und klärte auch gleich Zuständigkeiten und Termine: »Die Vorarbeiten werden von der Baugruppe Schlempp in Angriff genommen. Mit der Fertigstellung des Lagers kann in ca. 14 Tagen gerechnet werden.« Die gleiche Dienststelle drei Monate später: »Für die Überwachung des Arbeitseinsatzes in Peenemünde und Karlshagen... (kann) besonders auf die Herren Mahs und Lübke zurückgegriffen werden. Beide haben sich als vertrauenswürdig erwiesen.«
Für Norden steht fest, daß Lübke wußte, welches »Sonderlager« die Baugruppe damals plante: ein Außenlager für KZ-Häftlinge aus Ravensbrück. Daß es solche Lager in Peenemünde gab, wird auch von Bonn nicht bestritten, daß Lübke an ihrem Bau beteiligt war, unklar dementiert. Der ehemalige Peenemünde -Kommandeur, Generalmajor Walter Dornberger, heute Raketenbauer in den
USA, gab für den Bonner Lübke-Bericht lediglich zu Protokoll, in Peenemünde hätten der Baugruppe Schlempp Lager nicht »unterstanden«. Wer sie baute, sagt Dornberger nicht.
Deutlicher äußerte sich Lübke-Kollege Mahs dem SPIEGEL gegenüber: »Mit einem KZ Karlshagen hatten Lübke und ich nichts zu schaffen. Lübke schickte mir sogar Juden und Halbjuden nach Peenemünde mit der Bitte, sie vor Verfolgung zu bewahren.«
Mitte 1944 avancierte Lübke zum Stellvertreter des Baugruppen-Führers Schlempp.
Nach einem Göring-Erlaß hatte Speer im März jenes Jahres den sogenannten »Jägerstab« gegründet - eine Sonderkommission von Luftwaffe, Rüstungsbürokratie, SS und Industrie. Ihre Aufgabe: die Produktion von Jagdflugzeugen in bombenfesten unterirdischen Hallen zu beschleunigen.
Jägerstab-Chef wurde Albert Speer für den technischen, Luftwaffenmarschall Erhard Milch für den militärischen Bereich. Für »Bauangelegenheiten« zeichnete Schlempp verantwortlich. Schon Anfang April bekamen die ersten Flugzeugfabriken Befehl, die Untertage-Verlegung vorzubereiten. Einen Monat später aber fand Speer für Schlempp eine andere Verwendung. Er schickte, ihn mit Teilen der Baugruppe nach Prag, um zerstörte tschechoslowakische Rüstungsfabriken wiederaufzubauen.
Zurück blieb Heinrich Lübke. Mit Dienstwagen und Fahrer ausgestattet, vertrat er - obwohl nicht im Jägerstab - Schlempp im Berliner Büro. Sein Quartier: eine Schlempp-Villa im nahe gelegenen Schmöckwitz.
Der Bonner Lübke-Bericht erwähnt Lübkes Vize-Kompetenzen in der Baugruppe Schlempp nicht. Und er übergeht, daß Heinrich Lübke vom Sommer 1944 an für den Deutschland-Einsatz der Baugruppe verantwortlich und bis Kriegsende an mindestens zwei Jägerstab-Projekten beteiligt war: an der Verlegung des
- Junkers-Zweigwerks »Allgemeine Transportanlagen GmbH Leipzig« (ATG) in unterirdische Kalischächte bei Bernburg/Saale und des
- Heinkel-Zweigwerks »Kabel- und Leitungswerke AG« (KALAG) in stillgelegte Kalischächte bei Neu-Staßfurt/Magdeburg.
Dienststellenleiter in Bernburg war der Schlempp-Angestellte Heinrich Sander, heute freier Architekt in Bonn, Lübkes Mann in Neu-Staßfurt der Ingenieur Ernst Tomischka, heute Bauhandwerker in der DDR.
Über Heinrich Lübkes Beteiligung am Rüstungsprojekt Bernburg offeriert Albert Norden ein Dutzend Schriftstücke: Besichtigungsprotokolle, Firmenkorrespondenzen und geheime Dienstanweisungen der Organisation Todt, wonach der Schlempp-Vize
- mehrfach die Bernburger Jägerstab-Anlagen inspizierte;
- über ein unterirdisches KZ in einem 400 Meter tiefen Kali-Stollen informiert war;
- den Bau eines Lagers für »1000 KZMänner, 1000 KZ-Frauen und 500 Ausländer« im Bernburg-Nachbarort Leau plante;
- geheime OT-Richtlinien über die Behandlung von »jüdischen Mischlingen und jüdisch Versippten« kannte.
Nach der Bonner Dokumentation sind mindestens zwei dieser Schriftstücke gefälscht: Das eine, mit Kopfadresse »Weimar, Platz des Führers« (richtig: Platz Adolf Hitlers), erwähne einen »Reichsminister Ruck«, den es nie gegeben hat, sowie ein »Reichssicherungshauptamt« (richtig: Reichssicherheitshauptamt); das andere spreche von »händischer Arbeit« (üblich: Handarbeit) für jüdische Mischlinge.
Schlempps Bernburg-Boß Sander räumte gegenüber dem SPIEGEL allerdings generell ein: »Natürlich bauten wir Lager ... Ich sah bei Inspektionen Häftlinge, die in sehr schlechter körperlicher Verfassung waren ... Herr Lübke wußte ebenfalls von dem schlechten Zustand der Häftlinge.«
Beim Aufbau des Jägerstab-Betriebes Neu-Staßfurt soll Lübke - laut Norden - einen »Vorentwurf zur Erstellung eines KZ-Lagers für 2000 Häftlinge«, je einen Lager-Übersichtsplan des KZ Neu-Staßfurt und des Zwangsarbeiterlagers Wolmirsleben sowie zwölf KZ-Barackenskizzen unterzeichnet haben.
In einem Gutachten urteilte das Wiesbadener Bundeskriminalamt (BKA) dazu: Die »Lübke«-Signaturen seien gefälscht. Allerdings begnügten sich die BKA-Experten mit nur drei »Lübke« -Paraphen - die »deckungsgleich« und somit »Arbeit nach Vorlage« seien. Jedoch: Es gibt zehn solcher Bauplan-Unterschriften, sieben wurden vom BKA -Test nicht erfaßt.
Außerdem behauptet das Bonner Innenministerium, eine Lübke-Paraphe »L«, wie sie auf den Ost-Berliner Plänen zu finden sei, gebe es nicht; Lübcke habe »damals wie jetzt« stets mit »Lü« signiert. Und es finden sich auch solche »Lü«-Signaturen aus vergangenen Zeiten im Bonner Lübke-Bericht. Aber: Sie stammen sämtlich aus den Jahren 1947 bis 1951, als Lübke nicht mehr Schlempp -Vize in Berlin, sondern Landwirtschaftsminister in Düsseldorf war.
Heinrich Lübke selbst räumte einmal in einem privaten Gespräch ein, vielleicht habe er Baupläne unterschrieben, KZ-Pläne aber nicht - wenigstens nicht wissentlich.
Einem Lübke-Vertrauten** erscheint solche Unwissenheit plausibel. Denn: Baufirmen hätten bei der Berliner Schlempp-Zentrale häufig Wohnbaracken für ihre Arbeiter angefordert. Die nötigen Bauskizzen seien dann im Schlempp-Büro gefertigt und von einem leitenden Schlempp-Angestellten abgezeichnet worden. Und fertige Baracken habe gelegentlich die SS requiriert und mit Häftlingen besetzt.
So kann es gut gewesen sein, allerdings kaum im Fall Neu-Staßfurt. Denn das mit deportierten Franzosen und Holländern belegte KZ Neu-Staßfurt war ein reguläres Außenlager des Groß-KZ Buchenwald; im benachbarten Lager Wolmirsleben waren sogenannte »Sonderdienstverpflichtete« untergebracht, meist Juden und Halbjuden. Und zumindest dieses Lager wurde genau nach Plan gebaut. Der ehemalige Wolmirsleben-Insasse Rainer Heumann, heute Literaturagent in Zürich, nach Prüfung der Lagerskizze zum SPIEGEL: »Genauso sah es da aus.«
Als Fahrer eines Kleintransporters mit dem Neu-Staßfurt-Gelände damals vertraut, erinnert sich Heumann: »Zentrum der Anlage war der Kalischacht VI. Dort befand sich auch die Bauleitung Schlempp und direkt nebenan das KZ.«
In einem Interview, das der Lübke -Dokumentation im amtlichen Informationsdienst seines Ministeriums vorangestellt ist, zog Bundesinnenminister Paul Lücke Bilanz über die schweren Jahre des westdeutschen Staatsoberhauptes: »Bundespräsident Lübke war während des Krieges in der gleichen Situation wie alle Deutschen, die in dieser Zeit in Deutschland leben und arbeiten mußten. Obschon stets Gegner des Nationalsozialismus, wurde er in die Kriegsanstrengungen des damaligen Reiches einbezogen.«
DDR-Propagandist Norden, NS-Schriftstück: »Auf Schritt und Tritt...
... die Hand der Gestapo bemerkt« Ingenieur Lübke (X) 1941 in Peenemünde*
Lübke-Mitarbeiter Tomischka
»Märchen von drüben«
Ost-Berliner »Neu-Staßfurt-Dokument«
Nach der NS-Verfolgung ...
Ost-Berliner »Neu-Staßfurt-Dokument"*
... im großdeutschen Bauwesen ...
... Unterschlupf gefunden. Ost-Berliner »Neu-Staßfurt-Dokument« mit Lübke-Namenszug
* Vordere Reihe v. l.: General Leeb, Generalmajor Dr. Todt, Oberst Dornberger, General Olbricht.
* Mit Lübke-Paraphe.
** Der Name ist der Redaktion bekannt.