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ZWANGSARBEITER Wie die Fliegen

Nach vier Jahrzehnten hat die Deutsche Bank die Begleichung einer alten Flick-Schuld verfügt - nach Ansicht von Kritikern nur ein »Almosen«. *
aus DER SPIEGEL 3/1986

Kurz nach 15 Uhr am Mittwoch letzter Woche meldete die Deutsche Presse-Agentur, womit kaum jemand mehr gerechnet hatte. Aus »humanitären Gründen« und mit Zustimmung ihres neuen Besitzers, der Deutschen Bank, habe die ehemalige Flick-Firmengruppe Feldmühle Nobel AG fünf Millionen Mark an die jüdische »Claims Conference« gezahlt.

Das Geld sollen jüdische KZ-Häftlinge erhalten, die während des Zweiten Weltkrieges zur Zwangsarbeit in Munitionsfabriken der damaligen Dynamit AG verschleppt worden waren.

Die fünf Millionen Mark sind nach Ansicht von Heinz Galinski, Vorsitzender der West-Berliner Jüdischen Gemeinde, nicht mehr als ein »Almosen«. Die »Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten« bezeichnete die Gabe gar als »Schamlosigkeit«.

Daß die Deutsche Bank sich erst nach monatelangem Meinungsdruck zur Freigabe gerade eines Tausendstels vom Kaufpreis des Flick-Imperiums durchgerungen hat, kennzeichnet nicht nur die Unternehmenspolitik der größten westdeutschen Bank. Der Streit rief auch die Erinnerung wach an ein besonders düsteres, noch immer nicht abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte - und er förderte in den Reihen der Christen-Union einen Antisemitismus zutage, wie er sonst nur bei Neonazis als gewöhnlich gilt.

In einem Interview mit dem Kölner »Express« hatte der innenpolitische Sprecher der Bonner CSU-Landesgruppe, Hermann Fellner, 35, nicht nur erklärt, jüdische Forderungen nach Wiedergutmachungszahlungen für einstige Zwangsarbeiter hätten »weder eine rechtliche noch eine moralische Grundlage«. Fellner bediente zugleich tief verwurzelte antisemitische Klischees - das vom tückischen Juden ("Die Juden sollten uns durch solche Forderungen nicht in Verlegenheit bringen") und jenes vom raffgierigen Juden ("Es wird der Eindruck erweckt, daß die Juden sich schnell zu Wort melden, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert").

Fellner bezog sich auf einen Appell, den der Frankfurter Jurist Robert Kempner, einer der Ankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen, zum Jahresende an den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Friedrich Wilhelm Christians, gerichtet hatte. »Vor einem Ankauf der Flick-Betriebe«, so Kempner, möge die Bank den Konzern »vom Stigma der Nichtzahlung von Wiedergutmachungsbeträgen« befreien.

In diesem Sinn waren Anfang Dezember auch Vertreter der New Yorker Claims Conference, seit 34 Jahren zentrale Instanz der jüdischen Weltorganisation für deutsche Wiedergutmachungsangelegenheiten, bei der Bank vorstellig geworden - zunächst vergebens.

Einen Tag vor Heiligabend kommentierte die Bank die Ansprüche mit der Bemerkung, das Ganze sei nicht ihr Problem, »sondern ein Problem des Herrn Flick, wenn man überhaupt von einem Problem reden kann«. Die Deutsche Presse-Agentur schrieb dieses Zitat zunächst unwidersprochen Christians zu.

Erst am Dienstag vergangener Woche verbreitete die Deutsche Bank, die Äußerung stamme nicht vom Sprecher des Vorstands, sondern »von einem Sprecher der Pressestelle« - was sie freilich nicht weniger peinlich erscheinen ließ.

Offenbar aber hatten die Bank-Manager begriffen, daß die anhebende Diskussion den weltumspannenden Interessen des deutschen Geldes nicht eben förderlich wäre - und dies um so weniger, als die deutsche Bank bis Jahresende die von Flick erworbenen Unternehmen möglichst vorteilhaft verkaufen will.

Außerdem war, was die Verstrickungen der Deutschen Bank in die Hitlerei angeht, das öffentliche Gedächtnis gerade erst im letzten Jahr aufgefrischt worden: durch einen Sonderband der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen »Anderen Bibliothek«.

Darin ist nachgedruckt, zu welchen Ergebnissen Ermittlungen geführt haben, die 1946/47 die US-Militärregierung in Deutschland gegen die Deutsche Bank anstellen ließ. Die Vorwürfe - Bereicherung durch »Arisierung«, Rüstung und Sklavenarbeit - mündeten in die (freilich folgenlose) Empfehlung, die Bank zu liquidieren, ihre Verantwortlichen als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen und für alle Zukunft von leitenden Positionen in Politik und Wirtschaft auszuschließen (SPIEGEL 36/1985).

Während sich die Bank-Oberen mühten, aus den Schlagzeilen zu kommen, redete CSU-Mann Fellner Schlagzellen geradezu herbei. Zwar habe er, wie Fellner bald klarstellte, die moralische Berechtigung von Wiedergutmachung nicht in Frage stellen wollen, aber »nahezu unmoralisch« und »peinlich« erschien ihm nach wie vor der Zeitpunkt der Forderungen - eben wenn »der Rubel rollt«. _(Während des Zweiten Weltkriegs in einem ) _(deutschen Rüstungsbetrieb im besetzten ) _(Polen. )

Damit nun bot sich der bayrische Volksvertreter vollends als vortrefflicher Putzlumpen für die öffentliche Politur ganz unterschiedlicher Gewissen an. Otto Schily, noch für die Grünen im Bundestag, wertete das Weltbild seines CSU-Kollegen als »schamlos, demokratiefeindlich und antisemitisch«. Für die FDP steuerte deren Vize-Vorsitzender Gerhart Baum ein »Völlig abwegig« bei. Die SPD-Bundestagsfraktion warf Fellner »,Stürmer''-Niveau« vor. In Berlin, wo der CDU-Nachwuchs schon mal Nazi-Lieder grölt, empfahl der christdemokratische Bausenator Klaus Franke, Fellner »sollte sein Mandat zurückgeben«.

Vorsichtiger war da CDU-Chef Helmut Kohl, der sich am Donnerstag letzter Woche nur darauf festlegen ließ, die Fellner-Formulierung sei »nicht in Ordnung«. Stumm blieb bis dahin allein CSU-Vorsitzendler Franz Josef Strauß.

Solche Vorsicht mag damit zu erklären sein, daß die Debatte um Ansprüche ehemaliger jüdischer Zwangsarbeiter sich schon bald erneut zuspitzen dürfte: Schon werden ähnliche Forderungen gegen Großunternehmen wie BMW und Daimler-Benz erwartet. Im übrigen hat Fellner ziemlich genau - nur plumper - nachgebetet, womit deutsche Industrielle und nicht selten auch deutsche Richter die fast vierzigjährige Abwehrschlacht gegen Entschädigungsansprüche ehemaliger Arbeitssklaven bestritten haben.

Ohne jede »rechtliche oder moralische Verpflichtung« hatte sich bereits 1962 Siemens in einer Vereinbarung mit der Claims Conference bereit erklärt, maximal sieben Millionen Mark für seine ehemaligen jüdischen Häftlingsarbeiter auszuwerfen. Der Effekt war kläglich: Von den schließlich rund 2000 als anspruchsberechtigt Anerkannten erhielt keiner mehr als 3300 Mark - für oft jahrelange unbezahlte Schwerstarbeit, ruinierte Gesundheit und nicht selten den Verlust der gesamten Verwandtschaft.

Aus Angst vor schlechter Auslandspresse hatte sich zwei Jahre zuvor auch die exportorientierte AEG zur Zahlung von vier Millionen Mark bereit erklärt, ebenfalls ohne Anerkennung rechtlicher Verpflichtungen.

Schon 1959 hatte das Berliner Kammergericht dafür gesorgt, daß Verpflichtungen erst gar nicht entstehen konnten. Das Gericht beschied einen Kläger gegen Telefunken, die Firma sei lediglich eine Behörde des Reiches gewesen. Ansprüche aus Zwangsarbeit hätten daher als Reparationsforderungen zu gelten, die erst nach Abschluß eines Friedensvertrages entschieden werden könnten.

Diese windige Rechtsauffassung vertröstete die ehemaligen Zwangsarbeiter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag und sprach die deutschen Unternehmen pauschal frei von jeder Verantwortung für die ihnen von der SS zwecks »Vernichtung durch Arbeit« vermieteten Hilfskräfte. Dennoch schloß sich 1963 auch der Bundesgerichtshof der Auffassung des Kammergerichts an.

Die Rechtslage trug dazu bei, daß nur wenige Unternehmen Entschädigungen zahlten, obwohl sich Hunderte von Firmen, zum Preis von durchschnittlich vier Reichsmark pro Arbeitskraft und -tag, in den Lagern bedient hatten.

Wo Minimal-Entschädigungen flossen, insgesamt knapp 13 Millionen Dollar für rund 15000 Menschen, gingen sie, dank deren vergleichsweise starker Interessenvertretung, an jüdische Opfer. Andere einstige KZ-Insassen, etwa Zigeuner, sind bis heute leer ausgegangen.

Und kaum eine Mark wurde ohne Hintergedanken gezahlt: Die Nachfolger der einstigen IG Farben versprachen sich von Entschädigungszahlungen eine rücksichtsvollere Bewertung ihres überall versteckten Vermögens durch die Sieger; Krupp hoffte, alliierte Auflagen umgehen zu können; die Firma Rheinmetall wollte in den USA gerade eine Kanone verkaufen.

Friedrich Flick jedoch, den das Nürnberger Tribunal im Anklagepunkt »Sklavenarbeit« ausdrücklich schuldig gesprochen hatte, zahlte keinen Pfennig. »Der Fuchs schlich sich davon«, formulierte der New Yorker Anwalt und langjährige Verhandlungsteilnehmer Benjamin B. Ferencz in einer Beschreibung dieses Feilschens um den »Lohn des Grauens«. _(Benjamin B. Ferencz: »Lohn des Grauens. ) _(Die verweigerte Entschädigung für ) _(jüdische Zwangsarbeiter. Ein Kapitel ) _(deutscher Nachkriegsgeschichte«. Campus ) _(Verlag, Frankfurt am Main; 283 Seiten; ) _(20 Mark. )

Mehr als 40000 Zwangsarbeiter - KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und sogenannte Ostarbeiter - hatte der Flick-Konzern Ende 1944 beschäftigt, darunter in der Maximilianshütte den wegen »Judenbegünstigung« verhafteten heutigen Schriftsteller Bernt Engelmann, dessen Mithäftlinge die Strapazen zumeist nicht überlebten. »Wir mußten Erdarbeiten verrichten«, erinnert sich Engelmann, »es war Winter, wir hatten keine Winterkleidung und keine richtigen Schuhe, nur Holzpantinen. Die Leute wurden geprügelt und kippten um wie die Fliegen.«

In die Pflicht genommen werden sollte Flick Anfang der sechziger Jahre lediglich für die Ausbeutung ungarischer Jüdinnen. Diese Frauen waren über Auschwitz in die Sprengstoffabriken der Dynamit AG in Hessen verschleppt worden. Flick saß während der Nazizeit im Aufsichtsrat dieser Firma, die Rechtsnachfolgerin Dynamit Nobel AG erwarb er Ende der fünfziger Jahre.

Sieben Jahre lang hielten Flick-Juristen die jüdischen Organisationen mit immer neuen Versprechungen und Beweisbegehren hin. Endlich, im Januar 1970, machte sich auch hier der an allen Fronten brauchbare Eberhard von Brauchitsch bezahlt.

Kurz und bündig schrieb Brauchitsch dem ehemaligen US-Hochkommissar John McCloy, der sich für die jüdischen Forderungen verwendet hatte: »In Abweichung von Ihnen vermag Herr Dr. Flick nicht zu erkennen, daß im vorliegenden Zusammenhang humanitäre oder moralische Gründe die Dynamit Nobel AG oder das Haus Flick veranlassen könnten, an die Claims Conference irgendwelche Zahlungen zu leisten.«

Während Friedrich Flick damals längst als reichster Mann Deutschlands galt, waren die einstigen Zwangsarbeiter des Himmler-Freundes und NS-Wehrwirtschaftsführers, soweit sie überlebt hatten, in alle Welt verstreut und meistens

bettelarm - so etwa die jüdischen Frauen und Mädchen, die in Hessisch Lichtenau für die Dynamit AG Pikrinsäure kochen und TNT abfüllen mußten, bis die giftigen Chemikalien Gesicht und Körper gelbgrün verfärbten.

Rund 1500 dieser Frauen hatten die jüdischen Organisationen im Verlauf der Verhandlungen mit Flick immerhin ausfindig machen können. Ihre Akten lagern seitdem in den Kellern von Jad Waschem, dem israelischen Dokumentationszentrum zum Gedenken an den Holocaust. Nun, nachdem die neuen Anteilseigner »humanitäre Gründe« (Deutsche Bank) vor Recht haben ergehen lassen, werden die Ansprüche neu geprüft werden müssen.

»Aber wer«, fragt Gemeindevorsteher Galinski, »wird noch am Leben sein?«

Während des Zweiten Weltkriegs in einem deutschen Rüstungsbetrieb imbesetzten Polen.Benjamin B. Ferencz: »Lohn des Grauens. Die verweigerteEntschädigung für jüdische Zwangsarbeiter. Ein Kapitel deutscherNachkriegsgeschichte«. Campus Verlag, Frankfurt am Main; 283 Seiten;20 Mark.

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