SOWJET-UNION Wie beim Zaren
Sie sind älter als der Sowjetstaat, 57. Als sie Backfische waren, herrschte noch Zar Nikolaus. Sie haben Kollektivierung und Säuberungen, den Krieg und Rußlands Aufstieg zur Weltmacht erlebt, sie haben Lenin, Stalin, Chruschtschow überlebt.
Alter und Erfahrungen haben ihnen Runzeln ins Gesicht geschnitten, den Großmüttern Rußlands, den Babuschki. Sie haben gelernt, Polizisten auszuweichen und den Übermut der Behörden hinzunehmen. Sie wissen, wo sich nach langen Bahnfahrten Mehl ergattern oder ein Sack Kartoffeln hamstern läßt. Sie haben, zusammengenommen, Jahre ihres Lebens in Schlangen angestanden und tragen stets einen Einkaufsbeutel ("Awoska") bei sich, für den Fall, daß es irgendwo was gibt.
Eine Großmutter weiß stets Rat, den sich die jungen Leute auch anhören, ohne ihn immer zu befolgen. Sie ist eine Autorität, wenn auch -- wie alle Autoritäten in der UdSSR von heute -- eine angefochtene, keineswegs mehr ungeprüft hingenommene Gewalt, die sich nicht mehr mit Prügeln durchsetzt, sondern durch wirtschaftliche Zwänge.
Im Bürgerkrieg standen die Babuschki den Opfern des Terrors bei -- ob weiß oder rot. Später versteckten sie das Getreide der Kulaken. Im Krieg und danach warfen manche Brot, von dem sie selbst nicht genug hatten, über den Stacheldraht kriegsgefangenen Deutschen zu -- im Gedanken an gefangene eigene Söhne.
Und heute, da niemand mehr hungert in Rußland und der Zorn der Großmütter nur noch den verwilderten Sitten, den kurzen Röcken und den langen Jungenhaaren gilt, bezichtigt sich oft eine Alte selbst der Mißachtung der Gesetze. wenn die Miliz eine Schwarzbrennerei ausgehoben hat: Greise gelten als nicht mehr sozialgefährlich.
Sie haben kein gutes Leben, die alten Frauen im russischen Reich: Die Söhne, die im Alter für sie hatten sorgen sollen, sind oft gefallen. Die Rente ist schmal -- meist 20 bis 40 Rubel (66 bis 132 Mark) im Monat. So müssen sie losziehen nach Holz und Kohl, wie sie ihr Leben lang gezogen sind, oder müssen noch für Stundenlohn von ein paar Kopeken saubermachen, Straßen kehren, Vieh versorgen. Jetzt im Winter fegen sie Schnee. Um Mitternacht putzen zwei alte Weiblein die ewige Flamme an der Kremlmauer in Moskau, junge Polizisten schauen zu.
Unter der jungen Generation. glaubensfern und materialistisch, wird viel gelacht über die Alten. Ein Witz hat angeblich bereits Parteichef Breschnew erreicht und erheitert: vom Mütterlein, das sich in einer Versammlung die Versprechungen vom schönen Leben im Kommunismus anhört -- jedem Mann eine neue Hose, jeder Frau ein Kleid. Da steht die Alte auf und ruft entzückt: »Genau wie beim Zaren!«
In selbstgestrickte Umschlagtücher und schwarze Gewänder gewickelt, mit Filzstiefeln angetan, stapfen sie durch eine Umwelt, die ihnen mißfällt, in Geschäften und Bussen werden sie herumgestoßen, vorm Überqueren der Fahrbahn schlagen sie das Kreuz. Sie schleichen sich in die wenigen Kirchen, stecken dem Priester Zettelehen mit den Namen derer zu, für die der Pope Fürbitte leisten möge. Sie gehen in die zu Museen umgewandelten Klöster, wischen mit einem Läppchen die Sarkophage der Heiligen ab und küssen sie.
Ganz Verwegene machen sich auf einen wochenlangen Weg per Bahn, Bus und zu Fuß, einmal im Leben, zum heiligen Sergij im Kloster Sagorsk. Von Barmherzigen erbitten sie sich am Tor Kopeken für die Heimfahrt oder für geweihtes Wasser, das sie in eine mitgebrachte Bierflasche füllen.
Doch diese Gestalten der Vergangenheit -- zwei Mäntel übereinander, ein Kochtopf voll Brei als Reiseproviant -- sind heute noch eine Macht in der UdSSR: Ohne ihre Hilfe müßte jede zweite Arbeitskraft Rußlands, die berufstätige Frau, zu Hause bleiben. Denn sie erziehen die Enkelkinder -- meist unter der Bedingung, die Kinder taufen zu lassen.
Weigern sich die Eltern, tun die Großmütter es oft heimlich. So wächst heute wohl jedes fünfte Sowjet-Kind -- jeder zweite Russe -- mit dem Segen der Kirche auf, umhegt von einer heimlichen Regierung, den Babuschki.