GEHEIMDIENSTE Wie auf einer Bühne
Das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« spendete höchstes Lob. In einer »ausgezeichneten Streitschrift mit neun Kapiteln wissenschaftlich-ideologischer Offensive« - habe Herbert Meißner, »ein bekannter marxistischer Ökonom der DDR«, bewiesen, »daß es weder heute noch künftig eine Annäherung, eine Konvergenz von Kapitalismus und Sozialismus geben kann«, daß derlei Theorien westlicher Volkswirtschaftler »sich bei näherem Hinsehen als Betrug« erwiesen.
Was dem Parteiblatt-Rezensenten besonders gefiel: Dem Autor sei es »nicht um eine gelehrte Abhandlung zu aparten Zwecken« gegangen, vielmehr wolle er »Anregungen und Argumente für den praktischen Klassenkampf geben«. Das war 1970.
16 Jahre danach steht Franz Herbert Meißner, jetzt 59, unversehens selbst im Mittelpunkt des praktischen Klassenkampfs zwischen den beiden Deutschlands - Täter und, wahrscheinlich, Opfer zugleich. Als Ladendieb erwischt, vom Generalbundesanwalt »wegen des dringenden Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit« per Haftbefehl verfolgt, sah sich der stellvertretende Institutsdirektor an der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften im Niemandsland zwischen Deutschland-West und Deutschland-Ost.
Der Ost Berliner Professor, der sich regelmäßig mit dem West-Berliner Kollegen Peter Knirsch zu Redaktionskonferenzen einer Ost-West-Wirtschafts-Enzyklopädie trifft, war unversehens Hauptdarsteller einer deutsch-deutschen Affäre.
Die kam der Bundesregierung äußerst ungelegen. Denn sie belastet zusätzlich die Beziehungen zur DDR, die wegen des Streits über den Asylanten-Zustrom von Ost- nach West-Berlin ziemlich getrübt sind. Ein DDR-Experte: »Die Kuh muß vom Eis.«
Ausgeglitten war Nationalpreisträger Meißner am Mittwoch vorletzter Woche gegen 16 Uhr bei einem Besuch im West-Berliner Kaufhaus Wertheim am Kurfürstendamm. Ein Hausdetektiv beobachtete, wie er in der Hobby-Abteilung einen Brauseschlauch der Marke Schläfer, Preis 29,50 Mark, abhängte und einsteckte.
Der Schnüffler ließ den Mann erst die Etage verlassen: eine bewährte Methode, um Ladendieben die Ausrede zu verbauen, sie hätten nur eine Kasse gesucht. Als er dann angesprochen wurde, habe Meißner zwar »einen gewissen Unmut« gezeigt, so der Berliner Wertheim-Manager Klaus Engeln, sei aber »anstandslos mitgegangen« und habe den Diebstahl auch nicht bestritten. Nur ausweisen wollte sich der Ertappte nicht, weshalb »automatisch« (Engeln) die Polizei gerufen wurde.
Die brachte Meißner zur Einvernahme auf die Wache am Bahnhof Zoo - und dort geriet der Routinefall eines Warenhausdiebstahls zum Agentenkrimi. Meißner begehrte, den Bundesnachrichtendienst (BND) zu sprechen.
Die Bitte rief den Berliner Staatsschutz auf den Plan, der den mit Diplomatenpaß ausgestatteten Ost-Funktionär bis zum nächsten Tag betreute. Bereitwillig packte Meißner aus.
1978 habe er sich gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zur geheimdienstlichen Mitarbeit verpflichtet. Ausführlich beschrieb er seinen Führungsoffizier »Eberhard«, dem er seitdem über Veranstaltungen im Westen und deren Teilnehmer berichtet habe. Zu diesen Angaben paßten auch schriftliche Unterlagen, die Meißner bei sich hatte, so die Telephonnummer des MfS und im Notizbuch verzeichnete Treffen mit » Eberhard«.
Brav unterschrieb der verdiente DDR-Ökonom das Vernehmungsprotokoll und dazu die Erklärung, er sei freiwillig gekommen und wolle in der Bundesrepublik bleiben. Dann wurde Meißner seinem Wunsch entsprechend zum BND nach München geflogen.
Ein seltsamer Vogel, vielleicht sogar ein Agent provocateur, vom MfS entsandt, um die westdeutschen Dienste zu leimen und Sand ins deutsch-deutsche Getriebe zu streuen, wie letzte Woche spekuliert wurde?
Bonner Experten halten sich lieber ans Naheliegende: Beim Anblick westdeutscher Warenauslagen sind schon andere wohlsituierte Bürger der ostdeutschen Mangel-Republik - wie die Frau des TV-Propagandisten Karl-Eduard von Schnitzler - schwach geworden. Und Herbert Meißner habe wohl schlicht durchgedreht, so die Bonner Vermutung, als er sich ausmalte, wie er, der linientreue Marxist, in der sozialistischen Heimat seinen gescheiterten Enteignungsversuch im kapitalistischen Ausland zu rechtfertigen hätte.
In München plauderte Meißner munter weiter. Nach dreitägigem Zusammensein mit den BND-Leuten bat er am Montag um ein eigenes Zimmer. Der Wunsch, auch mal allein sein zu können, wurde erfüllt. Denn das, so der für die Geheimdienste zuständige Kanzleramts-Staatssekretär Waldemar Schreckenberger, »gehört mit zur besonderen psychologischen Lage, in der sich jemand befindet, der sich offenbart«.
Die Herren verabredeten sich auf ein weiteres Gespräch am Dienstag früh. Doch da war Meißner, für den der BND nicht einmal einen Beschatter abgestellt hatte, schon verschwunden.
Warum er sich schon wieder absetzte, konnten die Bonner auch Ende letzter Woche nur vermuten. Möglich, daß er aus einer Telephonzelle seine Frau - es ist die dritte; sie ist 20 Jahre jünger und auch an der Akademie der Wissenschaften tätig - angerufen hat, um die Stimmung im Osten zu erkunden. Frau Heidelore, natürlich längst unter Stasi-Kontrolle, könnte ihrem Herbert geraten haben, sich in die DDR-Vertretung nach Bonn abzusetzen, um so eine Grenzkontrolle - Meißner hatte sich vom BND einen bundesdeutschen Paß als »Martin Bauer« ausstellen lassen - zu vermeiden.
Mit dem erneuten Übertritt des Ost-Wissenschaftlers bekam die Affäre jedenfalls ihren deutschlandpolitischen Dreh. Denn nun legte Ost-Berlin los - zunächst relativ gemäßigt: Der Protest, den der amtierende Chef der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn. Lothar Glienke, am Dienstag im Kanzleramt vortrug, klang noch nicht nach Eskalation.
Der Ton änderte sich, als sich die DDR-Nachrichtenagentur ADN der Sache annahm. Von einem »provokatorischen Akt des BRD-Geheimdienstes (BND)« war da die Rede. Meißner sei »unter falschen Anschuldigungen« in West-Berlin »festgenommen, gewaltsam nach München entführt und dort vom BRD-Geheimdienst in Gewahrsam gehalten und verhört worden«. Seinen »Diplomatenpaß und seine persönlichen Unterlagen"« habe der BND »eingezogen«. Das müsse korrigiert, Meißner die »unbeschadete Rückkehr« garantiert werden.
Mit dem ADN-Getöse war der Fall auf einer Ebene, die eine stillschweigende Lösung ausschloß; auch der DDR-Vizeaußenminister Herbert Krolikowski polterte von einem »schwerwiegenden Eingriff« in den Reiseverkehr.
Den Deutschlandpolitikern in Bonn ist das Verhalten Ost-Berlins rätselhaft. Einer ihrer Erklärungsversuche: SED-Chef Erich Honecker, ein Freund pragmatisch-stiller Regelungen, macht Urlaub. Die Geschäfte führt sein voraussichtlicher Nachfolger Egon Krenz, im Politbüro zuständig für die Sicherheit - möglich, daß der eine Gelegenheit sah, den Bonnern mal Zähne zu zeigen.
Ein besonders geeignetes Exempel hätte sich Krenz mit Meißner freilich nicht ausgesucht. Denn nachdem ADN die Sache zum Entführungsfall aufgeblasen und der West-Überläufer sich in einen willigen DDR-Heimkehrer zurückverwandelt hatte, nahmen die Dinge ihren unheilvollen Verlauf - weil sich auch im Westen Herren der Angelegenheit widmeten, deren Namen allweil für Komplikationen bürgen: Geheimdienst-Koordinator Schreckenberger und Generalbundesanwalt Rebmann.
Ex-Kanzleramtschef »Schrecki« hatte am Montag aus Pullach von dem Überläufer erfahren. Als er sich Dienstag in Bonn vom BND über Einzelheiten informieren ließ, war Meißner leider schon abgängig. Am Mittwoch unterrichtete der Staatssekretär das Kabinett. Die Herren waren sich einig, daß ein Regierungsvertreter im persönlichen Gespräch mit Meißner erkunden sollte, ob er sich freiwillig in die DDR-Vertretung begeben habe und wie überhaupt sein Sinneswandel zustande gekommen sei.
Schreckenberger: »Ich habe dafür Sorge getragen, daß der Generalbundesanwalt rechtzeitig informiert worden ist.«
Kurt Rebmann wußte zu diesem Zeitpunkt schon Bescheid, weil die Berliner Staatsschützer ihre Vernehmungsprotokolle nach Karlsruhe geschickt hatten. Rebmann leitete ein Ermittlungsverfahren ein und beantragte Haftbefehl »wegen Fluchtgefahr«, den der Ermittlungsrichter prompt erließ - Meißner war ja schon wieder auf der Flucht.
Damit war der Karren endgültig festgefahren. Ein Regierungsmitglied: »Jetzt müßte man gegen den Generalbundesanwalt ein Disziplinarverfahren eröffnen, weil der bisher versäumt hat, hohe Funktionäre der DDR hier wegen Mitarbeit fürs MfS festzuhalten.«
Allerdings reicht für einen Anfangsverdacht allein die Tatsache, daß alle sogenannten DDR-»Reisekader« der Staatssicherheit gegenüber »berichtspflichtig« sind, nicht aus. Damit der Generalbundesanwalt einschreiten kann, so Rebmanns Sprecher Alexander Prechtel, müssen vielmehr »im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte vorliegen«. Die hatte Meißner mit seiner Berliner Geständnisfreude selbst geliefert.
Deshalb lief im Hause Rebmann die Automatik des Legalitätsprinzips ab. Der Geheimdienst-Koordinator im Kanzleramt und die Regierenden fanden sich damit ab, daß sie, so Waldemar Schreckenberger, »nicht mehr allein Herr der Sache« waren.
Das hätten sie ja wenigstens versuchen können. Sie hätten sich mit Rebmann zusammensetzen können, um Zeit oder einen Ausweg zu finden.
Und wenn der westdeutsche Chefankläger schon meinte, entscheiden zu müssen - hätte er das nicht auch ganz leise tun können? Rebmann posaunte den Fall in allen Einzelheiten heraus und machte Meißner mit der öffentlichen Plakatierung auch die Heimkehr schwer:
Nun droht dem Professor drüben ein Verfahren wegen Kontakten zu ausländischen Geheimdiensten. Mit dem Haftbefehl verhinderte Rebmann das Gespräch zwischen einem Regierungsbeamten und dem flüchtigen Flüchtling: so hatten die Bonner Ende letzter Woche nur die schriftliche Erklärung, Meißner wolle freiwillig in die DDR zurückkehren.
Persönlich und mit einer schlimmen Räuberpistole trat Dr. Meißner-Kimble am Freitagabend im DDR-TV auf, befragt in seinem Asyl in Bonns DDR-Mission: Das Ganze sei eine West-Provokation; er sei verschleppt und unter Drogen gesetzt worden. Meißner: »Ich kam mir vor wie auf einer Theaterbühne - ein Zustand, den ich bisher nicht kannte.«
Zehn Tage nach dem Verschwinden eines Brauseschlauchs mühten sich zwei Regierungen mitsamt ihren Stäben um Folgenbeseitigung. Ein Bonner Deutschlandpolitiker: »Das Ganze schreit nach einer politischen Lösung.«
Spät merkte das auch Rebmann: »Die Strafprozeßordnung sieht ja die Möglichkeit vor, Ermittlungsverfahren wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen einzustellen« - in Paragraph 153 d, wenn so »die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik« vermieden werden kann oder wenn »überwiegende öffentliche Interessen« es gebieten.
Das trifft im Fall Meißner gewiß zu. Nur hätte es sich Waldemar Schreckenberger gemeinsam mit Kurt Rebmann ja auch früher überlegen können.