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Belgien Wie Boches

65 000 Deutsch-Belgier fühlen sich im politischen Niemandsland.
aus DER SPIEGEL 11/1972

Lieselotte Scheinkauf, 70, Lehrerin an der Mittelschule im belgischen Eupen, war in ihrem Leben zweimal Belgierin und zweimal Deutsche, verlor ihren Mann in deutscher Uniform an der Ostfront und verbrachte 18 Monate als Kollaborateurin in belgischen Gefängnissen. Heute unterrichtet sie wieder belgische Geschichte.

Hans Müller, 76, aus Eupen kämpfte von 1914 bis 1918 für den deutschen Kaiser. Sohn Peter leistete zwischen den Weltkriegen in belgischer Uniform seinen Wehrdienst und focht für Adolf Hitler an der Ostfront. Enkel Klaus ließ sich nach dem Krieg in der 3. Kompanie des 3. Bataillons der Chasseurs Ardennais, der einzigen deutschsprachigen Einheit der belgischen Armee, auf König Baudouin vereidigen.

Die Deutsch-Belgier -- heute 65 000 Menschen, ansässig im Gebiet Eupen-Malmedy -- haben es mithin verstanden, sich zu arrangieren. Dennoch klagt der christlich-soziale Gemeindesekretär der Ortschaft Elsenborn, Johann Weynand: »26 Jahre nach dem Krieg behandelt man die 65 000 deutschsprachigen Belgier immer noch wie Boches.«

Weynand hat Grund zur Entrüstung. Vor den Parlamentswahlen am 7. November 1971 hatte die christlich-soziale Parteiführung in Brüssel der deutschsprachigen Wählergemeinschaft von Eupen feierlich versprochen, Weynand als Senator in die Hauptstadt zu holen. Doch dann zog die Partei den Außenminister Pierre Harmel vor.

»Der Fall Weynand hat das Faß überfließen lassen«, beschrieb das Brüsseler Magazin »Special« die Stimmung im östlichen Grenzgebiet. Weynand gründete gemeinsam mit dem Eupener Bürgermeister Reiner Pankert und dem Ex-Senator Michel Louis die »Partei der deutschsprachigen Belgier« (PDB).

Keine der großen belgischen Parteien konnte den Deutsch-Belgiern das Gefühl vermitteln, daß sie vollwertige Angehörige des belgischen Staates seien. Die Bewohner des Grenzgebiets, fast um die Hälfte größer als das Gebiet des Stadtstaates Hamburg, fühlen sich im politischen Niemandsland. Dort saßen sie immer schon.

Nationales Selbstverständnis hatte die bäuerliche Bevölkerung nicht entwickeln können, als Eupen-Malmedy nach dem Wiener Kongreß Preußen zugeschlagen wurde. 1920 geriet das Land an Belgien, das die Eingliederung der ehemaligen Preußen behutsam betrieb und den Veteranen des großen Krieges sogar Pension zahlen ließ.

20 Jahre später flatterte über dem Grenzland das Hakenkreuz. Hitler verlegte die deutsch-belgische Grenze westlich von Eupen-Malmedy. Die Wehrmacht rief rund 9000 der Neu-Deutschen zum Kriegsdienst. 2000 kehrten nicht mehr zurück, über 1600 nur als Kriegsversehrte.

»Nach 1945«, erinnert sich Michel Louis, »begann die große Säuberung.« Die belgischen Behörden eröffneten 16 480 Verfahren gegen Kollaborateure. Louis: »Man ging mit einer gewissen Strenge vor.«

Zwar blieben rund 75 Prozent der angestrengten Verfahren ohne Prozeß, doch die Verdächtigten mußten materiell büßen: Beamte wurden ohne Pension entlassen, Wahlberechtigte aus den Wählerlisten gestrichen, Grundbesitzer für Kriegsschäden nicht entschädigt. Louis: »Noch heute »sind rund 4000 der Schadenersatzanträge unberücksichtigt.«

Trotz des »allgemeinen Unbehagens« (Louis) wollen die Gründer der Deutsch-Belgier-Partei nicht als Propagandisten einer neuen »Heim ins Reich«-Bewegung mißverstanden werden. Eupens Bürgermeister Pankert: »Um solchen Verdächtigungen zuvorzukommen, haben wir unbedingte Verfassungstreue in unsere Satzungen aufgenommen.«

Die Grenzländer verlangen von Brüssel aber eine gesetzlich garantierte parlamentarische und provinziale Vertretung. Sie wollen einen besonderen Wahlbezirk Ostbelgien und fordern mehr Kredite, um Industriebetriebe in das vornehmlich landwirtschaftliche Gebiet locken zu können.

Denn gegenwärtig müssen rund ein Viertel der Arbeiter jeden Morgen SO bis 100 Kilometer reisen: zur Arbeit in Deutschland und Luxemburg.

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